Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Zweites Kapitel.

Mit Tagesanbruch war das ganze französische Heer wieder in Marsch. Rasinski hatte den Befehl erhalten, sich der Avantgarde unter dem Könige von Neapel anzuschließen. Auf einem Seitenwege, den Isaak angab, gewann er so viel Terrain, daß er an den langen Kolonnen Infanterie, die unter dem Marschall Davoust standen, vorbeikommen und ohne weitere Hindernisse an dem Punkt seiner Bestimmung eintreffen konnte. Hier fand man den Prinzen Murat schon von seinen Generalstabsoffizieren umgeben, wie er mit raschen Blicken das Terrain, welches vor ihm ausgebreitet war, musterte. Rasinski ritt zu ihm heran, um sich zu melden und dem Könige die Nachricht mitzuteilen, die er der Kundschaft Isaaks verdankte, zugleich aber auch die Befürchtungen, welche er hegte, daß der Spion sich einer doppelten Maske bedient, und vielleicht noch mehr dem Feinde als dem Heere des Kaisers genutzt habe.

»Wenn nur das richtig ist,« antwortete der Prinz, »welches der Jude Ihnen angegeben hat, so kann schnelles Handeln noch alles retten. Wir müssen das Korps des Generals Newerowskoi abschneiden, vernichten und Smolensk auf diese Art früher erreichen als er. Das Hauptheer des Feindes kann unmöglich aus seinen Standquartieren die Festung so rasch gewinnen, daß wir ihm nicht zuvorkommen sollten. Es ist der Augenblick, wo wir den Feldzug des ganzen Jahres entscheiden können. Doch Schnelligkeit ist jetzt unsere nächste Pflicht; wir wollen sie erfüllen.«

Diese Worte waren auch das Signal zum Aufbruch. Der Marsch der Hauptarmee ging am Dnjepr entlang, jedoch so, daß zwischen dem Fluß und der großen Straße noch ein bedeutender Raum blieb. Rasinski marschierte mit seinem Regimente zunächst dem Flusse; er sandte Patrouillen voraus, welche Jaromir, und auf die rechte Flanke, die ein jüngerer Offizier befehligte; zur Linken gewährte der Strom hinlängliche Deckung.

»Ein verdrießliches Geschäft,« sprach Rasinski im Reiten zu Ludwig, »so dem flüchtigen Feinde nachzuziehen und ihn nicht erreichen zu können. Hier müssen Kosaken dicht vor uns gewesen sein, denn die Spuren sind ganz frisch und rühren von unbeschlagenen Pferden mit kleinen Hufen her. Ihnen verdanken wir vermutlich, daß alle Stege und Brücken abgebrochen sind, und wir durch alle diese Regenwasser hindurchreiten müssen. Doch, was gibt's dort! Jaromir schickt uns eine Meldung.« Man sah einen Ulanen heransprengen, dem Rasinski entgegengaloppierte, um die Nachricht früher zu erhalten. Jaromir ließ sagen, daß er in dem Augenblicke, wo er den Gipfel eines Hügels hinaufgekommen sei, zwei Kosaken entdeckt habe, die aber in einen vorwärts gelegenen Busch verschwanden und aller Vermutung nach zu einem stärkern Trupp gehörten.

»Hätten wir sie endlich!« rief Rasinski mit freudefunkelnden Augen, und befahl im Trabe vorzurücken. Das Regiment rasselte die Anhöhe hinan, von der man vor sich ein weites, flaches Terrain überblickte, welches nur durch jenes kleine Gebüsch unterbrochen wurde. Dasselbe schien kaum einige hundert Schritte Tiefe zu haben, und war auch nicht viel breiter; doch verdeckte es die Aussicht. Die Patrouillen wurden herangezogen, und man rückte in geschlossenen Reihen rasch vorwärts. Dicht an dem Busche teilte Rasinski das Regiment und ließ eine Schwadron links, die andere rechts um das Gebüsch reiten, während er selbst mit den übrigen den geraden Weg durch die Mitte desselben verfolgte, jedoch etwas langsamer, damit man zu gleicher Zeit jenseit das Freie erreichte. Noch frisch dampfender Roßmist, den man im Wege fand, gewährte, nebst den vielen Spuren von Hufen ohne Eisen, die Gewißheit, daß erst einige Minuten zuvor ein starker Trupp Kosaken durch den Wald gekommen sein mußte. Jetzt öffnete sich derselbe, und man sah durch die lichter werdenden Bäume das freie Feld. »Wahrhaftig, da sind sie,« rief Rasinski und deutete mit dem Finger nach vorn, wo man viele Lanzenspitzen über ein Getreidefeld hervorragen sah; »nun, jetzt sollen sie uns nicht entwischen. Blast zum Angriff!«

Die Trompete ertönte. Wie die Windsbraut brachen die Streitmassen aus dem Walde hervor. »In Zügen rechts und links marschiert auf!« kommandierte Rasinski, als er das Freie erreicht hatte, und die tiefen Kolonnen verwandelten sich in eine breite Front. Die beiden Schwadronen, welche um den Busch herumgeritten waren, wurden auch wieder an dem Saume desselben sichtbar und schlossen sich, frühern Befehlen folgend, sogleich im gestreckten Galopp der Masse an. Das Getöse, welches ein auf diese Weise vorrückendes Kavallerieregiment erregt, mußte den Kosaken, die ruhig vorwärts ritten, weil sie den Feind nicht so nahe vermuteten, plötzlich dessen Gegenwart verraten. Ein Gefecht schien nicht in ihrer Absicht zu liegen; sie setzten ihre Pferde in Bewegung und ritten vollen Laufes vorwärts, bis sie in dem von Büschen und Hügeln durchschnittenen Terrain verschwanden.

Als der Staub, den die Flüchtenden verursacht hatten, sich gesenkt hatte, erblickte man eine kleine Stadt, die kaum noch eine Stunde entfernt sein mochte. »Das muß Krasnoi sein«, sprach Rasinski. »Wo ist der Jude Isaak, er soll uns Auskunft geben.« Isaak hatte bis dahin, mit gebundenen Händen auf einem Troßpferde sitzend, dem Regimente mit den Troßknechten und Dienern folgen müssen. Bei diesen suchte man ihn auch jetzt, doch vergeblich; es war ihm geglückt, in dem Getümmel des Verfolgens zu entwischen.

»So haben uns die Kosaken doch einen Schaden zugefügt,« sprach Rasinski verdrießlich; »dem Juden hätte ich den Galgen gern gegönnt.«

Indessen hatte sich doch ein Gefecht eines Teils der Infanterie und einiger leichten Kavallerie mit dem Korps des Generals Newerowskoi entsponnen, der nach tapferer Gegenwehr geworfen wurde. Mit der sinkenden Sonne rückte Rasinskis Regiment ins Lager ein. Eben hatte man sich's an einem großen Feuer behaglich gemacht, als unvermutet der Donner der Kanonen ertönte. Alles geriet in Bewegung, doch erfuhr man bald, daß es nur Freudenschüsse waren, die man hörte. Sie galten dem siegreichen Gefecht mit den Russen und dem Geburtstage des Kaisers. »Wahrlich!« rief Rasinski aus, »fast hätte ich's vergessen, daß wir heute den 15. August schreiben. Diese Ehrensalve ist etwas wert, denn sie wird mit russischem, heute erbeutetem Pulver gebracht. Laßt uns denn auch den Tag nicht vergessen, Freunde, sondern im fröhlichen Kreise auf das Wohl des Kaisers trinken.«

Die Einladung wurde mit Freuden angenommen. Ein großes Feuer loderte empor; ringsum lagerten sich die Offiziere des Regiments und Ludwig und Bernhard, die stets als zu ihm gehörig von Rasinski betrachtet wurden. »Unsere Trinkgeschirre sind freilich nicht die glänzendsten,« sprach Rasinski, als jedem das Glas, der Becher oder was er sonst zur Hand hatte, gefüllt war; »die Tafel ist auch nicht überreich besetzt, allein die Gäste, denke ich, sind so stattlich, als sie jemals in einem Prunksaale beisammengesessen haben. So heiße ich euch denn willkommen, meine Kameraden!« Plötzlich wurden seine Züge ernst; mit Hoheit trat er vor den Kreis der gelagerten Brüder, stützte sich mit der Linken auf den Säbel und hielt in der Rechten den gefüllten Becher empor. Dann begann er mit feierlicher Stimme: »Freunde! Seit langen Jahren betreten wir heute, geführt durch den großen Kaiser der Franzosen, zum ersten Male wieder das Gebiet des alten Rußland mit den Waffen in der Hand! Wir stehen auf dem Boden, wo unsere Väter vordem so manche ruhmreiche Schlacht mit dem verhaßten Nachbar fochten. Erinnert euch, Brüder, daß es eine Zeit gab, wo Polens Fahnen in Moskau auf dem Kreml wehten, wo unsere Woiwoden den Russen ihren Zar gaben. Der Zar Boris Godunow, der die alte Stadt Smolensk, welche dort hinter jenem Hügel von dem Dunkel der Nacht bedeckt wird, gründete, und die Mauer mit ihren Türmen erbaute, welche wir morgen vielleicht im Sturm ersteigen – jener Zar Boris Godunow verlor den Thron durch die Tapferkeit unserer Väter. Das waren Polens glänzende Tage! Aber sie kehren wieder! Wie ein Phönix aus der Asche wird der weiße Adler sich aus dem rauchenden Schutt erheben, unter dem unser Vaterland begraben liegt, seit Verrat und überfallende Gewalt den Feuerbrand in unsere Städte und Gefilde trugen. Denn in der Tiefe glühten die Brände fort; in der Brust jedes polnischen Sohnes lodert noch die mächtige Flamme des alten Heldenmutes, der alten Vaterlandsliebe. Der Tag der Vergeltung, der Sühne, der Gerechtigkeit ist da! Die Weltgeschichte hat den großen Mann geboren, der ihn herausführt. Seinen Bannern folgend, stürmen wir zum Siege über unsere Feinde! Auf denn, leert ihm diesen Becher. Es lebe der Kaiser, es lebe Polen, es lebe die Freiheit!«

Wie wenn der Sturmwind prasselnde Flammen aufjagt, drangen die begeisterten Worte Rasinskis in das Herz der von Vaterlandsliebe und Tatendurst glühenden Genossen ein. Zu Bildsäulen erstarrt hatten sie jedem Worte seiner Lippen gelauscht; nur das funkelnde Auge verriet das Leben in ihrer Brust. Jetzt sprangen sie auf. Unter Tränen und Jauchzen wiederholten sie den Ruf: » Es lebe der Kaiser, Polen, die Freiheit!« und stürzten den Wein hinab. Mit tausendfachem Echo brauste der Jubel weiter, denn der Kreis hatte sich durch die rings herandringende Masse der Krieger bis ins Unübersehbare vermehrt. Als Rasinski seinen Becher geleert hatte, warf er ihn hoch empor; dann breitete er die Arme aus und schloß den nächsten Kameraden an die Brust. Die Freunde umringten ihn, warfen sich ihm zu Füßen, ergriffen seine Hände, bedeckten sie mit Küssen und Tränen. Ein begeisternder Wahnsinn stürmte in der aufgeregten Brust; laut weinend hielten Jünglinge und Männer einander in den Armen. Tiefster Schmerz und namenloses Entzücken loderten zugleich mit hohen Flammen in der Seele auf; ringsumher in jedes Herz hätte der Blitz mächtig zündend eingeschlagen. Greise wurden zu Jünglingen, und über die rosige Wange Jaromirs wie in den grauen Bart des alten Petrowski rollten gleich helle Tränen. Lange dauerte es, bis die heftig überwallende Flut wieder in das ruhigere Bett zurückkehrte. Dann erfüllte ein milder, sanfter Ernst die Gemüter. Traulich blieb man an der Flamme gelagert und überließ sich dem süßen Gefühl herzlicher, brüderlicher Gemeinschaft. Nach und nach brannten die Flammen der Lagerfeuer düsterer; die ermüdete Natur sank nach der doppelten Anspannung in doppelte Ermattung. Ringsum löste der Schlaf die Glieder. Jaromir lehnte sich mit seinem blühenden Lockenhaupt an Bernhards Schulter, der ihn freudig ertrug und dann endlich müde mit ihm zurücksank auf den Rasen. Ludwig blieb noch lange wach. Alles war tief still umher; die Holzscheite brachen zusammen; die Flamme erstarb, der Nachthimmel wölbte sich dunkel über das Lager. Durch den in langsamen Wirbeln wolkig aufsteigenden, vom Widerschein geröteten Dampf schimmerten die Gestirne. Ein ernstes, düsteres Bild!

Und düster wurde es in Ludwigs Seele. Das hoffnungslos trauernde Vaterland, die fernen Geliebten, das teuere Bild eines unbekannten, ewig verschwundenen Wesens, von dem sein ganzes Herz sich noch immer erfüllte – das waren die schmerzlichen Gestalten, die sich ihm auf dem finstern Hintergrunde der Nacht abzeichneten. Eine tiefe, unaussprechliche Angst erfüllte ihm die Brust; es war ihm plötzlich, als könne er dem Schmerze nicht länger Widerstand leisten, müsse überwältigt erliegen. Mit aller Kraft innerlicher Fassung mußte er sich waffnen, um nicht weich zusammenzusinken unter der Last, die auf seinem Herzen lag. Sein Blick fiel auf Bernhard, der, vom matten Glanz des Feuers bestrahlt, neben ihm schlummerte. Als er in das treue, edle Angesicht blickte, wo die trotzige Kraft sich mit wohlwollender Milde innig paarte, wo die Liebe ihn aus so brüderlich herzlichen Zügen ansprach, da kehrte ihm der Trost in die verödete Brust zurück, und er dachte: Nein, der darf sich nicht ganz unglücklich nennen, der an der Seite eines solchen Freundes entschlummert! Und beruhigter senkte auch er sein Haupt nahe gegen die Brust des Freundes hinab, hüllte sich in den Mantel und entschlief.


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