Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Achtes Kapitel.

Endlich lag Smolensk, das vielverheißene, ersehnte Ziel der Mühen, vor den Blicken der Krieger und stieg mit seinen schwarzen Mauerzinnen und Türmen finster über dem Schneegefilde empor. Dort sollt ihr Obdach finden gegen die Winterstürme; dort wird der gierige Hunger, der in euern Eingeweiden nagt, gestillt werden; dort sollen die erstarrten Glieder Wärme, die überspannten, schmerzenden Muskeln Ruhe, die todesmatte, erschöpfte Kraft des Geistes Stärkung finden. Nicht die zehntausend wandernden Griechen sahen so freudig den Spiegel des heimischen Meeres vom Gebirge her glänzen, nicht Kolumbus' verzagende Mannschaft begrüßte die Küste des neuen Weltteils mit solchem Freudendank gegen den Allmächtigen, als die vom Grimm des Winters, des Hungers und der Todesermattung verfolgten Krieger die Mauerzinnen der Stadt erblickten, wo ihnen das Ende der Mühsal verheißen war. Ein Schimmer der Freude überflog die bleichen, hagern Gestalten, ein letzter Anflug des Mutes und der Kraft kehrte in die entkräfteten Körper zurück.

Schon war man auf eine Stunde Weges den Mauern dieser Feste nahegekommen, als man von beiden Seiten der Straße, anfangs einzeln, dann in größern Trupps, die verhungerten gespenstischen Gestalten derjenigen gewahrte, die ihre Waffen verloren oder weggeworfen hatten und, weil schon die Bande der Ordnung und des Gehorsams überall zerrissen waren, die Hoffnung hegten, sie würden einzeln, willkürliche Wege wählend, sicherer durch die Wüsteneien des Schnees und der Wälder dringen, als wenn sie bei der Masse blieben, für die niemals das ausreichte, was man auf einem Fleck versammeln konnte. So waren denn Tausende wie Räuberhorden dem Heere bald vor-, bald nachgezogen, bald hatten sie es zur Seite umschwärmt. Die Wut des Hungers in dem gierigen, von Entzündung glühenden Auge, schwarz von Rauch und Erde, in Lumpen gehüllt, warfen sich die Scharen gleich den Harpyien über alles her, was sie berührten. Keine vernünftige Stimme zügelte ihre bis zum Wahnsinn gesteigerte Begierde. Fanden sie irgendwo eine Speise, so fielen sie mit der Wut des Raubtiers darüber her und verschlangen sie mit so rasender Hast, daß die meisten, wie an genossenem Gift, gleich darauf unter wilden Qualen zuckend zu Boden stürzten und den Geist aufgaben. Doch kein Beispiel schreckte die später Herandringenden ab; wie von blindem Wahnsinn getrieben, stürzten sie sich in dasselbe Verderben, das ihre Kameraden vor ihren Blicken getötet hatte. Ja, selbst das Geheul und das Ächzen der noch zuckenden Sterbenden schreckte sie sowenig zurück, als es ihnen auch nur noch einen Blick des Mitleids abgewann. Das Elend hatte die menschliche Natur in diesen Unglückseligen zur entsetzlichsten Entartung geführt; jeder kannte nur sich selbst, nur den nächsten Augenblick; denn die Qualen der Gegenwart waren zu fürchterlich, und alles, was diese stillte, erschien als ein nicht zu fassendes Glück, wenngleich in der nächsten Minute das doppelte Elend dafür hereinbrach. Diese grauenhaften Gestalten erschienen plötzlich, zu dunkeln Schwärmen zusammengerottet, wie sie aus den nächsten Wäldern, durch die sie ihren Weg genommen hatten, zufällig früher oder später auf die Straße gerieten. Eine Viertelstunde vor der Stadt häuften sich die Andrängenden so, daß die noch geordneten Korps der Alten und der Jungen Garde sich nur mit Mühe die Straße zum Marsch freihielten. Jetzt zogen sich die Talränder, die die Ufer des Dnjepr bilden, näher zusammen und beschränkten die Straße. Von beiden Seiten zeigten sich diese entsetzlichen Rotten auf den Höhen. Sie versuchten auf den beschneiten, beeisten Abhängen hinunterzuklimmen, um die Straße zu erreichen, doch die schwache Kraft der Füße leistete ihnen den Dienst, wozu rüstige Gewandtheit gefordert wurde, nicht mehr. Sie stürzten übereinander hin, die Abhänge hinab, und röteten den Schnee mit dem Blut ihrer von den rauhen Eissplittern zerrissenen Hände und Wangen. Unter jammerndem Geheul rollten sie in die Tiefe, vermochten aber nicht mehr, sich von dem Sturz aufzurichten, sondern blieben betäubt am Wege liegen. Jetzt sah man die Tore der Stadt. Selbst unter dem in dem eisernen Gesetz des strengsten Gehorsams fest eingewachsenen Korps der Alten Garde ließ sich jetzt die Ordnung nicht mehr erhalten, sondern gleich hungerigen Tigern auf die Beute, wollten die einzelnen aus den Reihen hervorstürzen, um zuerst den Zufluchtsort zu erreichen; denn schon hatte ein Teil jener Horde Verhungernder, die ohne Führer und Ordnung durch die Wälder gedrungen waren, die Stadtmauern erreicht und drängte sich in schwarzem Gewimmel um dieselben her. Doch bei dem Anblick dieser hohläugigen Gestalten, in den seltsamsten Trachten, wie Not und Zufall sie erfinden, bei ihrem krampfhaft gierigen Andrängen, hatte man in der Stadt gefürchtet, und mit Recht, sie würden wie eine Schar hungeriger Wölfe über die Vorratsmagazine herfallen und überall plündernd und zerstörend einbrechen. Deshalb wurden ihnen die Tore des verheißenen Asyls geschlossen, und ohnmächtig wüteten und jammerten sie vor den unerbittlichen Mauern um Einlaß.

Schon mehrere Stunden hatten viele dieser Unglücklichen, von Frost erstarrt, von Hunger gefoltert, im Angesicht der Rettung vergeblich um Hilfe und Erbarmen gerufen. Die meisten waren in Verzweiflung und Erschöpfung niedergesunken und durch die immer grimmiger werdende Kälte schon getötet. Die geordneten heranrückenden Truppen vernahmen das gräßliche, wilde Geheul um Speise, welches sich mit herzzerschneidenden Lauten des Jammers mischte. Jetzt überkam auch sie die Angst, daß es ihnen ebenso ergehen möge, daß man hier Gewalt brauchen müsse und nur derjenige Labung finden werde, der zuerst raubend einbreche. Darum stürzten sie aus den Reihen hervor und suchten, soviel die erschöpften Kräfte ihnen gestatteten, einander vorauszueilen, um den Ort des Heils zu erstürmen, und was er darbieten konnte, mit gewaltsamer Hand zu erbeuten.

Der Marschall Bessières warf sich vergeblich denen, die den Gehorsam aufkündigten, entgegen, umsonst suchten die Offiziere sie mit Gewalt zurückzuhalten. Das Getümmel drohte schon sich fort durch die ganze lange Kolonne zu verpflanzen, als plötzlich der Kaiser in den vordersten Reihen erschien und mit einem Wink halt gebot. Die Ehrfurcht vor der geheiligten Person des Feldherrn, an dem in dieser Zeit der Drangsale das letzte Vertrauen hing, fesselte selbst die Verwegensten. »Soldaten, kehrt in euere Reihen zurück«, sprach er streng, aber ruhig, und fand augenblicklichen Gehorsam. Er selbst ritt jetzt an die Spitze der Truppen, und in düsterer Stille, aber streng geordnet rückten die Krieger in die Festung ein.

Rasinski mit den Seinigen folgte unmittelbar der Alten Garde. Nur die Hälfte war beritten, die übrigen gingen zu Fuß, da ihre Pferde vor die Kanonen gespannt waren. Bernhard und Ludwig waren zu Pferd. Als sie auf der Höhe des Talrandes waren, deutete Ludwig mit der Hand zur Linken über das Schneefeld und sprach zu Bernhard: »Erkennst du wohl das Schloß dort drüben?« – »Hm!« entgegnete Bernhard, »ich hätte geglaubt, es müsse völlig heruntergebrannt sein; aber es steht doch noch so ziemlich auf den Beinen.« – »Ich weiß nicht, weshalb ich auch noch jetzt dieses ehrwürdige Gebäude mit seinen seltsamen Türmen und Zinnen mit einem ganz besondern Gefühl betrachte«, antwortete Ludwig.

»Ich jetzt mehr als damals; aber das macht die Erinnerung. Weißt du, ich glaube, wir sind unkenntlicher geworden als das Schloß dort, obwohl die Flamme ihm wahrscheinlich alle Eingeweide ausgebrannt hat. Denn wenn ich dich so betrachte, mit dem langen Bart und den schwarzen Rauchfurchen im Gesicht, so kann ich mir wohl denken, wie ich selbst aussehe. Es wäre der Mühe wert, unser Porträt zu malen, damit wir doch dereinst in Deutschland oder Frankreich den Leuten zeigen könnten, welche Gesichter die siegreiche Armee geschnitten hat, als sie zum zweitenmal nach Smolensk kam.« – »Seid getrost, Freunde,« sprach Rasinski zurückgewandt, »eine Zeit der Ruhe liegt vor uns. Sie wird uns auch Gelegenheit bieten, uns wieder ein menschliches Ansehen zu geben.«

Sie ritten jetzt durch das Tor der obern Stadt ein; denn die östliche Hälfte liegt auf der Anhöhe, die westliche jenseit des Dnjepr in der Tiefe. Als sie die nächste Gasse hinabkamen, blickten sie einander betroffen an. »Nun wahrlich!« sprach Bernhard leise zu Ludwig, »Smolensk sieht nicht aus, als sollte es unser Kapua werden.« – »Wenn die ganze Stadt so zerstört und wüst ist,« antwortete Ludwig ebenso leise, »so wird sie uns nicht mehr Lebensmittel darbieten als die große Straße, die wir gekommen sind.« – »Ich sehe noch nicht, wie wir ein Lot Reis hier kochen wollen,« flüsterte Bernhard; »bemerkst du wohl, daß alle Fensterkreuze ausgebrochen sind? Wo hier noch Holz in der Mauer saß, scheint man schon Ernte gehalten zu haben.«

»Und doch, glaube ich, täten wir wohl, einige dieser einsturzdrohenden Gebäude inzeiten zu besetzen,« erwiderte Ludwig ebenso leise; »denn wenn jene Massen Unglücklicher von draußen erst hereindringen, so bleibt kein Stein auf dem andern.« – »Das denke ich auch,« entgegnete Rasinski, der mit seinem leisen, stets aufmerksamen Ohr alles vernommen hatte, »und ich sinne auch schon darauf, schnell das Recht des Erstbesitzes geltend zu machen. Nur hoffe ich, die Unterstadt wird besser erhalten sein; denn hier stürzt uns vielleicht in der Nacht das ganze Quartier über dem Kopf zusammen.« – »Die frischen Pferdegerippe dort auf der Seite,« sprach Bernhard und deutete mit dem Finger in eine engere Seitengasse hinein, »zeigen auch nichts Gutes an; sie sehen mir gerade so aus, als ob das Fleisch erst vor einer halben Stunde heruntergeschält wäre. Ich möchte meinen armen Klepper, so mager er ist, hier nicht eine Viertelstunde anbinden; denn schwerlich fände ich etwas anderes von ihm wieder als die Knochen. Auf einen sonderlichen Braten dürfen wir daher hier auch nicht rechnen.«

»Nun, Lebensmittel sind hier,« entgegnete Rasinski, »oder die Befehle des Kaisers müßten aufs unverantwortlichste vernachlässigt worden sein. Ihr habt doch noch vorgestern gesehen, daß ein Transport herauskam, den der Kaiser billigerweise denen zusandte, die sich für uns schlagen und außer der Beschwerde, des Marsches noch die Gefahr des Kampfes tragen müssen.« Ein Adjutant unterbrach das Gespräch, indem er den Befehl brachte, rechtsab zu reiten, wo die Quartiere für die Kavallerie angewiesen seien.

Rasinski nahm daher mit der kleinen Schar, die er noch um sich hatte, seinen Weg durch eine gewundene, halbeingestürzte Gasse und erreichte so einen freien Raum, wo einige große, steinerne Gebäude, die vermutlich zu Warenmagazinen gedient hatten, in den untern Geschossen Ställe für die Pferde, in den obern Quartier für die Leute darboten. Doch auch diese Häuser waren oft ganz verwüstet. Nur in den obern Stockwerken sah man noch hier und da ein Fensterkreuz; die Türen waren sämtlich ausgehoben, ja an einigen Stellen der gedielte Boden aufgerissen. Indessen gewährten die halbzertrümmerten Gebäude doch ein trockenes Obdach, und falls man nur Holz, Lebensmittel, Stroh und Futter für die Pferde herbeischaffen konnte, so schien der Aufenthalt darin doch, gegen die bisherigen Beschwerden gehalten, eine Zeit der Schwelgerei zu versprechen; denn in den meisten Zimmern fanden sich große steinerne Öfen, durch die man, selbst bei den nicht zu schließenden Fenstern, doch noch Wärme genug in den Räumen verbreiten konnte, um darin auszudauern.

In wenigen Minuten waren die Quartiere bewohnt, die Pferde in die Ställe gezogen. Rasinskis regelmäßige, unermüdete Sorge hatte es bewirkt, daß er bis auf einige wenige, die der Anstrengung unterlagen, seit dem Tage von Dogorobuye die Seinigen beisammengehalten hatte. Da er nicht duldete, daß irgendeiner, er selbst aber am wenigsten, einen Vorzug genieße, waren auch die kümmerlichen Lebensmittel so verwaltet worden, daß niemand ganz leer ausging. Jetzt war es sein erstes, Boleslaw zum Empfang von Lebensmitteln für die Leute und Jaromir zu dem von Furage, jeden mit angemessener Mannschaft, abzusenden. Boleslaw nahm zwölf Mann und ging nach dem ihm bezeichneten Magazin. Hier fand er ein unbeschreibliches Getümmel. Es war nicht sobald bekannt geworden, daß in dem Gebäude Lebensmittel aufgestapelt seien, als die hungernden Soldaten und Nachzügler sich, wie ein Schwarm von Raben über einen Leichnam herfällt, um die Türen lagerten, und mit ihrem Jammer und Heulen die Lüfte erfüllten. Einigen gelang es, trotz der davor gestellten Wachen, eine Tür aufzubrechen und nun mit blinder Gier über die Lebensmittel herzustürzen und sie roh zu verschlingen. Man sah, sie fanden nur ihren Tod, und was Hunderte vom Verderben retten konnte, wurde frevelhaft vergeudet, um die rasende Begierde einiger wenigen zu stillen. Deshalb war es notwendig, so grausam die Maßregel erscheinen konnte, der gesetzlosen Gewalt eine gesetzliche entgegenzustellen. Die Aufseher der Magazine mußten regelmäßige Truppen herbeirufen, die mit dem Bajonett und dem Säbel auf ihre eigenen Kameraden eindrangen und sie zurücktrieben. Da dies aber nicht sogleich gelang, weil jedem der Hungertod entsetzlicher schien als der plötzliche durch die Waffen, wurde Feuer in den dichtesten Haufen gegeben. Jetzt stob er auseinander; doch er ließ den Boden mit blutenden Leichen bedeckt.

Durch ein solches schauderhaftes Gewühl mußte sich Boleslaw Bahn machen; er tat es mit Ernst, aber zugleich mit tiefschmerzlichem Gefühl. Doch selbst der Berechtigten waren so viele, daß mehrere Stunden im Kampf und Gedränge verstrichen, ehe er die Lebensmittel, die ihm zukamen, empfangen konnte. Seine Leute gehorchten ihm noch und trugen das Empfangene, ohne es zu berühren, zu ihren Kameraden, um es mit ihnen zu teilen. Allein dies war nicht leicht. Mann an Mann geschlossen, mit den gezogenen Pistolen in der Hand, mußte Boleslaw sie durch die tobende, fluchende, heulende und jammernde Menge führen und sich gegen dieselbe wie gegen eine Räuberbande verteidigen. Nur mühsam gelang es ihm, endlich bis in das Quartier des Regiments zu dringen. Jaromir war glücklicher gewesen als er, denn bei dem Empfange der Furage hatte nicht ein solches Gedränge stattgefunden.

Als Boleslaw Rasinski seinen Bericht abstattete, schüttelte dieser das Haupt und sprach: »Das sind bedenkliche Zeichen! Wir werden hier nicht lange bleiben können, denn unser Bestreben muß es sein, so rasch wie möglich die Grenzen Rußlands zu erreichen. Bei einer so gänzlichen Auflösung alles Gehorsams würde ein entschiedener Angriff uns vernichten. Ich sandte Bernhard und Ludwig zum Empfang von Munition; dort hatten sich nur von wenigen Regimentern Leute eingefunden. Wenn der Soldat schon nicht mehr daran denkt, sich verteidigen zu wollen, was soll daraus werden? Ja selbst zum Empfang der Löhnung hatte sich nicht ein Dritteil eingestellt, obgleich alle Regimenter benachrichtigt waren!«

»Laß nur diesen einen Tag der gänzlichen Erschöpfung und Verzweiflung vorüber sein,« antwortete Boleslaw, »so wird sich Ordnung und Gehorsam schon wiederfinden. Noch haben die Schrecken des Marsches, des Hungers, der Kälte die Leute ganz betäubt. Mußten wir selbst doch alle Kräfte zusammenraffen, um nicht den Mut völlig sinken zu lassen; und wie viel besser ist es uns noch ergangen als den übrigen! Durch deine Fürsorge sind die meisten unserer Leute warm gekleidet; sie haben wenigstens gute Stiefel und Mäntel. Auch ist immer noch etwas Speise für sie dagewesen. Aber betrachte die andern! Zerlumpt, mit zerrissenen Schuhen mußten sie die furchtbaren Nächte im Freien zubringen, die Tage hindurch sich durch den Schnee arbeiten. Wenn die Qualen so hoch steigen, daß in den Strafen des Ungehorsams kein Schrecken mehr liegt, dann läßt sich die Ordnung nicht mehr erhalten.«

»Aber das Verderben liegt darin,« sprach Rasinski stark betonend; »das Verderben des Ganzen und der einzelnen! Das sehen die Rasenden nicht ein. Gefahr und Not würden sich für alle um die Hälfte vermindern, wenn sich keiner eigennützig derselben zu entziehen suchte. Von Zwanzigen, von Hunderten gelingt es einem; die andern gehen desto schneller und sicherer zugrunde.«

»Laß ihnen nur zwei Tage Zeit, sich zu erholen, so werden sie der vernünftigen Vorstellung zugänglich sein und zum Gehorsam zurückkehren.«

»Aber ist es denn noch Zeit? Haben sie nicht schon ihre Waffen weggeworfen? Fallen sie nicht schon den übrigen nur als Ballast beschwerlich, ohne noch etwas zur Rettung beizutragen? Der Kaiser muß außer sich sein über einen solchen Anblick.«

Jaromir, Bernhard und Ludwig traten ein. Sie kamen von den Ställen herauf, wo alle Pferde wohl besorgt waren. »Es ist die erste ordentliche Fütterung, die unsere Pferde erhalten, seit wir Moskau verließen«, sprach Jaromir. »Das heißt, unter einer ordentlichen Fütterung verstehe ich halb Spreu, halb Hafer und kaum eine Drittelsration. Doch sieht man, wie es den Tieren behagt und bekommt!«

»Um des Himmels willen gebt ihnen nicht volles Maß. Kaum morgen oder übermorgen würden sie es vertragen«, erinnerte Rasinski. – »Sei unbesorgt,« sprach Jaromir, »ich habe selbst überall das Auge gehabt.« – »Wohl«, antwortete Rasinski. »Doch nun laßt uns auch an uns denken. Es ist die erste Mahlzeit seit langer Zeit, die wir unter Obdach, sitzend und in trauter Gemeinschaft zu uns nehmen werden.«

Alle noch übrigen Offiziere hatte Rasinski zu sich in das leidlich bewohnbare Zimmer geladen. Es war das erstemal, daß er einen kleinen Vorzug vor den Seinigen hatte, den sie ihm mit Gewalt aufdrangen. Er glaubte ihn diesmal annehmen zu dürfen, weil es den Leuten gleichfalls nach Verhältnis und Umständen wohl erging. Deshalb verstattete er sich auch mit den Freunden den Genuß einer Flasche Weins; der Kaiser hatte aus seinem eigenen Vorrate jedem der Regimentskommandeure zwei Flaschen zustellen lassen. »Die andere,« sprach Rasinski, »laßt uns auf dringendere Zeiten bewahren.« Nach der Mahlzeit schloß die Übermüdung allen bald das Auge, und sie genossen der köstlichen Labung des Schlafes, ohne durch den Schmerz der vor Kälte erstarrenden, oder durch die zu große Nähe der Flamme fast verbrennenden Glieder jeden Augenblick aus der dumpfen Betäubung geweckt zu werden, die sie in den Biwaks statt eines leichten, erquickenden Schlummers umfing.


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