Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Drittes Kapitel.

Feodorowna war spät entschlummert; sie erwachte daher erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Da sie ihrem Mädchen klingelte, trat diese ängstlich mit Tränen in den Augen ein. »Was hast du, Jeannette?« fragte sie erstaunt.

»Ach, gnädigste Gräfin, wie schrecklich wird man in diesem Lande gemißhandelt! Der unglückliche Mensch wird diese Strafe nicht überleben!«

»Wer?« fragte Feodorowna erstaunt; »was ist geschehen? Wer wird mißhandelt?« Unter Zittern und Schluchzen stotterte Jeannette die Worte heraus: »Der Graf ist gar zu aufgebracht! O Himmel, wenn es mir einmal so ergehen sollte! Das junge Blut – und vierzig Knutenhiebe! Er stürzte ja schon leichenblaß zu Boden, als der Graf den Befehl gab.«

Feodorowna war mehr tot als lebendig. »Wer? wer?« rief sie außer sich und trat erblassend zurück, als Jeannette den Namen des Gärtners Paul nannte. Das Mädchen sprang der Gebieterin, die in Ohnmacht zu sinken drohte, zu Hilfe. Doch nur wenige Augenblicke dauerte Feodorownas halbe Betäubung; dann ermannte sie sich mit gewaltsamer Anstrengung und rief: »Gib sogleich Befehl, die Leute sollen einhalten, ich verantworte es! Eile, eile hinab, ehe es zu spät wird.« Jeannette flog wie ein Reh durch den Vorsaal, die Stufen hinunter, in den Hof, wo drei Knechte eben beschäftigt waren, den Unglücklichen an den Marterpfahl zu binden. Indes kleidete sich Feodorowna in der höchsten Eile an, warf einen Schal über und eilte mit schwankenden Schritten, denn sie ahnte die Veranlassung dieses Unfalls nur zu richtig, zu dem Vater hinüber. Sie fand ihn in der heftigsten Aufregung in seinem Zimmer auf und nieder gehend. Er empfing die Eintretende mit finstern Blicken und den rauhen Worten: »Was willst du?«

»Gnade für einen Unglücklichen, mein Vater! O, nehmen Sie Ihr rasches Wort zurück; es war nicht Ihr menschliches Herz, welches dieses grausenvolle Urteil aussprach.«

»Kennst du sein Verbrechen?« rief der Graf und rollte zornig die Augen. »Alle diese Fremden sind Heuchler und Verräter; die Stunde ist gekommen, wo die Rache sie ereilt. Sie trotzen darauf, daß unser Gesetz sie nicht trifft; sie sollen wenigstens erfahren, daß unsere Macht sie strafen kann, und daß diejenigen, welche keinem Gesetz gehorchen wollen, auch von keinem beschützt werden. Ließe ich einen solchen Frevel an der geheiligten Person des Herrn unbestraft, ich wäre wert, daß meine Vasallen mich verachteten. Die Hand gegen seinen Gebieter aufzuheben! Es fehlte nur, daß eine Tochter, die den kindlichen Gehorsam verleugnet, sich noch verbrecherischer und aufrührerischer Knechte annähme!«

Feodorowna, so sehr sie durch diese rauhe Entgegnung zurückgeschreckt war, verlor doch den Mut nicht, sondern nahte sich dem Vater noch einmal mit rührender Bitte: »Ich kenne das Vergehen des Unglücklichen nicht, ich weiß nur, daß seine Strafe grausenvoll, daß sie entsetzlich ist. Haben die sanftern Sitten fremder Länder Sie nicht entwöhnt, mein Vater, von dem blutig strengen Gesetze das über den Bewohnern dieses Landes waltet? Ich hatte es ohnehin heute im Sinne, Ihr Herz zu einer milden Handlung der Gnade für diesen Unglücklichen zu bewegen. Sein Los knüpft sich an das–«

»Ich glaube, du bist im Einverständnis mit meinen zuchtlosen Dienern«, rief der Graf entrüstet. »Also kennst du schon früher als ich die Verbrechen, welche hier verübt wurden? Wer hat es gewagt, meine Tochter zur Vertrauten von Verbrechen zu machen, die das jungfräuliche Ohr nicht nennen hören sollte?«

Feodorowna errötete vor Unwillen und Beschämung zugleich; sie wollte im Gefühl ihrer Würde erwidern, doch bezwang sie die Aufwallung und sprach mit sanftem Tone: »Meine Jugendgespielin, teuerster Vater, die unglückliche Axinia, vertraute mir unter Tränen der Angst und Verzweiflung gestern am späten Abend ihr Vergehen. War es nicht natürlich, daß sie ihr Herz einer schwesterlich empfindenden Brust öffnete? Nein, mein Vater, so werden Sie Ihre Tochter nicht verkennen, daß Sie einen kränkenden Verdacht auf sie werfen sollten!« Feodorowna blickte den Vater bei diesen Worten so schmerzlich mit ihren feucht glänzenden blauen Augen an, daß selbst seine zürnende Strenge sich einer mildern Regung nicht erwehren konnte. Ernst nahm er das Wort: »Ich hätte dem Unbesonnenen, der, ein Fremder, die Ehre einer Tochter Rußlands so gering schätzte, daß er sie mit Füßen trat, vielleicht vergeben, wenn er in Demut und zur rechten Zeit sein Verbrechen gestanden hätte. Warum ließ er mich gestern mein Wort geben? Habe ich es jemals meinem geringsten Vasallen gebrochen? Darf ich es jemals, ohne vor mir selbst zu erröten? Der Bursche aber, im feigen Bewußtsein seiner Schuld, wagte nicht den Mund zu öffnen, wagte nicht, was er doch konnte, mir schriftlich schon nach Petersburg sein Vergehen zu melden! Und heute in aller Frühe kommt er zu mir wie ein Rasender, begehrt ungestüm, was er in tiefster Demut erflehen sollte, und da ich es ihm streng verweigerte, stürzt er wütend auf mich ein und bedroht mein Leben mit jenem Messer dort!« Dolgorow deutete hier auf den Tisch, wo ein Gartenmesser lag. – »O, vergeben Sie dem Wahnsinn eines Verzweifelnden,« bat Feodorowna, »und krönen Sie das Werk Ihrer Gnade durch eine noch schönere Handlung menschlichen Mitgefühls!« – »Genug,« entgegnete der Graf streng, »das Geschehene habe seinen Lauf! In der Tat, eine liebevolle Tochter, die den Mörder ihres Vaters belohnt wissen will!«

»O, allmächtiger Gott der Gnade!« rief Feodorowna aus und rang verzweiflungsvoll die Hände; »so soll denn das gräßlich Unmenschliche geschehen, und mein Flehen kann den Unglücklichen nicht retten! Vater! Vater! Es gibt einen Gott im Himmel; er wird euch richten, wir ihr gerichtet habt! Auf welche Gnade habt ihr zu hoffen, wenn euer Herz sich dem Mitleid ehern verschließt? O, Land des Entsetzens, wo die Willkür ohne Schranken gebietet! Vater, hören Sie die Bitte Ihrer Tochter, üben Sie das göttliche Recht der Gnade!« Feodorowna stand bleich und zitternd mit stehend emporgehobenen Armen vor dem Vater und war im Begriff, zu seinen Füßen niederzusinken, als der angstvolle Ruf einer weiblichen Stimme draußen erschallte, und gleich darauf Axinia mit fliegendem Haar hereinstürzte. »Laßt mich, laßt mich! Ich muß!« So rief sie wild, entrang sich den Dienern, welche sie zurückhalten wollten, und warf sich außer sich vor Dolgorow nieder, indem sie mit beiden Armen seine Knie umklammerte. »Gnade! Gnade!« wimmerte sie. Ihre Stimme erstickte in atemloser Angst; heftig preßte sie das Antlitz gegen die Füße des Gebieters, der sie, im Gefühle seines Unrechts, aber zu stolz, um der Stimme der Menschlichkeit Gehör zu geben, nur desto ergrimmter anblickte. »Laß mich, schamlose Dirne!« rief er. »Danke es meiner Gnade, daß ich deine Schande durch eine ehrenvolle Ehe verbergen will!« Axinia ließ die Arme ermattend los und richtete ihr bleiches, verzweifelndes Angesicht empor; jetzt erst gewahrte sie Feodorowna. »O, bittet, bittet für mich«, sprach sie matt und versuchte, sich auf den Knien zu ihr hinzuschleifen, sank aber kraftlos mit dem Antlitz gegen den Boden.

Feodorowna kämpfte mit einem furchtbaren Entschluß; ihr Busen flog, sie zitterte heftig. Endlich schwankte sie mit bebenden Schritten auf den Vater zu: »Vater!« rief sie, »Gnade, Gnade! – Ich will, ich muß – o, auf dieser Folterbank wird mir das Ja erpreßt! – Nun wohl denn, es sei! Es gilt die Rettung zweier unschuldiger Opfer! Ich kann sie nicht bluten lassen – ich darf es nicht. Gnade für sie – und ich bin Ochalskois Gattin!« Mehr vermochte sie in dieser gewaltsamen Anstrengung ihrer Kräfte nicht; ein Marmorbild, sank sie bewußtlos in Dolgorows Arme. Dieser ließ sie auf einen Sessel niedergleiten und zog dann die Schelle: »Geht in den Hof hinunter und laßt den Gärtner Paul losbinden, seine Strafe ist vorläufig aufgeschoben«, rief er dem Diener zu. »Ruft auch das Kammermädchen der Gräfin, ihr ist unwohl geworden!«

Feodorowna saß bleich, mit zurückgelehntem Haupt in dem Sessel; die weißen Arme waren matt herabgesunken, der tiefblaue Himmel ihres Auges durch das geschlossene Augenlid bedeckt. Axinia lag noch immer betäubt am Boden. Einen Tiger hätte dieser Anblick des zerreißendsten Jammers, dieses rührende Bild der aufopfernden Duldung gerührt. An der kalten, durch das Verderben der Lieblosigkeit, welches in den höhern Ständen herrscht, von Jugend auf verhärteten und vergifteten Brust Dolgorows gleitete der Pfeil ab, als ob ein eherner Harnisch sie bedeckte. Es wird vorübergehen, dachte er kalt; denn der Schmerz Feodorownas erschien ihm nur wie die Torheit einer Schwärmerin und Axinias Jammer berührte ihn gar nicht, da sie zu einer Gattung Wesen gehörte, die er von Jugend auf nur als Dinge betrachtet hatte. Er war nur voller Freude, daß dieses zufällige Ereignis die Hindernisse aus dem Wege räumte, welche sich noch gestern seinen Plänen unbesiegbar entgegenzustellen schienen. Schnell eilte er daher zu Ochalskoi hinüber, um diesen von dem Vorgefallenen zu unterrichten, und überließ es der eintretenden Jeannette, für ihre Gebieterin zu sorgen. Diese schlug bald das Auge wieder auf und war nun der Dienerin behilflich, Axinien ins Leben zurückzurufen. Als auch sie endlich aus ihrer Betäubung erwachte, blickte sie irr umher und schien mit den Augen einen Gegenstand zu suchen, den sie nicht zu nennen vermochte. Anfangs traf der tröstende Zuspruch Feodorownas nur ein taubes Ohr, sie wußte nicht, was der leere Schall der Worte bedeutete, die sie vernahm. Endlich faßte sie es, als Feodorowna zu ihr sprach: »Beruhige dich, Axinia, der schreckliche Traum ist vorüber; du wirst glücklich sein!« Da sank die Gequälte, wie im Rausche des Entzückens, mit heißen Freudentränen an die Brust der Wohltäterin, die ihr beide Arme öffnete und sie liebend an das Herz drückte: »Du wirst glücklich sein, Axinia«, rief sie noch einmal mit unaussprechlichem Schmerz. Aber du weißt nicht, um welchen Preis! tönte es heimlich in ihrer Brust nach. Lange hielten sich beide umfaßt; die mächtigen, betäubenden Wellen der Schmerzen und der Wonne, auf denen ihr Herz gehoben wurde, hatten jeden Damm, der sonst das Bett ihres Lebens schied, überflutet, und wie gerettete Schiffbrüchige umarmten sie sich an dem Strande, wohin die Lebenswelle sie geworfen hatte, kaum wissend, ob in Jammer oder Seligkeit. Endlich verließen Feodorowna die Kräfte, und sie bat: »O, leitet mich auf mein Zimmer! Ich bin sehr erschöpft!« Gütiger Himmel, dachte sie, habe ich denn nicht auf der Folterbank gelegen, bis die Qual mir mein eigenes Todesurteil auspreßte? Aber sie schwieg, und kein Laut verriet das unermeßliche Opfer, welches sie der Menschlichkeit gebracht hatte. Langsam geleiteten Jeannette und Axinia sie auf ihr Gemach; hier fand sie Einsamkeit und Ruhe, um einen klarern Blick auf die Lösung der verworrenen Fäden ihres Geschicks zu werfen.


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