Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Zweites Kapitel.

Axinia brachte die geliebte Gebieterin, der sie einst ihre Rettung verdankte und der sie jetzt vergelten konnte, sogleich auf ein Lager. Was das kleine Haus vermochte, schaffte sie zur Pflege herbei. Nach wenigen Minuten schon öffnete Bianka das Auge wieder und blickte, mit vollem Bewußtsein, selig umher. »O mein Bruder, o mein Geliebter!« redete sie Bernhard und Ludwig an, die an ihrem Lager saßen, und reichte ihnen die Hand dar. »Ist es denn wahr? Sind wir gerettet? Hat dieser unsägliche Jammer ein Ende erreicht?«

»Ja, es ist so! Wir zählen uns zu den wenigen von den vielen Tausenden, die dem entsetzlichen Geschick entkamen!«

»Und welche Hand ist die erste, die mir Rettung beut! – Ach, Ludwig, ich opferte einst viel für dieses freundliche Wesen! Ich opferte ihr meine Liebe zu dir! Freilich wohnte sie damals nur als tiefstes Geheimnis, fast mir selbst unerklärt, in meiner Brust und glänzte unerreichbar fern wie ein schönes Gestirn in der Nacht meines Schicksals; aber sie war auch der einzige Strahl der Hoffnung, der mir lächelte, sie war das einzige Glück meiner einsamen Träume! Doch wie unaussprechlich reich lohnt die gütige Hand des Allmächtigen und wie wunderbar führt sie die Pfade unsers Geschicks! Nun ist es Axinia, die uns aus dem tiefsten Verderben rettet.« Diese war indessen eingetreten und näherte sich mit dem Ausdruck des höchsten Glücks in den Zügen. Bianka fragte sie jetzt nach ihren Schicksalen, nach der Ursache, die sie in Rußland zurückgehalten habe, aus dem sie für immer entfliehen wollte. Mit einem leichten Erröten erwiderte die junge Frau, daß ein zu frühes Kindbett sie überrascht und auf ein langes Krankenlager geworfen habe. Dies zehrte die kleine Reisebarschaft fast auf, und da sich indessen die Gelegenheit für Paul bot, weil er französisch, deutsch und russisch sprach, einen vorteilhaften Dienst als Aufseher in einem Lazarett zu erhalten, nahm er diesen um so freudiger an, als bei den Kriegszeiten seine Aussichten auf Versorgung in Deutschland doch nur sehr unsicher waren und Axinia sich unterdessen völlig von ihrer Krankheit erholen konnte. Dies war nun auch jetzt noch ihr Verhältnis.

Indem das freundliche junge Weib ihre kleinen Schicksale berichtete, entstand auf der Straße ein seltsames Geräusch und Getümmel. Es versammelten sich Leute in verschiedenen Gruppen, andere liefen eiligst die Gassen aufwärts nach der Mitte der Stadt zu, in allen Häusern öffnete man die Fenster und blickte neugierig heraus. Axinia tat dasselbe. »Heilige Mutter Gottes, was gibt es denn?« rief sie erschreckt aus. »Ach da kommt Paul, er wird uns Nachricht bringen.« Sie eilte hinaus, ihrem Manne entgegen, der, als er durch sie die Kunde von dem, was in seiner Wohnung geschehen war, erhalten hatte, voller Freude eintrat. »Gnädigste Gräfin!« rief er, »darf ich meinen Augen trauen? Und Sie wären mit jener Schar Unglückseliger gekommen, die heulend und wild in die Gassen einbricht? Unmöglich!« – »Wir kommen mit dem Heere,« entgegnete Bianka, »es ist nur zu wahr!« – »Mit dem Heere?« fragte Paul erstaunt. »Also das ist das Heer? Nimmermehr! Es ist unmöglich!«

Jetzt erst entdeckte sich's, daß die Bewohner Wilnas, so geheim hatte der Kaiser sein Unglück zu halten gewußt, noch keine Ahnung von den furchtbaren Geschicken hatten, durch die die Macht des Weltbeherrschers zertrümmert worden war. Starr vor Staunen und Schrecken vernahmen Axinia und ihr Gatte diese Kunde, vernahmen die Schilderung des unermeßlichsten Elends, das jemals über ein Heer gekommen war. Axinia erblaßte und bebte, als sie hörte, daß ihre Gebieterin diese Drangsale und Gefahren geteilt habe. Zitternd warf sie sich vor einem kleinen Muttergottesbilde auf die Knie und brachte unter strömenden Tränen der Heiligen den Dank für die Rettung Feodorownens dar. Nun verdoppelten sich Sorge, Pflege und Liebe auch gegen die ihr noch fremden Begleiter ihrer Gebieterin. Ach, es tat ihrem dankbaren Herzen so wohl, daß sie wenigstens zeigen konnte, wie gern sie die heilige Schuld abtrug, zu der Biankas edle Großmut sie ewig verpflichtet hatte.

Der Lärmen auf der Gasse wurde größer; man sah einzelne jener Unglücklichen, die, Obdach und Erquickung suchend, bis in diese entfernten Gassen eilten. Die ersten wurden aufgenommen; doch als sich mehrere, als sich ganze Trupps zeigten, sperrten die erschreckten Bewohner ihre Häuser. Die Zurückgewiesenen, die im Angesichte der Rettung verderben sollten, da ihre ausgehungerten, ermatteten Körper der furchtbaren Kälte nicht länger widerstehen konnten, erhoben ein gräßliches Geheul und Wutgebrüll. Sie rüttelten die Haustüren, sie drohten Feuer anzulegen.

Paul war unschlüssig, was er tun sollte; sein menschliches Gefühl trieb ihn an, die Unglücklichen aufzunehmen, die Vorsicht gebot, sie zurückzuweisen. Bianka rief entschlossen: »Nehmet auf, was euer Haus vermag! Wir haben das Elend mitgetragen, wir wissen, daß das Erbarmen unerläßlich ist.« Paul wollte hinunter, um den Worten der Gräfin zu gehorchen; doch es war nicht mehr nötig. Nur ein kleiner Trupp hatte sich bis hierher verirrt und Aufnahme gefunden; die andern waren schon auf dem Wege zurück in die Stadt, um dort ihr Heil zu versuchen. Er eilte wieder hinauf zu seinen Gästen und erstattete ihnen Bericht.

Bernhard fragte: »Aber wie ist es möglich, daß jetzt erst diese Leute in die Stadt dringen, daß niemand für sie sorgt, niemand ihre Aufnahme bereitet? Wir würden schon eine halbe Stunde früher hier gewesen sein, hätten wir nicht, um dem Gedränge zu entgehen, den Umweg bis an dieses Tor gemacht.« – »Das ist's ja eben, was das Unheil verursacht«, erwiderte Paul. »Die Masse hat sich in der engen Vorstadt so zusammengedrängt, daß niemand rück- noch vorwärts kann. Das Tor ist verstopft durch Wagen, Pferde und Menschen; nur einzeln ringen sie sich hinein. Aber wer hätte geglaubt, daß dies das Heer sei! Wir hielten es für eine Schar von Marodeurs, die, wie beim Rückzug immer, sich vor dem geordneten Heere hinwälzen und von diesem gedrängt werden. Daher ist auch sogleich in den Magazinen Befehl gegeben, ihnen nichts auszuliefern, und in kein Lazarett dürfen wir sie aufnehmen.« –»Heiliger Gott!« rief Ludwig, »so verderben diese Unglücklichen durch die eigene rasende Fürsorge der Ihrigen! Eilt, eilt! wackerer Freund, eilt in die Stadt zurück, erzählt, daß es das ganze Heer ist, welches in diesem Zustande einrückt, stellt ihnen vor, daß eine Stunde Verzug Tausenden das Leben kosten muß, und werdet so ein gesegneter Retter zahlloser Unglücklichen!« Paul eilte hinweg.

Jetzt fingen die Geretteten an, ernste Besorgnisse um Rasinski und Jaromir zu hegen. Bisher hatten sie geglaubt, sie hätten fast am spätesten ein Obdach gefunden; nun aber zeigte sich's, daß sie zu den Glücklichsten gehörten. Bianka sprach ihre Besorgnisse aus; doch milderte sie dieselben, denn sie fürchtete, Ludwigs und Bernhards Edelmut würde sie bestimmen, trotz ihrer Erschöpfung sich den weichen Armen der rettenden Pflege zu entreißen,,um den Versuch zu machen, Rasinski aufzufinden. Sie hatte sich nicht geirrt, denn wie auf Verabredung sprachen beide plötzlich: »Wir müssen ihn aufsuchen!«

Jetzt überkam Bianka die Angst um ihre Teuersten. »Ist es aber notweudig, könnt ihr ihm Hilfe oder Rettung bringen?« fragte sie. »Oft scheint uns das eine Pflicht, was am schwersten zu üben ist. Wo sollt ihr ihn auffinden in der unbekannten Stadt, in dem Drängen und Treiben der obdachsuchenden Krieger? Wißt ihr mehr von ihm als er von euch? Gebt ihr euch nicht aufs neue preis, wenn ihr in das Getümmel geratet, wenn–––– ach, ihr überlaßt mich der furchtbarsten Folter der Angst!«

»Ich habe mir alle diese Einwürfe selbst gemacht, Geliebte,« erwiderte Ludwig mit sanftem Ernst; »aber die Stimme meiner Brust widerlegt sie alle. Vor wenigen Minuten hielt ich's für vernünftig, wenn wir uns erst kräftigten und dann gegenseitig nacheinander forschten, denn ich wähnte, diese Stadt sei für alle der Strand der Rettung. Da aber auch sie, wie alles in diesem fürchterlichen Kriege, zur Klippe des Verderbens wird, so tritt die Notwendigkeit ein, gleich zu handeln. Auch fühle ich mich durch Wärme und Speise schon wieder stärker. Wie, wenn er, wie die andern, zurückgewiesen in den Straßen irrte und nur unser Säumen sein Verderben verschuldete? Nein, Teuerste, wir müssen hinaus, ihn zu suchen.« Bernhard hatte indessen schon seine Pelzmütze wieder aufgesetzt; Axinia versorgte beide mit Pelzstiefeln und andern wärmenden Kleidungsstücken und gab ihnen Rum und Brot mit, um sich oder andere, die es bedurften, zu laben. Sie gingen und versprachen in einer Stunde zurückzukehren.

Die Stadt bot ein schreckenvolles Schauspiel dar; vor den Magazinen, vor den Krankenhäusern waren die bejammernswerten Flüchtlinge versammelt und umlagerten die Türen, die ihnen die Strenge des Befehls verschlossen hielt. Geheul, Flüche und Gebete schallten durcheinander; die Bewohner bargen sich in ihren sichern Häusern und schlossen sich furchtsam ein. Denn freilich glichen die Ankommenden, von Rauch und Erde geschwärzt, mit dem hohlen Blick der Angst und des Hungers, einer Schar grausenvoller Harpyien, die sich mit ekler Gier auf Speise, Trank und alles, was ein wohnlich behagliches Leben verriet, zu stürzen drohte. Wo man ihnen mitleidig eine Pforte geöffnet hatte, da mußte man es schnell bereuen, denn es gab kein Maß mehr, sie drangen ein wie durchbrechende Wasserfluten und, nur von dem Stachel der Pein getrieben, hatten sie auch jedes Gefühl des Dankes, der Schonung verloren. Wie der Fluch überall waltete, wohin dieses Heer seinen Fuß setzte, so auch hier; die Rettung war da, das Ziel des Jammers erreicht, aber mit grausamem Hohn lauerte das Schicksal gerade hier am tückischsten auf. Es riß den Unglückseligen den Becher der Erquickung von den Lippen, eben da sie ihn berührten, und ließ sie in furchtbarer Folter verschmachten.

Vergeblich irrten Ludwig und Bernhard durch dieses Getümmel hin, wo keiner sich mehr um den andern bekümmerte, sondern jeder nur mit blinder Wut die Rettung ertrotzen wollte; vergeblich riefen sie Rasinskis und Jaromirs Namen laut durch die Gassen – sie entdeckten keine Spur von ihnen. So sollten denn auch sie diese schneidende Verhöhnung des Geschicks erfahren, den edelsten Freund, der ihr Schutz und Retter in tausend Gefahren des stürmischen Meeres gewesen, am sichern Ufer zu verlieren, wo sie freudig dankbar in seine Arme sinken wollten! Hoffnungslos wandten sie endlich die Schritte wieder zurück nach ihrer Wohnung, denn auch die eigene Kraft verließ sie. Durch lange Gassen voll erstarrter Leichen, die an den Häusern lagen, an deren Pforten sie vergeblich geklopft, mußten sie den Heimweg suchen. Noch immer wuchs der Ingrimm des Winters; wer, sich wenige Sekunden willenlos hingab, lag erwürgt von seiner versteinernden Umstrickung.

So waren die Gassen, die noch kurz zuvor von Jammer und Wutgeschrei hallten, bald zu öden Kirchhöfen geworden, wo keine Spur des Lebens mehr sich regte und der Tritt schauerlich widerhallte. Mit unnennbarem Schmerz und Grauen in der Brust näherten sich die Freunde dem Hause Axiniens. Keiner sprach, keiner gestand dem andern, was er fürchtete, keiner wagte eine Frage. Schon waren sie der Schwelle ganz nahe, als sie einen mit Postpferden wohlbespannten Schlitten in das Tor fahren sahen. Voll Erstaunen über diese Erscheinung, die sie seit Monaten nicht gehabt und die ihnen vollends jetzt in dieser Stadt des Entsetzens auffiel, richteten sie ihre Blicke dahin.

Plötzlich rief Bernhard aus: »Allmächtiger Himmel! Ich werde wahnsinnig oder sehe Geister! Es ist Marie!« Er packte Ludwig mit krampfhafter Wildheit am Arm und deutete vorgebeugt, heftig zitternd hinüber nach einer weiblichen Gestalt, die mit eben zurückgeschlagenem Schleier aus dem geöffneten Schlittenfenster blickte. Kaum wurde Ludwig ihrer ansichtig, als auch er das geliebte Antlitz erkannte und mit dem Ruf: »Schwester, Schwester!« ihr mit wankenden Schritten entgegenzueilen versuchte. Doch es war unmöglich, die Kräfte verließen ihn; auch Bernhard stand wie an den Boden gefesselt und schlang die Arme um den Freund, kaum wissend, ob er sich oder ihn aufrechterhalten wolle. »Schwester!« – »Marie!« tönte ihr Ruf noch einmal, und jetzt erst hörte sie ihn. Sie stieß einen lauten Schrei des Schreckens und der Freude aus, die Tür des Schlittens flog auf, und, noch ehe die Pferde standen, sprang sie hinab, sank in die Knie, raffte sich wieder auf und stürzte betäubt und atemlos den offenen Armen des Bruders entgegen.

Sprachlos hingen die Geschwister aneinander und konnten sich nicht fassen in ihrer Liebe, in ihrem Glück. Vor Bernhards Auge wurde es dunkel, ein trüber Tränenschleier verhüllte es; er wandte sich ab und weinte, bezwungen von tiefster Wehmut. Heftig riß er sich endlich auf und sprach: »Ich habe ja auch eine Schwester und kann in ihren Armen glücklich sein!« Er wollte sich rasch umwenden und Hineineilen. Da trat Marie vor ihn wie ein holdes Engelbild und sprach sanft anredend seinen Namen. Er blickte auf; in ihren Augen standen selige Tränen, ein verklärender Schmerz veredelte ihre Züge, die Lippe flüsterte nur leise, weil die Wallungen der Brust ihr die Stimme raubten: »Bernhard, lieber Freund!« – Er ergriff ihre dargebotene Hand; – die Minute war übermächtig, wie mit unsichtbarer Gewalt drängte es ihn, das süße Wesen in seine Arme zu ziehen, es zu umfassen und unauflöslich am Herzen zu halten. Doch ein Blick auf ihr jungfräuliches Antlitz, in dem heiliges Vertrauen und zarte Scheu zugleich wohnten, ließ ihn vor seinem Ungestüm zurückbeben, und er bezwang sich mit männlicher Kraft. Sanft drückte er die Lippe auf ihre Hand und sprach dann: »Marie! auch ich habe eine Schwester gefunden. O, ich bin jetzt ganz umgewandelt!«

Sie wollte seine Worte erwidern, als er sich selbst durch den erstaunten Ausruf: »Wie? die Gräfin!« unterbrach und alle Schrecken und Schmerzen zugleich empfand, welche ihre Erscheinung in diesem Augenblicke erwecken mußte. Die Gräfin hatte bei Mariens Ruf und ihrem Enteilen sogleich anhalten lassen, und folgte ihr mit Lodoiska. Diese letztere war vom freudig überraschenden Schreck so ergriffen, daß sie sich nur zitternd, mühsam von ihrer mütterlichen Freundin geführt, zu nähern vermochte. »O Freunde!« sprach die Gräfin bewegt, doch mit Fassung, und reichte beiden die Hand zur Begrüßung dar. »Sagen Sie mir schnell,« fuhr sie fort, »was wissen Sie von meinem Bruder, und Jaromir –«

»Sie wanderten mit uns hier ein,« unterbrach Bernhard die Fragende schnell, damit sie nicht auch Boleslaws Namen nennen solle; »doch im Gedränge verloren wir einander. Aber folgen Sie uns; wir haben hier ein Obdach für Sie. Die Stadt ist überfüllt mit Soldaten; Sie möchten schwerlich ein Unterkommen finden!«

Die Gräfin nahm Bernhards Anerbieten sogleich an, doch warf sie einen unruhigen Blick auf ihn und Ludwig, deren Züge keine Freude ausdrückten. Lodoiskas Auge hing angstvoll an Bernhards Lippen, während er sprach; eine Ahnung der Wahrheit schien sie zu durchbeben, denn sie wurde bleich wie der Schnee, auf dem sie stand, als sie den Namen des Geliebten hörte. Bernhard führte die Gräfin ins Haus, dessen Tür Axinia, die die Kommenden aus dem Fenster bemerkt hatte, bereits öffnete. Ludwig folgte, die Schwester am Arme, an deren Seite Lodoiska mit wankenden Schritten ging. Voll Erstaunen erblickte Axinia die fremden Damen und sah Bernhard fragend an, als wolle sie sagen: woher kommen diese und wohin soll ich sie beherbergen? »Schläft die Fürstin?« fragte er. – »Sie ist so erschöpft, daß sie in tiefer Betäubung liegt,« erwiderte Axinia; »doch kann ich das, nicht Schlaf nennen, denn sie fährt oft verstört empor und ruft die Namen Jaromir, Rasinski.« Bernhard erschrak, denn diese Antwort enthüllte fast alles. »Was bedeutet das?« rief die Gräfin; »ich beschwöre Sie, verhehlen Sie mir die Wahrheit nicht über meinen Bruder und Jaromir. Auf ihren Tod ist unsere Seele längst gefaßt und wird das Unvermeidliche ertragen. Diese Spannung der Angst sprengt meine Brust, wie soll Lodoiska sie ertragen?«

Glücklicherweise war diese noch so weit zurückgeblieben, daß sie das Gespräch nicht vernommen hatte. Bernhard erwiderte leise: »Ich kann Ihnen die Angst nicht ersparen, doch ist meine Hoffnung größer als meine Furcht.«

Axinia führte die Ankommenden in ein anderes Zimmer als das, in welchem Bianka in ihrem Halbschlummer lag. Mit welcher Mischung der Freude, des Glücks, der Angst, des Erstaunens vernahmen die Frauen dort den flüchtigen Überblick der Schicksale und Gefahren, welche die Männer in diesem furchtbarsten aller Kriege überstanden hatten! Die Lippe zauderte, von Boleslaws Tod zu sprechen, doch endlich nahm Ludwig das Wort: »Einen unserer nächsten Freunde hat das grausame Schicksal doch unsern Armen entrissen. Boleslaw fiel; er starb einen Heldentod,–er starb schön!«

Marie weinte sanft in den Armen ihres Bruders und barg ihr mildes Angesicht an seiner Brust. Bernhard saß finster, das Haupt auf seine Hand gestützt und starrte auf den Boden. Lodoiska hörte die Nachricht mit bebender Brust und bleichen Lippen; nur kalte Tränen rollten über ihre Wangen. Waren es Ahnungen, die sie erfüllten, oder war es der Schmerz um den edeln Jüngling, der sie stumm und treu geliebt und dem sie wenigstens ein befreundetes Wohlwollen gewidmet hatte – wer mag es entscheiden? Die Gräfin war aufgestanden und ging, wie sie bei großen Erschütterungen pflegte, heftig bewegt durch das Gemach. »O, ihr seid glücklich,« sprach sie schauernd, »denen die Last des Schmerzes noch in erleichternden Tränen von der Brust hinwegschmilzt. Ich kann nicht weinen; mein Herz ist erstarrt unter der ehernen Hand des Geschickes, die es zermalmend faßt. Ich weine nicht, und ich will nicht weinen. Wahrheit, Gewißheit ist die einzige Gnade, die ich noch von dem Allmächtigen zu erbitten weiß. Sagtet ihr mir alles über Rasinski und Jaromir?«

Ludwig zögerte zu antworten, denn von Jaromirs Wahnsinn hatten sie geschwiegen; doch Bernhard war entschiedener »Alles,« sprach er schnell, »was sich in die wenigen Striche zusammendrängen ließ, mit denen wir das Gemälde der ungeheuersten Weltereignisse und der wunderbarsten eigenen Schicksale zu zeichnen versuchten.« Die Gräfin stand wie das Marmorbild einer Minerva, unbeweglich, groß emporgerichtet. Ihr dunkles Auge blickte in die trostlose Zukunft hinaus, edler Gram schwebte um ihre Lippe, erhabener Ernst auf ihrer Stirn; lange stand sie schweigend und erstarrt. Da hauchte endlich die Liebe ein sanftes Lächeln über das edle Angesicht gleich einem Sonnenblick, der über die öde, nebelverhüllte Herbstlandschaft streift. »Ich habe ja noch eine Tochter!« rief sie und breitete die Arme gegen die bleiche, zitternde Lodoiska aus, die sich zusammenbrechend an ihre Brust warf. So hielten sie, sich stumm umschlungen, und nur die beklemmten Atemzüge ihrer angst- und schwerbelasteten Brust waren hörbar in diesen Minuten heilig düsterer Grabesstille.


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