Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Vierter Teil.

Zwölftes Buch.

Erstes Kapitel.

Der Tag graute noch nicht, als Rasinski an der Spitze der Getreuen, die von seinem Regimente noch übrig waren, und inmitten des ganzen Zuges, den das abmarschierende Neysche Korps bildete, die Ringmauern von Smolensk verließ. Der Himmel war düster bezogen, kein Stern drang durch seine finstern Schleier; nur der matte Schimmer der Schneedecke, welche sich über die Gefilde breitete, warf einiges Licht in das tiefe Dunkel. Rings alles stumm und öde; das Rasseln der wenigen Kanonen, die noch fortzuschaffen waren, und das Klirren der Waffen unterbrachen allein die beklommene Stille; denn der Soldat selbst ließ keinen Laut vernehmen, sondern schritt stumm und düsterer Gedanken voll durch die Schneewüste hin.

Nach einer Stunde hatte der Zug dieser Krieger, welche die letzten Scharen bildeten, die aus dem unwirtbaren Rußland auszogen, einen dichten Fichtenwald erreicht. Plötzlich ließ sich von hintenher ein dumpfes Krachen vernehmen und zugleich flammte ein Lichtschein gegen die Spitzen der alten Bäume. Alles horchte gespannt auf, denn im ersten Augenblicke glaubte man den Donner feindlicher Kanonen zu hören. »Es ist nichts,« sprach Rasinski zu Jaromir, der neben ihm ritt; »die Türme und Mauern der Festung werden aufgesprengt. Es ist das alte Recht des Kriegs, dem Feinde wenigstens nicht zu gönnen, was man selbst nicht besitzen kann.«

Das schauerlich dumpfe Getöse dauerte eine Zeitlang fort. Der Tag fing jetzt an zu grauen. Der Zug der Krieger, der Wagen wurde allmählich sichtbar.

»Behalte die Leute unter deiner Obhut, Jaromir,« sprach Rasinski; »ich will mich überzeugen, wie es unsern Verwundeten und Kranken ergeht.« Mit diesen Worten ritt er die Reihen entlang, bis zu den Wagen, auf denen man die Verwundeten, die noch Hoffnung zum Leben und zur Herstellung gaben, fortschaffte. Die übrigen hatte man der Menschlichkeit des Feindes überlassen müssen.

Boleslaw, der von einem nicht gefährlichen Schusse in der Seite verletzt war, befand sich nebst einigen Kameraden des Regiments auf einem Wagen, den Rasinskis unermüdliche Fürsorge ihm verschafft hatte. »Nun, wie steht es, Freunde?« redete Rasinski die Seinigen an und reichte Boleslaw die Hand hinüber. – »So gut es kann«, antwortete der Jüngling, der mit bleichem Augesichte, tief in den Mantel gehüllt, den Kopf gegen die Kälte durch ein schwarzes Tuch verbunden, auf dem Wagen saß. »Hast du aber gar nichts ausgekundschaftet?«

»Es war alles vergeblich,« erwiderte Rasinski düster; »das unersättliche Ungeheuer dieses Kriegs, das so viele Tapfere und Edle verschlungen hat, verlangte auch diese Beute! Wären sie von den Unsern gewesen, ich wollte nicht klagen! Sie sind der schönen Sache ihres Vaterlandes gefallen, würde ich tröstend zu mir sagen; der Kampf war ihre Aufgabe, sie mußten Blut und Leben daransetzen, wie wir andern auch. Diesem fällt das dunkle Los des Todes, jenem das heitere des Lebens – wir sind auf beides gefaßt, wissen, was unser wartet, und dürfen nicht klagen. Aber unsere Freunde! Nicht ihr Herz führte sie hierher! Der Krieg, der über jedes andere Haupt ein schneidendes Schwert schwingt, sollte über das ihre einen Schild gegen feindlich geschärfte Pfeile und Gift breiten. Ich bot ihnen dieses gefährliche Obdach; doch diese alles verschlingende Charybdis des Elends und des Entsetzens hat nun auch sie in ihre Strudel hinabgerissen! Es muß überstanden werden, Boleslaw; dazu sind wir Männer. Ich fühle es, das eherne Rad des Schicksals geht zermalmend über unsere Brust; doch unser brechender Blick soll kein verzagtes Herz verraten!«

»Wer weiß,« erwiderte Boleslaw schwermütig, »wie bald wir wieder mit ihnen vereinigt sind!« – »Ich hoffe nichts mehr!« entgegnete Rasinski, der ihn mißverstand. – »Hier trennt der Tod die Kameraden nicht lange voneinander, meine ich«, sprach der Jüngling, das Haupt langsam schüttelnd, indem er aus den großen schwarzen Augen einen Blick zuerst auf die Jammergestalten rings um ihn her und dann in die Weite hinauswarf, als wolle er die hinsterbenden Kräfte dieser Leidenden mit den unbegrenzten Räumen vergleichen, die sie zu durchmessen hatten, bevor sie die wirtbaren Stätten der Heimat wiedersähen.

»So verstehst du's? Dann hast du freilich recht,« antwortete Rasinski; »bist du so ermattet von deiner Wunde, daß diese dich an den Tod gemahnt?« – »Nein,« erwiderte Boleslaw; »ich fühle mich besser. Vielleicht kann ich in wenigen Tagen schon wieder zu Pferd sein. Eine kürzere Strecke könnte ich schon heute gehen oder reiten.« – »Nun, so gehab dich wohl«, rief Rasinski rasch und fast rauh, weil er weich zu werden fürchtete. »Ich werde euch nicht aus den Augen lassen, Kinder«, setzte er, gegen die übrigen gewandt, hinzu. Hierauf spornte er sein Pferd und ritt zu Jaromir zurück.

Boleslaw, der in seinem ernsten, verschlossenen Gemüt alles tiefer empfand, als er zu äußern pflegte, war auch durch den Verlust Bernhards und Ludwigs im Innersten bewegt worden. Und fast war es unmöglich, etwas anderes als ihren Tod zu vermuten; denn da sie erfahren haben mußten, daß Rasinski plötzlich befehligt worden war, mit seinem Regimente zurück zum Neyschen Korps zu gehen, hätten sie sich ihm gewiß anzuschließen gesucht, oder ihn wenigstens in Smolensk erwartet. Es waren noch viele in der Stadt, die ihnen hätten Auskunft geben können, unter andern Oberst Regnard, der mit dem Vizekönig von Italien die Festung erst verließ, als Rasinski schon mit den Seinigen wieder eingerückt war. Allein an keinen hatten sie sich gewandt, niemand hatte eine Spur von ihnen entdeckt. Wären sie aber vorwärtsgegangen, hätten sie eine Gelegenheit gehabt, auf leichtern Wegen die Heimat zu erreichen, so würden sie unfehlbar Sorge getragen haben, Regnard und durch ihn Rasinski zu benachrichtigen. Die Wahrheit ihres Geschicks war freilich niemand bekannt geworden; und so wurden sie der unermeßlichen Zahl derer beigesellt, welche sich täglich aus den Reihen ihrer Kameraden verloren.

Rasinski trug den Verlust, der ihn fast zerschmetterte, mit jener männlichen Kraft, wodurch er sich über die härtesten Schläge des Geschicks erhob; Jaromir beneidete in seiner inneren Zerrüttung die, welche von der Last des Lebens befreit waren; Boleslaw empfand den tiefsten Schmerz brüderlicher Freundschaft, aber er war es schon gewohnt, an verborgenen Wunden zu verbluten; sein stilles Antlitz verriet wenig.

So saß er denn auch jetzt düster sinnend und ließ seine Blicke über den Zug schweifen, der sich im grauen Morgennebel vor ihm verlor; die Wagenreihe mit Verwundeten bildete den Schluß desselben. Ein kaum bemerkbar ansteigender Feldrücken durchschnitt die Straße; aber er war auf seinem Abhange mit Glatteis bedeckt, so daß die matten Pferde trotz der Flüche und Peitschenhiebe ihrer Führer die unbedeutende Anhöhe nicht hinaufzuklimmen vermochten. So stopften sich die Wagen und Kanonen, und während Reiter und Fußvolk vorüberzogen, blieben sie zurück. Indessen gelang es nach und nach allen, das Hindernis zu überwinden, welches jedem spätern, da das Eis sich splitterte und somit an Glätte verlor, leichter wurde. Schon waren die letzten Wagen, zu denen auch der Boleslaws gehörte, fast an der Reihe, als einer derselben, der mit Gepäck und Frauen zu sehr belastet war, trotz aller Anstrengung der Rosse und des Führers das Hindernis nicht zu überwinden vermochte. Die hinter ihm Wartenden fluchten und tobten und drangen darauf, das Fuhrwerk, welches alle andern aufhalte, zurückzulassen. Man würde daneben hingefahren sein, allein schon hatte man die mindest steilen Punkte des Weges aufgesucht, und somit würde jeder Versuch, die Höhe an einer andern Stelle hinaufzufahren, ungleich schwieriger gewesen sein. So mühten und quälten sich denn zwei elende Pferde vergeblich, den glatten Abhang hinanzuklimmen; menschliche Hand konnte auch nicht helfen, da nur kraftlose Kranke und Verwundete sich auf dem Wagen befanden und selbst die Führer zu diesen gehörten. Endlich stürzten beide Rosse auf der halben Höhe des Hügels erschöpft zusammen, und da sie den Wagen nicht mehr halten konnten, rollte dieser zurück und schleifte die Pferde mit hinab. Ein Schrei der Angst und des Schreckens ertönte sowohl von denen, die sich auf dem Wagen befanden, als von denen, auf die er hinabzurollen drohte. Doch waren nur die erstern in Gefahr, denn er gleitete seitwärts, kam mit einem Rade in ein tiefes Gleis, stieß mit dem andern gegen einen Eisblock und schlug krachend um.

Schon hatte die eigene Not und das Bedürfnis der Rettung das menschliche Gefühl so abgestumpft, daß die übrigen mehr Freude darüber, das Hindernis ihres Fortkommens aus dem Wege geräumt zu sehen, als Teilnahme für das Schicksal ihrer Kameraden und der hilflosen Frauen, die auf dem zerbrochenen Wagen gesessen hatten, empfanden. Diese aber hatten sich schnell emporgerafft, und da sie ihr Fuhrwerk unbrauchbar sahen, eilten sie, ihr Gepäck in den Armen, nach den nächsten Wagen, um sich auf diese zu schwingen. Doch sie wurden meist gewaltsam zurückgewiesen, da wirklich kaum die Möglichkeit vorhanden war, die Fuhrwerke noch mehr zu belasten.

Als Boleslaw verwundete Krieger mit Erbitterung abweisen und hilflose Frauen mit Peitschenhieben zurückgetrieben sah, schnitt ihm der Jammer durch das Herz. Er erhob sich und rief: »Freunde, laßt euere Kameraden nicht im Stich!« »Alter,« rief er einem graubärtigen, schwerverwundeten Grenadier zu, »komm hierher, wir wollen dich aufnehmen, und dagegen mag einer von uns abwechselnd zu Fuß gehen. Ich will der erste sein, der es versucht.« Damit streckte er dem Krieger die Arme entgegen und half ihm, während er selbst abstieg, auf den Wagen.

Dies Beispiel wirkte; man entschloß sich, auf jeden Wagen einen Verwundeten aufzunehmen. Doch waren nicht soviel Wagen als Hilfsbedürftige da, und eine junge, in Pelz dicht eingehüllte Frau mit einem etwa dreijährigen Kinde auf dem Arme, anscheinend die Gattin eines Offiziers, wurde überall zurückgewiesen, während ihre beiden Begleiterinnen schon Platz gefunden hatten. Soll die Mutter ihres Kindes wegen in dieser Einöde verschmachten? dachte Boleslaw und ein Grauen überlief ihn. Doch noch kälter packte ihn der Schauder an, als er jetzt die Unglückselige das Kind plötzlich in den Schnee schleudern und, von der Last befreit, allein nach den nächsten Wagen vor ihm zustürzen sah. »So nehmt mich denn allein auf,« rief sie mit durchdringendem Ton der Angst; »so rettet ihr wenigstens ein Leben!«

Diese unnatürliche Tat einer Mutter aber erfüllte selbst die an jedes Elend und Grausen des Kriegs gewöhnten Männer mit einem schaudernden Gefühl. Boleslaw sprang auf das weinende Kind, das in den tiefen Schnee fast versunken war, zu und hob es empor. Doch wie durchzuckte es seine innerste Brust, als er in dem kleinen Wesen Alisettens Pflegling und in der im jammervollen Wahnsinn um Rettung Flehenden diese selbst erkannte. »Allmächtiger Gott,« rief er entsetzt aus; »das ist deine waltende Vergeltung!«

Durch die Tat der Unglückseligen war das Gefühl des Erbarmens und des Mitleids in den Kriegern völlig erloschen. An ihre Stelle trat die rohe Freude, einen empörenden Frevel sogleich rächen zu können. »Bringt uns das Kind, das arme Kind, das wollen wir retten«, rief ein Chasseur von dem Wagen herab, auf den Alisette vergeblich zu klimmen suchte, indem er zugleich mit hartem Faustschlage die Unglückliche zurücktrieb. Boleslaw folgte dem Zuruf, fast ohne zu wissen, was er tat. Der Chasseur streckte ihm die Hände entgegen, er reichte das kleine Wesen hinauf, und der wild aussehende bärtige Krieger nahm es in seinen Arm und herzte und küßte es freundlich. Alisette war indessen in wahnsinniger Angst auf den nächsten Wagen zugestürzt und versuchte dort das Mitleid durch Händeringen und Weinen rege zu machen. Doch der Abscheu gegen sie hatte sich aller Herzen bemächtigt, und mit rauher Stimme rief ihr ein ergrauter Sergeant entgegen: »Fort, Rabenmutter! Laufe zu Fuß durch den Schnee!« – »O erbarmt euch meiner Jugend«, jammerte Alisette und warf sich auf die Knie in den Schnee nieder und rang die Hände verzweiflungsvoll.

Jetzt näherte sich ihr Boleslaw, berührte sie an der Schulter und sprach ernst, aber sanft: »Fassung, Alisette, tragen Sie Ihr Schicksal mit Geduld. Die Beschwerde ist zu überwinden; ich werde Sie leiten und unterstützen, soviel ich vermag!« Die Unglückliche, die noch immer auf den Knien lag, hatte ihn während dieser Worte mit halbirren Blicken sprachlos angestarrt; erst nachdem er geredet, schien sie ihn zu erkennen. »Wie?« rief sie mit verwilderten Zügen. »O, ihr konntet so demütig bitten um ein Lied in guten Tagen! Und jetzt wollt ihr mich der namenlosen Marter preisgeben! Ich soll in dieser Wildnis verschmachten!«

Bei diesen Worten sprang sie heftig auf und stürzte wiederum auf den Wagen zu, wo das Kind zitternd, an die Brust des Chasseurs geschmiegt, saß. Ehe man ihre Tat nur ahnen konnte, riß sie das unschuldige Wesen wieder herab, schleuderte es zum zweitenmal auf den Boden und rief: »Laßt es hier, es weiß noch nicht, wie schön das Leben, wie furchtbar der Tod hier ist; mich rettet, mich, ich weiß, wie schön die Welt ist, denn ich habe bessere Tage gesehen!« Mit diesen Worten wollte sie sich mit krampfhafter Anstrengung an den Wagen hinaufschwingen und achtete sogar die rauhen Stöße und Schläge der männlichen Faust des Chasseurs nicht. »Fort, du giftige Natter!« rief dieser ergrimmt; »fort, du Schlange! Wer dich aufnähme, lüde sich den Zorn Gottes auf. Du magst hier von den Wölfen zerrissen werden, du, ärger als eine Wölfin.« Zugleich brach er ihr mit übermächtiger Kraft, und von seinem Nachbar unterstützt, gewaltsam die angeklammerten Hände los und schleuderte sie zurück, daß sie betäubt auf den harten Boden stürzte.

Boleslaw hatte indessen das weinende, jetzt auch von dem harten Falle blutende Kind zum zweitenmal in die Arme genommen und reichte es dem alten Krieger von neuem dar. Als er Alisetten wie zerschmettert, mit aufgelösten Haaren rücklings auf dem Boden liegen und sie das irre Auge und die bebenden Hände kraftlos zum Himmel richten sah, erschien ihm ihr Jammer doch noch größer als der Wahnsinn ihres Verbrechens. Er näherte sich ihr und hob sie empor. Als sie von ihrer Betäubung zu sich kam und inne wurde, daß es abermals Boleslaw war, der ihr mit männlicher Sanftmut Fassung einsprach, warf sie sich außer sich vor Angst vor ihm nieder, umklammerte seine Knie und rief: »Ihr müßt mich retten! Ihr könnt mich nicht dem Entsetzen preisgeben! Ich lasse euch nicht, bis ihr mir schwört, mich zu retten!« Sie hielt seine Füße so fest umstrickt, daß er, durch seine Wunde geschwächt, sich nicht loszureißen vermochte. Vergeblich rief er ihr zu, sich zu fassen und aufzustehen; in ihrer Betäubung hörte sie kein Wort mehr. Indessen rückten die Wagen allgemach vorwärts; zwei waren die glatte Anhöhe schon hinauf, der, auf welchem Boleslaw seinen Platz hatte, kämpfte eben mit den Schwierigkeiten; nur vier waren noch zurück und hielten still. Es wurde die höchste Zeit, daß diejenigen, die sich erboten hatten, aus Mitleid abwechselnd kürzere Strecken zu Fuß zu gehen, ihren Weg fortsetzten. Teils, um sich an den Offizier anzuschließen, da eine höhere Stellung immer Vertrauen erweckt, teils durch das Schauspiel, das sich vor ihnen begab, angezogen, hatten fünf bis sechs dieser Krieger sich Boleslaw genähert. Da dieser jetzt von der Verzweifelten so festgehalten wurde, daß er sich nicht loszumachen vermochte, so griffen sie zu und rissen die Unglückliche mit Gewalt von ihm hinweg und schleuderten sie in den Schnee zurück. »Vorwärts, mein Herr Offizier,« rief ein junger Soldat; »vorwärts, sonst bleiben wir hinter den Wagen zurück. Das Frauenzimmer hat ja gesunde Füße, sie kann besser fortkommen als wir; kommt! kommt!« Damit ergriffen ihn der junge Krieger von der einen Seite und ein Dragoner von der andern beim Arm und führten ihn fort. Bei seiner geschwächten Kraft hatte ihn dieser heftige Auftritt, der sein ganzes Innerste auf so vielfache Weise in Bewegung setzte, so angegriffen, daß er sich kaum auf den Füßen zu halten vermochte. Doch wandte er sich noch einmal zurück und rief der in alles aufgebender Verzweiflung am Boden liegenden Alisette zu: »Raffe deinen Mut zusammen, Unglückliche, und trage, was das Schicksal dir verhängt.«

Doch sie war taub für die vernünftigen Worte, die Mäßigung, Geduld, Entschluß von ihrer in sinnlicher Erschlaffung untergegangenen Seele forderten. Zwar mit einem ahnungsvollen Grauen, aber doch durch den Wahnsinn verblendet und getäuscht, der seine Augen vor der Möglichkeit eines düstern Verhängnisses gewaltsam schließt, hatte sie das Unheil dieses Krieges um sich her von Tage zu Tage wachsen sehen. Daß es endlich auch sie unerbittlich erreichen werde, hatte sie als ein so unerhört unmögliches Ansinnen des Geschicks betrachtet, daß ihr jetzt, wo dieser Augenblick gekommen war, Kraft und Fassung versagte. Noch nichts wäre verloren gewesen, wenn sie nicht in der, freilich harten Notwendigkeit, strenge Beschwerden zu tragen, schon den völligen Untergang gesehen hätte. So richtete sie sich selbst zugrunde. Über das, was sie aufgeben mußte, hatte sie allen Blick für das, was ihr blieb, verloren; die furchtbare Nemesis einer unsittlichen Gesinnung, die vom Leben nur Genuß wollte und mit allen Kräften und allen Mitteln nur diesem nachgestrebt hatte, traf jetzt ihr Haupt mit zermalmender Gewalt. Auf Tage ernsten Duldens war sie nicht bereitet; hier brach sie gänzlich kraftlos zusammen und vermochte nichts als zu jammern und zu freveln. So erhob sie denn auch jetzt die Stimme zu tief in die Seele schneidenden Lauten des Jammers. »Hilfe, Erbarmen, Rettung!« rief sie auf die Knie geworfen, und gewann nicht die Kraft, sich selbst durch den Entschluß zu retten, die Mühseligkeit so lange zu ertragen, als sie es vermochte. Erst, als der letzte Wagen sich nun auch in Bewegung setzte, und die Pferde unter wildem Rufen und Peitschenhieben, was die Kraft ihrer Sehnen vermochte, den Eisabhang hinanklimmten, da erst, als das Grausen, sich ganz allein zu sehen, sie übergewaltig faßte, raffte sie sich auf und stürzte, einer Wahnsinnigen gleich, mit aufgelösten Haaren den Davonziehenden nach. In ihrer Raserei wollte sie sich an den letzten Wagen klammern, doch die Krieger, die schon fürchteten, daß ihre Pferde das Hindernis nicht bezwingen könnten, trieben sie mit ihren Waffen zurück und versetzten ihr Wunden und blutige Quetschungen. Von der Todesangst getrieben, packte sie jetzt das in der Kälte und auf der glatten Bahn stockende Hinterrad des Wagens und ließ sich hinaufschleifen; doch weil diese Last die Kräfte der ermüdeten Tiere noch mehr belud, so zog ein verwundeter Kürassier, der auf dem Wagen lag, die Pistole heraus und drohte ihr, sie niederzuschießen, wenn sie nicht loslasse. Da sanken ihr, von dem plötzlichen Schrecken gelähmt, die Hände kraftlos zurück, und sie blieb winselnd und jammernd im Wege liegen. So sah sie Boleslaw, als er einen letzten Blick zurückwandte; er kämpfte unentschlossen mit sich selbst, ob er sich noch einmal zu ihr wenden sollte, doch die Kameraden zogen ihn gewaltsam fort, und der junge Soldat, der ihn führte, rief: »Laßt sie, laßt sie; die Mutter, die ihr Kind umbringen wollte, darf man nicht anrühren, sonst zieht man den Fluch des Himmels auf sich. Laßt sie, es trifft sie die gerechte Strafe.«

Bald hörte Boleslaw nur noch das herzzerreißende Jammergeschrei der Unseligen, bis der Sturmwind, der sich rauh erhob und düstere Schneewirbel aufjagte, es übertönte.


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