Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Drittes Kapitel.

Arnheim hatte geahnt, wie Marie fühle; deshalb kam er am nächsten Morgen zur Gräfin, um dieser Frau, deren mit Weiblichkeit gepaarte Würde jedem Vertrauen einflößte, seine Brust zu öffnen. Ernst, aber mit Fassung vernahm er die Entscheidung. »Ich hoffte kaum anders,« sprach er, »denn ich bin nicht an Glück und Freude gewöhnt; nur die Außenseiten des Lebens zeigen sich mir lockend, im Innern haben mich seine Stacheln schon oft im Tiefsten verwundet. Ich zürne ihr nicht; ich ehre ihren Beschluß. Doch vor ihr zu erscheinen, ist mir jetzt unmöglich. Einiger Tage bedarf ich, um die unruhigen Wellen meiner Brust zu besänftigen. Leben Sie wohl, Gräfin! Bevor ich ganz scheide, sehen Sie mich noch einmal.« Er ging.

Die trübe, bange Stille, welche seine Erscheinung auf einige Augenblicke unterbrochen hatte, kehrte neu zurück und lastete noch mit ängstlicherm Drucke als zuvor auf den Bewohnern des Hauses. Das Herz verlor die Kraft zu frohen Hoffnungen; die unheilvolle Nähe irgendeines Schrecknisses drang ahnungsvoll in die Seele. Man bebte vor der Zukunft, von der man dennoch die Erlösung aus dieser peinigenden Spannung erwartete.

Eines Morgens, es war der 10. Dezember, stand die Gräfin in ihrem Zimmer am Fenster und blickte, in trübes Sinnen verloren, auf die Gasse hinaus. Sie bemerkte ein unruhiges Wogen und Treiben; die Vorübergehenden eilten hastig die Straßen abwärts. Begegnende riefen einander an, schienen sich eine Nachricht von Wichtigkeit mitzuteilen und setzten dann ihren zuvor entgegengesetzten Weg gemeinsam nach ebender Richtung fort, wohin man ein eiliges Bewegen der Vorübergehenden wahrnahm. Es war das erste Beginnen eines durch eine bedeutungsvolle Begebenheit veranlaßten Zusammenströmens. In den letzten Tagen waren so manche dunkle Gerüchte in Umlauf gekommen, und unheilvolle Nachrichten, wie die Wegnahme von Minsk durch die Russen, hatten sich bestätigt. Die Gräfin ahnte daher Schlimmes; auch war sie sorgenvoller geworden durch das gänzliche Ausbleiben der Briefe ihres Bruders. Vor Lodoiska suchte sie zwar ruhig zu erscheinen, weil diese sich schon in einer Spannung befand, bei der man fürchten mußte, daß sie in die tödliche Aufregung ihrer Krankheit zurückfallen werde; doch im Innersten stiegen selbst ihrer heldenmütigen Seele düstere Ahnungen auf, die sie kaum den Mut hatte, sich als Möglichkeit fest vor Augen zu stellen. Daher erfüllte dieses Treiben und Bewegen auf der Gasse sie mit unruhigen Besorgnissen, und sie wollte eben dem Kammerdiener schellen, um nach der Veranlassung fragen zu lassen, als dieser eintrat und Arnheim meldete. »Sehr willkommen!« sprach sie erleichtert. Arnheim trat ein.

»In Ihren Mienen lese ich's,« rief sie ihm entgegen, »daß sich etwas Ungemeines begeben hat; seien Sie schnell damit, denn das drohende Schwert schreckt mehr als das gefallene. Was ist geschehen? Reden Sie, wir sind allein!«

»Das Ungeheuerste, was je die Weltgeschichte erlebt hat«, erwiderte Arnheim mit einem Antlitz, auf dem nur staunende Erschütterung, aber weder Freude noch Trauer zu lesen war. »Vor wenigen Minuten ist der französische Kaiser hier eingetroffen; allein, flüchtend, verhüllt! Sein Heer ist vernichtet – den Trümmern desselben ist jeder Weg der Rettung versperrt –« – »Genug, genug!« rief die Gräfin und hielt sich wankend und erblassend an einem Sessel. Arnheim wollte ihr zu Hilfe eilen, doch sie machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Noch stand sie atemlos, unvermögend zu sprechen, als die Tür sich rasch öffnete; Lodoiska, bleich wie ein Marmorbild, das Entsetzen in dem erloschenen Blick, stürzte herein. Mit ausgebreiteten Armen, als fliehe sie vor einem grauenhaften Gespenst, eilte sie auf die Mutter zu, umschlang sie krampfhaft, und vor ihr in die Knie sinkend, verbarg sie das Angesicht in ihrem Schoße. Wie Niobe im Schmerz erstarrend, stand die Gräfin stumm über die Unglückselige gebeugt und legte ihr die bebenden Hände auf das Haupt.

Arnheim blickte finster zur Erde; zwar sah er aus dieser furchtbaren Nacht schon den Stern des Heils für sein Vaterland schimmern, doch er ging zu blutig auf, um Freude in ein menschlich fühlendes Herz zu strahlen. Das Entsetzen der vernichtenden Nemesis erfüllte die Brust noch zu mächtig, um der Hoffnung Raum zu lassen, die aus dieser Saat des Todes erblühen sollte.

Jetzt trat auch Marie ein; blaß, zitternd, aber mit mehr Liebe als Schrecken in den sanften Zügen. Als sie Arnheim erblickte, überflog sie eine schnelle Röte, und ihr Fuß stockte einen Augenblick; doch sie faßte sich, ging ihm entgegen, bot ihm freundlich die Hand und sprach mit halb versagender Stimme: »O helfen Sie mir diese Unglücklichen trösten!« Dann wandte sie sich zu der Gräfin und Lodoiska und löste ihre Erstarrung durch die warmen Bitten und Tränen der Liebe in einen mildern Schmerz auf.

»Es ist vorbei,« sprach endlich die Gräfin mit fester Stimme; »ich finde mich wieder. Dieses Geschick muß würdig und standhaft erduldet werden. Indem wir die Macht zum Widerstande in uns zu erringen suchen, gewinnen wir sie wirklich. Komm, meine Lodoiska, erhebe dich; zeige, daß du die Tochter eines heldensinnigen Polen bist.« – »Das will ich,« sprach Lodoiska, in deren Augen ein neues Feuer aufloderte; »zeigen will ich es durch die Tat. Nur du, meine Mutter, versprich mir, daß du mich nicht verlassen willst!« Die edeln Züge ihres Angesichts röteten sich mit der Glut, die ein großer Entschluß über die Wangen haucht. Selbst die Gräfin wußte sich diese Erscheinung nicht zu erklären. Nur Marie ahnte die Bedeutung des Versprechens, welches Lodoiska forderte, denn ihre Schwesterbrust war der der liebenden Lodoiska verwandt.

»Soll ich dir erst jetzt versprechen, was ich dir durch jede Tat meines Lebens gelobt, wofür ich dir jeden Tag eine neue Bürgschaft geleistet habe?« erwiderte die Gräfin auf die Bitte Lodoiskas, und in dem Ton ihrer Rede lagen Frage und Vorwurf zugleich. – »Nein, du sollst es nicht!« sprach Lodoiska sanft; »denn ich weiß, du tust, was du mir nicht versagen kannst, ohne mein Leben zu rauben! Ich muß zu ihm – ehe der Krieg ihn hinwegrafft – mein Herz sagt mir, daß er noch lebt, daß ich ihn finden werde – wir müssen uns versöhnen – nein, nicht versöhnen, denn ich zürne nicht und zürnte nimmer; aber er muß den reinen Himmel der Liebe noch einmal wieder lächeln sehen, und wäre es in der letzten Stunde seines Lebens. Mutter, Mutter! wenn du mir das versagst, so bricht meine Brust, und hier wie dort ist nicht mehr Ruhe für mich zu hoffen.« – »Unbegreifliches Kind«, rief die Gräfin, von Rührung und Staunen überwältigt, und drückte das liebende Wesen mit einer Zärtlichkeit an ihr Herz, die die Gewährung der schwärmerischen Bitte stumm verhieß.

Mariens Brust wurde von Wehmut und Beklemmung überdrängt. Die Erschütterung des mächtigen Ereignisses, die Rührung über Lodoiskas Schmerz und Liebe, das schwesterliche Gefühl banger Sorge um den Bruder, und endlich in innerster Tiefe das Bild des edeln Mannes, dem sie entsagt hatte, ohne ihrer Liebe zu entsagen, über dem das Verhängnis, wenn es ihn nicht schon hinweggerafft hatte, ebenso düster schwebte, – alles wogte zugleich in ihrer Seele auf und umwob ihr die Stirn mit verdunkelndem Schleier. Da traf ihr Auge den finster zu Boden blickenden Arnheim, und ein neuer Pfeil der Schmerzen drang ihr in die Brust. Was mußte er leiden, dem die Liebe versagt wurde, wo er sah, mit welcher Macht ihre heilige Flamme das zarteste Herz durchdrang! Von diesem Glück war er ausgeschlossen – – ach und Marie, mußte sie es nicht selbst aus ihrer Brust verbannen? Die Gleichheit ihres Geschicks mit dem des edeln Freundes führte ihm ihre reine Seele schwesterlich nahe. Sie trat mit heiliger Offenheit zu ihm heran und sprach sanft: »Edler Freund, vielleicht hat diese Minute mir meinen Bruder geraubt; wollen Sie seine Stelle einnehmen – er lebe oder sei dahin – das Herz hat Raum für doppelte Schwesterliebe.« Er nahm ihre Hand und preßte sie heftig an die Lippen. »O Marie! – sei es ein Vermächtnis oder ein Geschenk – es ist das Schönste, was ich von nun an besitze.« – Doch der Schmerz überwältigte ihn, er eilte hinweg.

Als die drei Frauen allein waren und sie ihre Herzen, die schon so nahe aneinander schlugen, durch die mächtigen Bande eines gleichen Trauergeschicks noch fester vereint fühlten, sprach die Gräfin: »Dieser fürchterliche Schlag, der in Europas einer Hälfte Jammer, in der andern Freude verbreiten wird, weckt in deinem Herzen, Marie, vielleicht eine vaterländische Hoffnung, während das unsere in düsterer Verzweiflung verblutet. Aber laß uns jetzt nicht dessen gedenken, was unsere Seelen trennen könnte; eine gemeinschaftliche Sorge, die um unsere teuersten Freunde, verschwistert uns innig, unauflöslich. Lodoiskas liebendes Herz hat das Rechte und Wahre im raschen Blitz des Augenblicks erkannt. Es treibt sie dem Geliebten entgegen, ob sie dem grausamen Schicksal noch einen lächelnden Augenblick entreißen kann. Dürfen wir sie allein ziehen lassen?« – »Nein, nein!« rief Marie zu Lodoiska gewandt, »meine Ahnung macht mich längst zu deiner Gefährtin. Eine Schwester liebt auch!« – »Ja, eine Schwester liebt auch«, wiederholte die Gräfin, und der Glanz einer Träne füllte ihr großes Auge. »So ist es denn beschlossen, wir brechen auf! Unsere Freunde sind uns nahe; in wenigen Tagen können wir sie erreichen. Vielleicht hat das Schicksal sie aufgespart, damit wir sie noch einmal an unser Herz drücken; vielleicht ist es uns verhängt, ihr brechendes Auge sanft zu schließen; vielleicht kann unsere weiblich pflegende Hand sie dem Tode entreißen. Man mag uns tadeln; unser Herz spricht uns frei. Nur die unedle Menge, die nie in eigener Brust groß und tief empfunden, verkennt jeden freien Entschluß, der sich über Sitte, Gewohnheit und Berechnung stolz erhebt. Ich bin euere Mutter; mir ist das Heiligtum euerer jungfräulichen Sitte anvertraut. Aber ich erhebe das Auge vertrauend zu den Verklärten, deren Schoß euch gebar, denn ich weiß, sie heißen gut, was ich vollbringe.«


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