Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Siebentes Kapitel.

St.-Luces und Beaucaire waren, als sie in ihre Wohnung heimkehrten, zu ermüdet, um über die Begegnisse des Tages noch ausführlich zu sprechen; am Morgen jedoch, als der Diener Beaucaire den Kaffee brachte, war es sein erster Gedanke, die Entdeckung, welche er gestern gemacht, und die mancherlei Pläne, welche er sogleich entworfen hatte, weiter zu verfolgen. Er ging daher zu St.-Luces hinüber, den er schon am Schreibtische sitzend fand, begrüßte ihn und begann folgendermaßen: »Ich glaube, wir haben gestern glückliche Jagd gemacht, wenigstens sind wir auf der Fährte eines edeln Wildes, welches uns tausend Napoleondor Schießgeld eintragen könnte.«

»Freilich, freilich,« entgegnete St.-Luces lächelnd, »aber es ist nur die Frage, wie wir es vor den Schuß bringen. Ich bin soeben schon damit beschäftigt, Schritte in der Sache zu tun, nämlich nach Dresden zu schreiben, um mir einige nötige Vollmachten zu verschaffen, damit ich die hiesigen Behörden in Requisition setzen kann; denn wie wir hier sind, vermögen wir gar nichts.«

»Das ist nicht der Weg, den ich einschlagen würde,« entgegnete Beaucaire, »ich fürchte, er führt uns nicht weiter, als wir das erstemal kamen. Wir haben es mit Bewohnern verbündeter Länder zu tun, gegen die man schonend verfahren will, sonst würde man längst durch Mutter und Schwester den Aufenthalt des Bruders haben ermitteln können; denn an das Märchen von dem Duell und an die völlige Unkunde der Mutter von dem Aufenthalte des Sohnes hat doch wohl niemand geglaubt. Und gesetzt auch, sie habe ihn damals nicht gekannt, so leidet es doch keinen Zweifel, daß sie ihn früher oder später erfahren mußte. Wollte man ihn daher durch das Geständnis der Frauen ermitteln, so wäre nichts in der Welt leichter gewesen. Ich bezweifle also, daß man uns jetzt die nötigen Vollmachten einräumen wird; und geschähe es auch, so gäbe es jedenfalls eine gehässige, öffentliche Szene, für deren Ausgang ich bei der Erbitterung, die trotz der Verbindung des Kaisers und seiner Verwandtschaft mit dem Hause Österreich hier gegen uns herrscht, nicht stehen möchte. Allein mir deucht, wir hätten noch andere Mittel, um hinter das Geheimnis zu kommen.« – »Und die wären?« fragte St.-Luces aufmerksam. – »Wir müssen nur nicht geizig sein,« fuhr Beaucaire mit einem schlauen, boshaften Lächeln fort, »und von den tausend Napoleondor fünfzig bis hundert zu opfern wissen, die der Postmeister hierselbst erhielte, im Fall er uns alle Briefe zu einer kleinen Durchsicht auslieferte, die von den beiden Frauen abgesendet werden oder an sie einlaufen. Meinen Sie nicht, daß unser heißes Messer das Siegel von einem Frauenzimmerkuvert ebensogut lösen würde als von den sorgfältigst verwahrten diplomatischen Depeschen?«

»Ich fürchte nur, man hat uns bereits erkannt, und wird gar sehr auf der Hut sein!«

»Wer sollte uns erkannt haben?« rief Beaucaire, »das junge Mädchen? Dies hätten wir sogleich bemerken müssen; aber ich bin überzeugt, sie hat nicht einmal unsern Namen gehört, denn als wir vorgestellt wurden, war sie zu weit entfernt, und von dem Augenblicke an, wo ich erfuhr, wer sie sei, habe ich sie nicht aus den Augen gelassen.« – »Auch ich nicht,« entgegnete St.-Luces, »aber gerade an ihrem Benehmen, ihren Blicken glaube ich wahrgenommen zu haben, daß sie, wenn sie uns nicht kennt, doch wenigstens irgendeinen Argwohn gegen uns hat, oder nach einer Erinnerung sucht, mit welcher sie uns in Verbindung bringen will.«

»Und wenn die Frauen uns beide vollständig kennen sollten, was täte dies am letzten Ende?« rief Beaucaire aus.

»Sie würden aufs äußerste vorsichtig sein, ihre Briefe auf Umwegen befördern, vielleicht gar abreisen!«

»Möchten sie doch! Ihre Vorsicht könnte sich aber doch nur auf die abzusendenden, nicht auf die ankommenden Briefe erstrecken, und diese letztern würden uns am Ende noch mehr Licht geben als die erstern, die vielleicht unter einer falschen Adresse abgehen. Denn das wird der flüchtige Ritter um seiner eigenen Sicherheit willen wohl angeordnet haben.«

St.-Luces ging nachdenkend auf und ab. »Und werden Sie,« fragte er plötzlich, »nicht an der plumpen Ehrlichkeit der deutschen Beamten scheitern, und uns vielleicht gar kompromittieren?« »Ich dächte, Herr Baron,« erwiderte Beaucaire etwas empfindlich, »ich hätte Ihnen einige Beweise gegeben, daß ich schwierigere Unterhandlungen einzuleiten gewußt habe, wobei mehr auf dem Spiel stand; wann wäre ich so ungeschickt gewesen, uns früher preiszugeben, als bis ich des Gegners gewiß war? Seien Sie außer Sorgen, überlassen Sie die Sache mir; ich will schon Mittel finden, den Faden fein anzulegen und fortzuspinnen, aus dem ich die Fangschlinge für unsern Abenteurer zu knüpfen hoffe.«

St.-Luces ging noch einigemal unschlüssig im Zimmer auf und nieder; dann reichte er seinem Genossen entschieden die Hand und sprach: »Nun meinethalben; ich lasse Sie gewähren, ich will Ihnen auch den größten Anteil des Lohnes lassen, nur gefährden Sie den Ruf unserer Gewandtheit nicht. Denn eben weil hier alle Spur verloren schien, weil man nicht gerade zu auffallende, die Gemüter erbitternde Zwangsmaßregeln gebrauchen wollte, käme mir viel darauf an, die Sache mit einer geschickten Wendung zu beendigen, um mich dadurch zu neuen wichtigen Aufträgen zu empfehlen. Wir sind eng miteinander verknüpft, Freund, denn Sie folgen meiner Bahn Stufe für Stufe. Rücke ich aufwärts, so nehmen Sie die Lücke ein, die ich lasse, und Sie können darauf zählen, daß ich Ihnen die Hand reichen werde, um Sie nachzuziehen, bevor ein anderer sich eindrängen kann. Noch einmal: diese Sache übergebe ich ganz Ihnen, ziehe mich aber auch durchaus zurück, wenn sie eine unangenehme Wendung nehmen sollte.«

»Verlassen Sie sich blind auf mich,« rief Beaucaire, indem er sich mit Unterwürfigkeit verbeugte; »ich eile, das Gewebe anzulegen, denn wir dürfen keinen Augenblick verlieren.« Mit diesen Worten empfahl er sich und eilte hinab in sein Zimmer, um sich anzukleiden. Hierauf machte er sich auf den Weg, um sein Garn auszuwerfen.

Sein erstes war, daß er in ein Kaffeehaus ging, um in der Badeliste die Wohnung der Frauen, die er so arglistig zu umspinnen dachte, aufzusuchen. Nebenbei knüpfte er daselbst ein Gespräch mit einigen Bürgern an, um über den Charakter des Postverwalters einige Aufschlüsse zu erhalten; was er erfuhr, schien seinen Plan zu begünstigen. Er ging daher getrost nach der Posthalterei, um seine Unterhandlung zu beginnen. Zu seinem Verdruß mußte er erfahren, daß der Posthalter an demselben Morgen nach Dresden abgereist sei und binnen vierzehn Tagen erst zurückkommen werde. Diese Auskunft gab ihm ein alter Expedient, in dessen scharf gefurchten Zügen und blinzelnden grauen Augen Beaucaire etwas zu lesen glaubte, was seinen Absichten günstig wäre. »Sie besorgen wohl indes die Geschäfte, mein Herr?« fragte er höflich, »und vielleicht kann ich mich an Sie wenden, um eine Gefälligkeit zu erhalten, für die ich sehr dankbar wäre.« Bei diesen Worten reichte er dem Alten freundlich die Hand dar, und wußte mit Geschicklichkeit einige Goldstücke in dessen dargebotene Rechte zu drücken. Dies pflegte Beaucaires gewöhnlicher Probeschuß zu sein, um den Boden, welchen er betreten wollte, zu untersuchen. Er gab, bevor er sagte, wofür; wer in solchen Fällen nimmt, ehe er weiß, ob man wirklich nur seine Mühe vergelten, oder ihm eine Lücke im Gewissen mit Gold ausfüllen will, der erklärt von vornherein seine Rechtlichkeit für überwindlich. Indessen ging Beaucaire doch noch ferner vorsichtig zu Werke; er bat erst um frühere Auslieferung der eigenen Briefe, und rückte dann, da der Alte sich immer geldgieriger zeigte, andeutungsweise mit seinem Antrage näher. Noch hatte er ihn jedoch nicht ausgesprochen, als beide unterbrochen wurden, indem soeben die Post eintraf. Der alte Postbeamte öffnete die Briefliste, welche die Adressen der angekommenen Briefe enthielt. Beaucaire warf einen flüchtigen Blick darüber hin und las, durch den Zufall geleitet, den Namen Rosen. Wie der Falke auf eine Taube stößt, so schoß sein raubgieriger Eifer auf diese Beute los. Die Eile, mit welcher er, durch diesen Umstand angeregt, des Briefes habhaft zu werden wünschte, war schuld daran, daß er seine Vorsicht einen Augenblick vergaß, und rasch, aber leise fragte: »Kann ich diesen Brief auf eine Viertelstunde haben, so sind zwanzig Goldstücke die Ihrigen.« Zugleich griff er in die Tasche, um das Geld herauszulangen. Der Beamte tat, als habe er nichts gehört, schob aber leise den Brief beiseite, empfing das Gold mit einem verstohlenen Griff der Hand und sah eisernen Blicks in ein Aktenstück hinein, welches aufgeschlagen neben ihm auf dem Tische lag. Beaucaire verstand den Wink; er griff daher ohne weiteres zu und bemächtigte sich des Briefes. Erstaunt sah er an dem Poststempel, daß derselbe aus dem Hauptquartier kam. Sogleich eilte er damit nach Hause, trat mit triumphierender Miene in St.-Luces' Zimmer und sprach: »Wie nun, Herr Baron, wenn ich schon den Sieg in der Hand hätte, wenn der Schlüssel des Geheimnisses schon mein wäre?«

»Das wäre!« rief St.-Luces und sprang freudig auf. Beaucaire reichte ihm den Brief hin, St.-Luces las erstaunt die Aufschrift.

»Nun? Was sagen Sie? Dieser Brief wird uns denn doch wohl einige Aufschlüsse geben?« – »Wieso?«.sagte St.-Luces. – »Nur Geduld, wir werden sogleich im klaren sein«, entgegnete Beaucaire, und schickte sich an, den Brief zu öffnen. »Sehen Sie da!« rief er, mit einem vor boshafter Freude leuchtenden Angesicht, als er das Blatt aus dem Kuvert gezogen und entfaltet hatte: » «Teuerste Mutter!» lautet die Überschrift. Und die Unterschrift: «Euer getreuer L.» Sind das Spuren? Haben wir den Faden in der Hand?«

»Sie sind in der Tat sehr glücklich gewesen,« sprach St.-Luces, »doch wird die Entdeckung uns nicht viel helfen, denn der Flüchtige hat sicher einen falschen Namen angenommen, die Armee zählt eine halbe Million Köpfe, und unter diesen gerade den aufzufinden, den wir suchen, gegen ihn eine Untersuchung einzuleiten – das alles sieht so unendlich weitläufig aus, daß ich kaum darauf eingehen möchte.«

»Meine Entdeckung ist so glücklich,« erwiderte Beaucaire, »ich bin so zufrieden über die Art, wie sie mir eingeschlagen ist, daß ich mich vorläufig damit genügen lasse. Wer weiß aber, ob der Inhalt des Briefes uns nicht noch ausführlicher belehrt.«

Er setzte sich hierauf und durchlief ihn flüchtig. Seine Mienen wurden immer wohlgefälliger, drückten eine stets wachsende boshafte Freude aus. Am Schluß rief er aus: »Es bleibt uns nichts zu wünschen übrig, denn aus diesem Schreiben läßt sich unzweifelhaft ersehen, daß die beiden Flüchtlinge, denen wir nachspüren, bei der Armee, und zwar höchstwahrscheinlich in dem Regimente des Grafen Rasinski stehen. Denn obwohl kein einziger Name in diesem Briefe ausgeschrieben ist, so bleibt es doch für jeden, der die Dislokation der Regimenter kennt, keinem Zweifel unterworfen. Wir haben daher nichts weiter zu tun, als die Anzeige zu machen, und höchstens hier noch die Namen auszumitteln, welche die beiden jungen Leute mutmaßlich angenommen haben, um unerkannt zu bleiben. Bei meinem jetzigen Bündnis mit dem Postsekretär ist aber nichts leichter als dies, denn wir dürfen nur die Antwort auf dieses Schreiben abwarten.«

St.-Luces ärgerte sich innerlich darüber, daß Beaucaire in dieser Entdeckung soviel Glück gehabt hatte, denn den Verdiensten der Geschicklichkeit desselben eine Anerkennung deshalb zukommen zu lassen, hatte er nicht die geringste Neigung. Er war aber verschlagen genug, um sich nicht das mindeste äußerlich merken zu lassen. Mit raschen Schritten ging er im Zimmer auf und ab, und suchte sich das Ansehen zu geben, als sei es der Eifer, den man jetzt in der Verfolgung dieser Entdeckung beobachten müsse, welcher ihn in eine so unruhige Bewegung setze. Heimlich indessen hatte er ganz andere Gedanken, die auf zweierlei Ziele hinausliefen. Um jeden Preis wollte er Beaucaires Entdeckung vereiteln, am liebsten aber freilich sie für sich nutzen. Mit der freundlichsten Miene von der Welt überhäufte er ihn daher mit Lobsprüchen, um ihm jeden Verdacht zu rauben. »Ich muß Ihrem Talent und Ihrer Geschicklichkeit die vollste Anerkennung widmen, mein lieber Beaucaire,« sprach er; »Sie haben in dieser Sache mit einem Scharfblick und einer Gewandtheit gehandelt, die nicht übertroffen werden kann. Gern gestehe ich's, daß ich im ersten Augenblick eine kleine Anwandlung von Verdrießlichkeit hatte, die der Neid auf Ihre meisterhafte Ausführung des glücklichen Gedankens in mir erregte. Betrachten Sie diese Aufwallung, der ich nunmehr vollkommen Herr geworden bin, als die wahrhaftigste Huldigung gegen Ihre Verdienste; sie ist vielleicht sogar die schmeichelhafteste.«

Wie die Schlauheit aller Schurken nur bis zu einem gewissen Grade reicht, und das ganze künstliche Gewebe ihrer Verstandeskombinationen eigentlich nur zu einer verlängerten Dummheit wird, weil es der festen Grundlage des Vernünftigen und somit des Sittlichen entbehrt, so fand auch Beaucaires Scharfsinn hier eine Grenze, indem seine Eitelkeit ihm das Auge verblendete, mit welchem er sonst die Dinge durchaus richtig zu sehen wußte und sich nicht leicht durch einen Schein täuschen ließ. St.-Luces besaß aber auch die Kunst im höchsten Grade, seine Züge in jede Form zu legen, den überzeugenden Ton redlicher Wahrheit anzunehmen und damit oft selbst diejenigen zu täuschen, die schon Zeuge gewesen waren, wie er dieselben Waffen gegen andere gebraucht hatte. Beaucaire konnte es nicht lassen, noch einige Zeit ruhmredig, wiewohl mit dem Ausdrucke und den Formen der Bescheidenheit, auf seine Geschicklichkeit und die schnelle Ausführung seines glücklichen Gedankens zurückzukommen. St.-Luces ungleich schärferer Blick durchschaute ihn bis auf den Grund; um so sicherer vermochte er ihn in seiner Verblendung zu bestärken und in die schmeichelhaftesten Täuschungen einzuwiegen.

Da vorläufig in der Angelegenheit nichts weiter zu unternehmen war, vor allen Dingen aber der Brief der Post zurückgegeben werden mußte, damit man diese Hilfsquelle nicht für die Folge einbüße, so übernahm Beaucaire das letztere, und eilte, nachdem er das Kuvert wieder versiegelt hatte, auf das Bureau zurück, um ihn dem Beamten wieder einzuhändigen. St.-Luces ging gedankenvoll in seinem Zimmer auf und ab und überlegte, wie er es anzufangen habe, um Beaucaires eitle Nebenbuhlerschaft zu vereiteln und die etwaigen Verdienste seiner Entdeckung sich selbst zuzueignen.


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