Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Achtes Kapitel.

Die Gräfin und Lodoiska fuhren, von Regnard begleitet, nach Hause, die drei jungen Männer gingen und trafen demnach etwas später ein. Als sie die große Treppe hinaufstiegen, kam ihnen die Gräfin mit einem seltsamen, aber sehr freudigen Lächeln entgegen. »Nicht in den Speisesaal,« sprach sie, »folgen Sie mir zuvor noch ins Gesellschaftszimmer, denn die Tafel ist noch nicht vollständig gedeckt.« Unbefangen gehorchten die Freunde dem Gebote der Gräfin. Es war niemand im Zimmer als der Oberst. »Lodoiska,« sprach die Gräfin, »kleidet sich um, und wir werden auch noch etwas warten müssen, weil die liebenswürdige Alisette versprochen hat, mit uns zu speisen.« Die Freunde saßen in unbefangenem Gespräch mit dem Rücken gegen die Tür, als plötzlich Jaromir zwei Hände fühlte, die sich von hintenher über seine Augen legten, um ihn raten zu lassen, wer der Unbekannte sei; allein es blieb ihm nicht Zeit dazu, denn schon waren Bernhard und Ludwig mit dem lauten Ruf der Freude aufgesprungen: »Graf Rasinski!« Boleslaw aber war es, der Jaromirs Augen bedeckt hielt. Er umarmte den Freund und Kriegskameraden mit stürmender Herzlichkeit, und ebenso feurig begrüßte er auch Rasinski. »Wie ist's euch ergangen? Wie habt ihr gelebt?« schallten die Fragen durcheinander, ohne daß die Antwort abgewartet wurde, weil jeder sie ja lebendig vor sich sah. »Tausend herzliche Grüße von den Ihrigen,« waren die ersten Worte, welche Rasinski, nachdem die stürmisch freudige Begrüßung vorüber war, an Ludwig richtete; »zwar kam meine Abreise so überraschend, daß nicht Zeit vorhanden war, mir ausführlichere Briefe mitzugeben, indessen erhalten Sie doch einige Zeilen und mit dem nächsten Posttage mehr.«

Der Gruß von den Seinigen, dieser erste Anknüpfungspunkt an eine glücklichere Vergangenheit, mußte eine wehmütige Stimmung in Ludwig erzeugen. Aber mit der Wehmut zugleich erfüllte ihn ein sanftes Gefühl der Freude, daß es noch in einem fernen Hintergrunde liebe Wesen gab, die den dunkeln Pfad seines Lebens mit sorgender Teilnahme verfolgten, deren treue Wünsche und Gebete ihn als Schutzengel umschwebten. Er dankte daher dem Überbringer so lieber Botschaft auf das innigste und bat um die Aushändigung dessen, was ihm bestimmt war.

Bernhard, welcher stets der Umsichtigste war und sich nicht leicht von einem Gefühl so hinreißen ließ, daß er die scharf umblickende Besonnenheit außer acht gelassen hätte, wurde plötzlich durch den Gedanken beunruhigt, daß Rasinski ihren angenommenen Namen noch nicht kenne und daher leicht eine verratende Unvorsichtigkeit begehen könne. Schnell besonnen ging er daher voraus und sandte einen Bedienten hinein, durch welchen er Rasinski ins Vorzimmer rufen ließ. Dieser war erstaunt, denn er wußte nicht, wer ihn an einem Orte, wo er erst seit einer Viertelstunde angekommen war, in dienstlichen Angelegenheiten zu sprechen verlangen könne. Er sandte daher Boleslaw; diesem sagte Bernhard, um was es sich handle. Als wäre die Sache dringend dienstlich, berichtete Boleslaw an Rasinski, beide gingen miteinander hinaus, und Bernhard setzte ihnen nun das ganze Verhältnis deutlicher auseinander.

»Vortrefflich, mein junger Freund,« sprach Rasinski, »ihr habt Anlage zum Parteigänger, denn ihr haltet Auge und Ohr offen. Das soll mir ein gutes Zeichen sein, Graf Lomond, ihr könnt auf Beförderung Anspruch machen. Überdies lobe ich's, daß ihr euch den Grafentitel beigelegt habt, denn wie sehr auch das rauhe Würfelspiel der Zeit Altes und Neues im Becher durcheinander geschüttelt hat, Blei senkt sich doch immer in die Tiefe und Öl schwimmt obenauf. So werden Rang und Reichtum selbst dann noch gelten, wenn auch das Russische Reich zu einer atheniensischen Republik und Madrid oder Neapel zu einem zweiten Sparta geworden sind. Aus euch, Freund, kann etwas werden, und Ludwig mag wollen oder nicht, er muß einem Soren einen Grafen oder Freiherrn vorhängen, wenn es auch nur der bequemern Anrede wegen geschähe.« Sie gingen hierauf wieder hinein.

»Nun, das muß wahr sein,« redete die Gräfin die Eintretenden an, »euere Dienstgeschäfte scheinen dringend, da ihr sie gleich im ersten Augenblicke der Ankunft vornehmt.«

»Du weißt,« antwortete Rasinski, »der Soldat ist nur ein Rad in der Maschine, das sich nach dem Gesetz des Ganzen drehen muß, wenn dieses nicht stocken oder der widerspenstige Teil zerschmettert werden soll. Indessen ist nun hoffentlich für heute alles abgetan, und wir gehören ganz dir an.« Er setzte sich mit diesen Worten zwanglos zu der Schwester nieder und nahm freundlich kosend ihre Hand. Sie betrachtete ihn mit einer gewissen liebenden Sorglichkeit, als wolle sie untersuchen, ob es auch noch der alte geliebte Bruder sei. »Ich weiß nicht,« sprach sie nach einigen Augenblicken, »aber du scheinst mir ein wenig verändert, Stephan; hier auf der Stirn nehme ich einen Zug wahr, der fast wie eine düstere Falte des Trübsinns aussieht. Wahrlich, Bruder, deine Stirn ist nicht mehr der freie, heitere Himmel, dessen Anblick sonst so stärkend war.«

»Das Alter, Johanna, übt seine Rechte an mir«, erwiderte er lächelnd; doch ließ sich der tiefe Ernst seiner Züge durch eine so leichte Hülle der Heiterkeit nicht verschleiern.

»Es ist kein Zug des Alters, es ist einer der Sorge oder des Kummers. Teile der Schwester die Hälfte deiner Bürde mit, sonst trägt sie die doppelte, ohne daß du es zu hindern vermagst, denn du weißt, jede Ungewißheit vergrößert Gefahren und Sorgen.«

Das Gespräch wurde zwischen beiden geführt, ohne daß die Gesellschaft darauf aufmerksam war; deshalb wiederholte die Gräfin ihre Bitte um Mitteilung dringender, da der Bruder auf die erste nur durch ein ernstes Schweigen, wobei er sinnend vor sich hinblickte und langsam das Haupt schüttelte, geantwortet hatte. »Das Vaterland,« erwiderte er jetzt, »fordert außer der ganzen Kraft unsers Lebens auch manche andere Opfer desselben; wir bringen sie willig, allein verargen wird man es uns doch nicht, wenn wir nicht unempfindlich gegen den Schmerz sind, den uns der Verlust oder das Aufgeben solcher Güter verursacht, welche von den meisten als die höchsten geschätzt werden, ja nicht selten für das Ziel des Daseins selber gelten.«

Die Schwester sah ihn mitleidig an und reichte ihm die Hand; er drückte sie stumm und blickte ihr wohlwollend, dankbar in das treue Auge.

Die Aufmerksamkeit der übrigen wurde jetzt durch einen andern Gegenstand in Anspruch genommen. Alisette trat ein. Gleich einer Frühlingsgöttin schwebte sie über die Schwelle des Gemachs, denn sie trug einen ganzen Busch junger Rosen in der Hand, deren sie eine vorgesteckt hatte. Freundlich grüßend streifte sie an den Männern vorüber und ging mit leichten Schritten auf die Gräfin zu, welche, ernst sinnend in Gedanken verloren, die Annäherung dieser lieblichen Flora nicht bemerkt hatte. Auch Rasinski erblickte sie erst, als sie schon dicht vor ihm stand, und sprang höflich und ein wenig betroffen auf, um sie als eine Fremde zu begrüßen. »Da bin ich,« sprach sie wohllautend und verneigte sich mit Grazie; »darf aber das Schweizermädchen auch in so vornehmem Kreise erscheinen?«

»Willkommen, willkommen,« erwiderte die überraschte Frau des Hauses; »und welch eine Fülle der Gaben bringt meine holde Sirene mit!« rief sie, als sie den vollen Strauß duftender Rosen erblickte; »mein ganzer Garten hat noch keine Knospe aufzuweisen, aber in Ihrer Hand blüht schon der ganze Rosenmonat!«

»Es ist eine Galanterie, welche ich, ich weiß nicht wem zu danken habe«, entgegnete Alisette. »Ich befand mich noch in der Garderobe und war eben mit dem Umkleiden beschäftigt, als es anpochte. Konstanze, meine Jungfer, öffnete die Tür zu einer kleinen Spalte und fragte, wer da sei. Statt der Antwort reichte eine unbekannte Hand mir diesen herrlichen Strauß hinein. Es ist eigentlich grausam, nicht wahr, so viele schöne Rosen einem so schnellen Tode zu weihen ? Alle Blumenstöcke in Warschau muß der unbekannte, freigebige Freund geplündert haben, denn sie sind noch selten und im Freien blüht gewiß noch keine einzige.«

»Glücklich diejenigen, welchen eine so holde Bestimmung ward«, sprach Rasinski artig. Erst jetzt blickte Françoise ihn an und war überrascht, einen Fremden zu sehen. »Mein Bruder«, stellte die Gräfin ihn vor und machte ihn mit ihr dadurch bekannt, daß sie gleich von dem unbeschreiblichen Genuß erzählte, welchen Alisettens Kunst diesen Abend allen bereitet habe. Diese schien sehr glücklich zu sein, daß sie eine solche Anerkennung fand, wehrte aber mit bescheidenen Worten und Mienen alle Lobsprüche ab. Dann nahm sie mutwillig die Rosen und rief: »Ich muß dankbar sein für soviel Güte. Soviel Huldigungen, soviel Rosen! Hier, hier.« Und damit überreichte sie jedem mit scherzender Freundlichkeit eine Rose; Regnard aber erhielt keine. »Sie haben mich nicht gelobt, Ihnen gebe ich auch keine Blume. Dafür sollen Sie zwei haben«, wandte sie sich zu Jaromir und gab ihm die beiden schönsten des ganzen Straußes. Ohne seinen betroffenen Dank abzuwarten, kehrte sie mit leeren Händen zur Gräfin zurück, welche sie scherzhaft drohend mit den Worten empfing: »Verschwenderin! so gehen Sie mit den Gaben Ihres Verehrers um? Wenn er nun hier wäre?« Dabei warf sie einen Blick auf Regnard.

»Möchte er doch, so würde er sehen, daß sein Geschenk mir die größte Freude gemacht hat. Tausendmal mehr, als wenn ich es in einem Glase auf meiner Toilette traurig verwelken sähe. Und um mir eine Freude zu machen, hat er es mir doch hoffentlich geschenkt.«

Lodoiska war still, gleich einer Erscheinung in den Saal getreten und stand unvermutet neben der Gräfin. »Ach, da sind Sie ja,« rief Alisette aus und näherte sich ihr begrüßend; »wie, und Sie sollten keine Rose haben, und haben mich doch am allerschönsten gelobt? Oder glauben Sie, ich hätte Ihre Tränen nicht gesehen? Wenn ich Sie anblickte, war es mir, als sähe ich in einen Spiegel, dessen reiner Kristall mir die unverhüllte Wahrheit zeigte. Wenn meine Töne Sie zu Tränen oder zum Lächeln bewegten, dann wußte ich, daß sie wahrhaft zum Herzen drangen. Und Ihnen sollte ich nicht einmal eine Rose zum Dank geben können! Aber hier ist ja noch eine«, sprach sie freudig und blickte auf die herab, welche in dem Gürtel ihres Kleides, an ihrer Brust blühte. Sie nahm sie und wollte sie an Lodoiskas Busen befestigen; doch diese widerstrebte, freundlich aber dringend ablehnend.

Es war in der Tat ein anmutiges Schauspiel, diesen kleinen Kampf der beiden schönen Mädchen zu sehen. Alisette, in ihrem weißen, schleierartigen Gewande ein Bild des Frühlings, der jugendlichen Hebe; Lodoiska, im dunkeln seidenen Kleide ernst und doch freundlich. Auf Alisettens Wangen und Lippen das blühendste Rot, in dem blauen Auge die Freude selbst; flatterndes, leicht gelocktes braunes Haar. Jene der Lilie gleich, nur einen zarten, rosigen Hauch auf der Wange, das Auge ernst, sanft, groß, die Marmorstirn und der edle, blendend weiße Nacken von reicher Fülle des schwarzen Haares umschattet; weiblich, edel in der Haltung; lieblich, schüchtern in den zurückweisenden Bewegungen; Alisette stets in reizender Beweglichkeit, sie leicht umschwebend, schmeichelnd, anschmiegend, bittend.

Endlich gelang es ihr, die Rose in dem goldenen Gürtelbande zu befestigen, welches das Kleid umschloß, und die zarte Blüte schimmerte reizend auf dem dunkelgrauen Grunde des Gewandes. »Nun bin ich zufrieden, nun bin ich glücklich«, rief Françoise aus, als sie gesiegt hatte. »Nun erst scheint mir die Rose schön; ich verdiene sie gar nicht.« Bei diesen letzten Worten bemerkte Bernhard einen Anflug von Schwermut in den heitern Zügen des Mädchens; es schien, als fühle sie reuig, daß in ihren letzten Worten eine bittere Wahrheit für sie enthalten sei.

Sollte sie wirklich eine schöne Magdalena sein, für welche die Zeit der Buße noch nicht gekommen ist? dachte er bei sich und beschloß seine prüfenden Beobachtungen fortzusetzen. Als daher jetzt die Flügeltüren des Speisesaals geöffnet wurden, trat er zu ihr heran und bot ihr wie vor drei Tagen den Arm. Sie nahm ihn mit einem freundlichen Blick an und sprach: »Sie haben nicht Wort gehalten, in vielen Dingen nicht. Sie wollten mir für jedes Lied eine Zeichnung schenken, mich Ihr Reisezeichenbuch sehen lassen, mich sogar selbst malen! Aber alles das haben Sie vergessen, ja mich nicht einmal besucht, da wir doch Nachbarn sind. Nun, es ist wenigstens etwas, daß Sie doch jetzt an mich denken und bei Tische neben mir sitzen wollen.«

Bernhard erwiderte diese scherzhaften Vorwürfe durch eine Erneuerung seiner Versprechungen; man ging zu Tische und er nahm mit Vergnügen an der Seite der liebenswürdigen Nachbarin Platz. Boleslaw saß auf der einen Seite neben Lodoiska, Jaromir auf der andern. Teils aus wohlwollender Höflichkeit, aber auch weil die Gräfin ihr einen Wink gegeben, sich nicht zu verraten und dem spähenden Auge Regnards oder der feinen Beobachtungsgabe Alisettens eine Blöße zu bieten, wandte sich Lodoiska viel zu Boleslaw, mit dem sie als ihrem Landsmanne und, wenngleich entferntern, Jugendbekannten gleichfalls viele Berührungspunkte hatte.

Ludwig bemerkte, wie warm der ernste Jüngling wurde, welch ein mildes Feuer in seinem Auge glühte. Sollte ihm, dachte er, die schöne Nachbarin gefährlich werden? Er sah es mit Besorgnis, denn sein richtiges Urteil sagte ihm, daß eine Flamme in Boleslaws Brust nicht flüchtig auflodern und erlöschen könne. Zündete der Funke, so brannte die Glut im tiefsten Innern und dauernd fort. Gern hätte er ihn gewarnt; allein es war nicht möglich, und er hatte überdies Jaromir sein Versprechen des Schweigens gegeben. Und würde es gefruchtet haben? Wenn Boleslaw in diesem schönen Wesen das fand, was seine ernste Seele ganz erfüllen konnte, wenn die Macht der Liebe sich schnell und göttlich in ihm entzünden sollte, hätte es das Wissen von den sanften Fesseln, die schon den Freund umfangen hielten, geändert? Nein, nur mit tiefern Schmerzen wäre der glühende Pfeil in die Seele des Unglücklichen gedrungen. So blieb ihm mindestens die flüchtig verrauschende Minute eines schönen Traums, das Glück einer süßen Ahnung. Was hier nach ewigen, geheimen Gesetzen erfolgt, hindert niemand; drum bleibe es dem Allmächtigen und Allgütigen anheimgestellt.


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