Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Siebentes Kapitel.

Die Oper, von der Regnard gesprochen hatte, sollte den Abend gegeben werden. Weder aus dem Titel des Stücks noch aus den Personen, welche der Zettel benannte, vermochte Ludwig zu erkennen, von wem es sei, und den Komponisten hatte man gar nicht genannt. Er war daher sehr begierig, die Musik zu hören, um so mehr, als Françoise der Gräfin erzählt hatte, sie sei unbeschreiblich reizend und fast noch nie habe eine Rolle ihr so zugesagt. Um sieben Uhr fuhr man ins Theater; die Gräfin, Lodoiska, Regnard und unsere drei jungen Freunde befanden sich in einer Loge. Mit Wohlbehagen ließ Bernhard seine Blicke über die Reihe der schönen Frauen und Mädchen hinschweifen, welche den ersten Rang der Loge zierten. »Wahrlich,« rief er und stieß Ludwig an, »niemals sah ich ein Theater mit einer so reizenden Blumengirlande verziert als dieses. In Drurylane, im Kings-Theater, im Vauxhall fand ich die Logen anmutig genug besetzt; die Engländerinnen sind unwiderstehlich in ihrer feinen Haltung, in der Eleganz ihrer geschmackvollen Kleidung, in dem sanften jungfräulichen Ausdruck des blauen Auges; aber bei St. Lukas, dem Schutzpatron aller Maler, ich beteuere dir, sie sind nur unechte böhmische Steine gegen die Diamanten vom reinsten Wasser, die man hier glänzen sieht.«

»Lodoiska ist dennoch bei weitem die schönste,« antwortete Ludwig leise, »obwohl ich dir recht geben muß, daß ich niemals einen so reichen Kreis schöner weiblicher Gestalten sah.«

»Die schönste ist sie nicht, das darfst du einem Professionisten, wie ich bin, schon glauben,« bemerkte Bernhard entgegen; »aber sie ist die reizendste, die holdeste, die lieblichste von allen. Wenn sich alle die schönen Büsten, die hier über den Logenrand sehen, in marmorne verwandelten, so würde manche edler in den Formen erscheinen, ja ich stehe nicht dafür, daß die Gräfin selbst sie nicht verdunkelte. Ein anderes wäre es freilich wenn wir diese sämtlichen Bildnisse auf der Leinwand hätten, wo das zauberische Spiel der Farben und des Blicks eine Art Regenbogenschimmer über den reinen Himmel des Angesichts wirft. Dann gäbe ich dir's zu, daß Lodoiska die Frühlingsrose, die schlanke, zarte Lilie, das bescheidene Veilchen, kurz jedes Reizende zugleich und die lieblichste Blüte auf diesem ganzen vollen Blumenbeet sei.«

Die beginnende Ouvertüre unterbrach das Gespräch; Ludwig erkannte am ersten Ton, daß es keine andere Oper als die »Schweizerfamilie« sei, die man hören werde. Er lächelte ein wenig über den großen Enthusiasmus, mit dem der Oberst von dem Werke gesprochen hatte; doch begriff er, daß Alisette als Emmeline, welche auf dem Zettel den Schäfernamen Dorina bekommen hatte, eine sehr liebliche Erscheinung sein müsse. Und so war es auch. Die einleitenden Szenen gingen, noch dazu mittelmäßig dargestellt, ohne besondern Eindruck vorüber. Allein schon das erste Auftreten Alisettens nahm das Interesse im höchsten Grade in Anspruch. Sie hatte den Charakter ganz eigentümlich aufgefaßt, nämlich ihn aus den bestimmten Formen und Farben schweizerischer Volkstümlichkeit in ein halb ideales Gebiet übergetragen, ohne jedoch die charakteristische Besonderheit ganz daraus zu verbannen. In ihrer Kleidung hatte sie zwar einige Andeutungen der Schweizertracht beibehalten, allein dieselbe auf eigentümliche Weise hier und da geändert. Das Haar trug sie in freien Locken, nur mit wenigen Bändern lose geknüpft, deren eines, von dunkler Farbe, die freie weiße Stirn begrenzte; Hals, Brust und Nacken waren nicht so tief verhüllt wie in der wirklichen Volkstracht, obwohl sie das zierliche schwarze Mieder beibehalten hatte. Das Gewand dagegen fiel ihr, sittsamer als gewöhnlich, bis tief auf die Knöchel herunter, auch war es nicht so gebauscht, sondern zeigte,die Gestalt ungleich vorteilhafter. Mit großem Geschick wußte sie dennoch den zierlichen Fuß, den sie in saubere Zwickelstrümpfe gekleidet und in einen enganschließenden Schuh gelegt hatte, immer aufs vorteilhafteste zu zeigen, wodurch ihr Gang, ihr Stehen und Bewegen etwas sehr Anmutiges erhielt. Sie glich halb einer Schweizerin, halb einer Schäferin, wie die Idylle sie uns zeigt, und hatte auf diese Weise sehr glücklich die Forderungen volkstümlicher Charakteristik mit denen der idealisierenden Kunst ausgeglichen. Als sie die ersten Klänge ihrer lieblichen Stimme vernehmen ließ, erstaunte Ludwig, wie dies scheinbar so zarte Organ die Räume des ganzen, nicht kleinen Hauses so mit Wohllaut zu erfüllen vermochte. Von dem leisesten Anhauchen der Töne bis zum süßen, vollen Anschwellen derselben war der Klang in seiner silbernen Klarheit überall zu vernehmen; man fühlte niemals einen Mangel, sondern für das Zarteste wie für den heftigsten Ausdruck der Leidenschaft fand die bezaubernde Darstellerin immer das richtige Maß. Und da sie überdies den ganzen Körper in allen Bewegungen, bis zu dem leisesten Spiel der Mienen und Blicke, ganz mit der Seele des Tones erfüllte, so mußte das holdselige Bild, welches sie hinstellte, jedes Herz mächtig fesseln. Lodoiska zerfloß schon im ersten Akt fast in Tränen. Bei den Worten: »Wer hörte wohl jemals mich klagen!« in welchen Alisette gewissermaßen die Todesangst gewaltsamer Freude ausdrückte, während ihr Auge doch einen so unnennbar schmerzlichen Blick gen Himmel warf, daß man fühlte, wie ihr Herz brechen wolle in der Qual dieser Lust – bei diesen Worten, wo der Widerspruch des Wortsinnes mit der Empfindung einen so zerreißenden Eindruck hervorbringt, griff das erschütterte Mädchen unwillkürlich mit der Hand nach dem Herzen, als wolle sie dessen Beklemmungen lindern. Während zwei große Tränen wie Sterne an dem dunkeln Himmel ihres Auges aufgingen, zitterte ihre Brust unter einem leisen, verhaltenen Seufzer; sie war so von Mitgefühl bewegt, daß sie den Schmerz, welchen Alisette so täuschend darstellte, fast selbst empfand. Oder war es eine weissagende Stimme, die sich dunkel in ihrer Brust vernehmen ließ? War es eine wunderbare Ahnung, durch die Nähe derjenigen hervorgerufen, welche einen feindseligen Einfluß auf die Gestirne ihres Lebens zu üben drohte? Sah sie schon das schwarze Haupt der Natter, die sich noch unter duftenden Rosen verbarg?

Jaromir, dessen frisch lebendiges Gemüt durch jeden Eindruck rasch gefesselt wurde, war ganz Auge und Ohr. Gleich einer bezaubernden Armide wußte Alisette sein Herz zu leiten; Bernhard glaubte in der Tat zu bemerken, daß sie Spiel und Blicke häufig, wie schon am ersten Abende, gegen den schönen Jüngling richte. Doch war er selbst durch die holde Kunst des Mädchens so süß umsponnen, daß sogar er, dessen freier Blick selten beschränkt wurde, nicht Ruhe genug zur scharfen kalten Beobachtung behielt. Ging es doch allen versammelten Hörern und Zuschauern nicht besser; Alisette schien durch den Wink ihres Auges jede Brust zu beherrschen; unwiderstehlich hob sie das Herz aus der Tiefe der Schmerzen auf den Wellengipfel der Freude und ließ es ebenso schnell sinken als steigen.

Nach dem Schlusse des Akts verließ Regnard die Loge; Bernhard, der ihn mit Argusaugen verfolgte, sah, daß er auf die Bühne ging. Es wurde ihm immer unzweifelhafter, daß zwischen Alisetten und dem Obersten eine sehr nahe Verbindung bestand, doch war es ihm fast gewiß, daß Alisettens Herz wenig Anteil daran hatte.

Jaromir wandte sich zu Lodoiska und fragte sie: »Ist das nicht unbeschreiblich schön?«

»Aber auch unbeschreiblich beängstigend«, antwortete diese und schöpfte tief Atem.

Ludwig, der einzige, der die Oper kannte und Kunstbildung genug besaß, um die hinreißende Darstellung nicht mit dem Werte des Werkes zu verwechseln, sprach sich mehr beurteilend als bewundernd gegen die Gräfin aus. Diese, durch ihre Jahre schon über die Macht unmittelbarer Gefühlseindrücke hinaus, hörte ihm gern zu, wie sie denn überhaupt seinem verständig ernsten Wesen einen großen Anteil schenkte. Auch Lodoiska ließ sich gern aus ihrer gereizten, fast beklemmenden Stimmung in die des ruhigern Genießens hinüberleiten und war nicht erzürnt, als Ludwig ihr durch sein besonnenes Urteil manche Täuschung über die Schönheit des Kunstwerks nahm. Nur Jaromir zeigte sich fast unwillig, daß an dem, was seine junge Brust so mächtig ergriffen hatte, irgend etwas Mangelhaftes oder gar Unschönes haften sollte. Er hatte bis jetzt der Kunst so entfernt gestanden, sich so vielfach mit den rauhen Stoffen des äußerlichsten Lebens umhergeschlagen, daß diese ersten Strahlen und Klänge aus einer ihm noch unbekannten schönern Welt ihm natürlich als etwas erscheinen mußten, das durch nichts übertroffen werden könne.

Der zweite Akt begann, und schon dieser zeigte dem Unerfahrenen, daß er noch lange nicht an der Grenze des Erreichbaren gestanden hatte, denn der Anteil steigerte sich bedeutend. Vollends aber der Schluß des Werkes, mit seiner tiefen Wehmut der Freude, seinem weinenden Jubel, drohte die jungen liebenden Herzen fast zu überfluten durch die wogende Aufregung aller Gefühle. Alisette war aber auch so schön, so rührend, so verklärt in der Freude, daß sie selbst für den bewußt genießenden Ludwig das Kunstwerk aus den niedern Regionen, in welchen es mit seinen weichlich matten Flügeln schwebt, in eine reine Höhe frischer, göttlich erquickender Lüfte hob, wo es freie Fittiche im Sonnenglanze entfaltete.

Lodoiska war bis in die tiefste Seele bewegt, aber nicht beseligend; unklar, aber ebendeshalb durch unheimliche, gestaltlose Gegenwart ängstigend, regte sich das bange Gefühl in ihr, als vermöge sie nicht mit dieser mächtigen Zauberin, welche sie selbst so wider Willen hinriß, in den Kampf zu treten. Wie sollte sie den Geliebten fesseln, wenn jene ihre lockenden Netze ausbreitete, ihre süß verführende Stimme ertönen ließ, die weichen, zarten Arme öffnete? Sie dachte dies zwar nicht bestimmt, allein das demütigende Gefühl der Armut und Schwäche, welches edlere Seelen so leicht bei großen Bewegungen des Lebens oder der Kunst ergreift, weil sie ihren eigenen hohen Wert verkennen, drang in ihre Brust. Wer bin ich, dachte sie, um mit meiner Liebe das Dasein des Freundes zu erfüllen in einer Welt, die so unendlich Schöneres bietet? O du Holde, verkanntest du es denn, daß ein lauteres Herz der reinste Demant ist, um das eigene und das fremde Leben zu schmücken? Nur der Verblendete geht achtlos an diesem Kleinod vorüber, nur der Betörte wirft es von sich. Doch wie vielen legt ein zürnender Gott die düstere Binde über das Auge, daß sie im ewigen Dunkel durch das Leben irren und das Heil nicht finden, wenn es die offenen Arme vor ihnen ausbreitet!


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