Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Sechzehntes Buch.

Erstes Kapitel.

Zwei Monden waren verflossen. Der furchtbare Sturm, der so viele Lebensgeschicke in ihren tiefsten Tiefen erschüttert hatte, war endlich vorüber. Also auch dieses Maß des Duldens und der Drangsale konnte erschöpft werden! Die finstern Gewölke verzogen sich, der Himmel lächelte milder, das Herz vermochte wieder an eine gnadenreiche Vorsehung zu glauben.

Ludwig und Bernhard hatten mit Bianka und Marie Königsberg erreicht und dort endlich einen sichern Aufenthalt, den die Schrecken des Krieges nicht störten, gefunden. Diese Zeit hatte ihren erschöpften Körper gestärkt und begann auch die blutenden Wunden der Seele zu heilen.

Die Gräfin war, durch Biankas Vermittlung unter sichern Schutz gestellt, mit Lodoiska nach Warschau gegangen. Der Schmerz um das Geschick dieser Unglückseligen, die Sorge und Teilnahme für Rasinski, der sich unermüdlich weitertreiben ließ auf den Wellen des Krieges, waren die einzigen Schatten der Trauer, welche in das stille, glückliche Leben der Geschwister fielen, die das Schicksal auf so wunderbaren Wegen geführt und behütet hatte.

Welch eine Zeit der süßesten Mitteilungen, wenngleich mit den wehmütigsten Erinnerungen gemischt, lebten Ludwig und Marie jetzt miteinander! In den ersten Stunden ihres Wiedersehens wurden sie von den Stürmen gewaltiger Ereignisse so umbraust, daß das Herz keine Muße fand, sich dem sanften Glück der Betrachtung zu weihen. Jetzt in den langen Winterabenden, wo ein trauliches Gemach vier treue, schöne Seelen vereinte, wurden alle Sorgen und Qualen ihnen süß belohnt. Ihr Gespräch weilte gern bei der Vergangenheit, denn schon warf die aufsteigende Sonne der Zukunft rosige Strahlen auf die fliehenden Tage zurück; ja selbst bei dem Grabe der Mutter weilten die Gedanken der Geschwister gern, wenngleich eine heilige Wehmut sie bei der Erinnerung an dieses sanfte Herz, diese milde Hand, welche die Tage ihrer Jugend so treu geleitet hatte, durchdrang.

Mit gerührter Freude sah Ludwig die Freundschaft zwischen Bianka und Marie blühen und wachsen; mit noch tieferm Gefühl des Dankes gewahrte er, daß Mariens schwesterliche Teilnahme für Bernhard mit jedem Tage, wo sein edles großes Herz sich ihr weiter öffnete, wärmer und inniger wurde. In Bernhard war eine ernste Umwandlung vorgegangen. Es wurde allmählich ruhiger und klarer in ihm. Wie edler Wein läuterte sich die stürmische Glut der Gärung zu einem klaren, dauernden Feuer. Schon die furchtbaren Kämpfe hatten die überströmende Fülle herber Kraft gemildert und eine ernstere Ruhe der Betrachtung in sein Herz gesenkt. Doch noch tiefer drang jetzt der reine Strahl der Liebe in seine wogende, ungebändigte Brust ein, und ihre Wellen ebneten sich, als trügen sie Scheu, das heilige Bild seiner Verehrung getrübt zurückzuwerfen. Die besänftigende Macht, mit der früher schon Biankas schwesterliche Nähe auf ihn wirkte, übte Marie jetzt in höherm Maße. So tief und schmerzlich die Glut in ihm brannte, er beherrschte sie männlich, als suche er Mariens Liebe durch seine Beherrschung und Entsagung zu verdienen. Er hatte in das innerste Heiligtum ihrer Seele geblickt, und wie der Edle den Edlen leicht errät und versteht, so ahnte auch er alle die Kämpfe, die sie bestanden, und begriff, weshalb sie gekämpft. Ihre vaterländische Begeisterung, die jetzt in neuen, schönen Hoffnungen auflebte, kannte er und wußte, welche Opfer sie ihr zu bringen vermochte. Hoffnungen für seine Liebe wagte er nur entfernt zu nähren, doch er hatte die Gewißheit ihrer wärmsten Freundschaft und darum wollte er jetzt nicht weiter in sie dringen; denn er ehrte den Schmerz der noch immer stillblutenden Wunden ihrer Seele, die, durch die heilende Kraft der Entsagung kaum geschlossen, von der Hand des Schicksals jüngst so grausam wieder aufgerissen waren. Sie dankte ihm diese großmütige Zurückhaltung mit innerster Rührung, denn ihr war nicht verborgen, mit welchem Kampf er sie errang.

Je ehrfurchtsvoller daher Bernhard zurücktrat, je näher mußte sich Marie zn ihm gezogen, je heiliger ihm verpflichtet fühlen. Vielleicht hatte sie es nicht über sich vermocht, seiner heißesten Bitte ihr Herz zu gewähren; doch da er still und streng entsagte, wandte sie es ihm selbst darbringend näher und inniger zu, und mit jedem Augenblick fühlte sie die Pflicht stärker, dessen Glück hingebend zu gründen, der es ihr so männlich edel zu opfern vermochte. Je mehr ihr die Liebe Pflicht wurde, je mehr wurde ihr die Pflicht Liebe. So entfaltete sich die reine schönste Blüte edler Neigung im warmen, milden Strahl der Dankbarkeit und höchsten Achtung. Nur noch der leise, zartgewebte Schleier ihrer jungfräulichen Scheu und seiner heiligen Ehrfurcht verhüllte den liebenden Herzen das süßeste Geheimnis. Er wagte die Blüte nicht zu berühren, die sie ihm mit schüchtern gesenktem Kelch entgegenneigte. In diesem schwebenden bangen Glück weilten jetzt ihre Herzen; doch still und unbemerkt zeitigt sich die köstlichste Frucht, und prangt sie in vollendeter Fülle, so fällt sie, eine reine Gabe des Himmels, beim leisesten Hauch günstiger Liebe wie von selbst in den offenen Schoß herab. Die Saaten der Weltgeschichte reiften der Sichel golden entgegen; in derselben Sonne füllte sich die Purpurrose der Liebe.

Schon regte es sich mächtig in allen deutschen Herzen; man fühlte den ehernen Druck des Joches, das so lange auf dem Nacken gelastet hatte, einen Augenblick gelüftet, und stolz und frei und hoffnungsgroß atmete die Brust auf.

Eines Abends, als die Geschwister im trauten Verein beisammensaßen, pochte es bei später Weile an die Tür. Sie öffnete sich auf Ludwigs Ruf. Arnheim trat ein. Ein Erröten und Erblassen überflog Mariens Wangen, als sie ihn erblickte. In diesem Augenblicke ahnte sie aus dem Unterschiede ihrer Gesinnung gegen ihn und gegen Bernhard ihre Liebe zu diesem. Der Kommende ging ihr, als der einzigen, die er in diesem Kreise kannte, grüßend näher und redete sie an: »Kaum traute ich meinen Augen, als ich Sie diesen Nachmittag in der Dämmerung hier am Fenster erblickte; ich erfuhr bald, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Erlauben Sie, daß ich meinen kühnen Besuch durch eine freudige Nachricht entschuldige, die ich gerade Ihnen so schnell als möglich zu verkünden mich verpflichtet fühlte.«

»Seien Sie in jedem Falle willkommen geheißen,« erwiderte Marie, »und doppelt willkommen, wenn Sie eine freudige Kunde für unser Vaterland bringen.« Hierauf machte sie ihn mit ihrem Bruder, mit Bianka und Bernhard bekannt.

»Sie erinnern sich, daß ich Ihnen schon in Warschau von einem geheimen vaterländischen Bündnis erzählte,« begann Arnheim; »jetzt ist es Zeit, freier davon zu sprechen, denn die Stunde, wo es Früchte tragen soll, ist gekommen. Deutschland wird aufstehen in seiner Kraft; das ganze Volk soll zu den Waffen gerufen werden. Preußen schreitet mächtig voran. Mein Vaterland ist noch durch andere, hinterlistig geknüpfte politische Bande gekettet; doch es ist Hoffnung da, daß auch Österreich sie gewaltsam zerreiße. Bis dahin, wo es als Freies und Ganzes auftreten will, begnügt es sich, die Gesinnung der einzelnen für die heilige Sache zu entflammen und ihre Entschlüsse zu unterstützen. So bin ich seit einigen Wochen bereits aus dem Dienst meines Kaisers in den des Königs von Preußen getreten. Die Führer unsers Bundes hatten schon seit längerer Zeit die Weisung erhalten, auf einen entscheidenden Schritt des Königs vorbereitet zu sein. Heute, vor einer Stunde ist endlich die sehnlich erwartete Nachricht eingetroffen, daß er geschehen ist. Preußens König redet mächtig zu seinem Volk; er ruft es herbei zum Kampfe für das Heiligtum des Herdes, des Vaterlandes, der Freiheit. Ein heiliger Krieg entflammt sich, wo die Völker ihre teuersten, so lange mißkannten Rechte mit ihrem Blute wiedererringen werden; ein Krieg, der den Fallenden die Palme des Märtyrers, den Siegern die des ewigen Ruhmes reicht! So wird denn unser Vaterland endlich erlöst werden aus den Ketten der Schmach und des Elends! Diese stolze Freude hebt meine Brust und läßt mich, was ich an eigenem Schmerz zu tragen habe, über das große Glück des Ganzen vergessen.« Er warf bei diesen letzten Worten einen bedeutsamen Blick auf Marien, den diese nur zu wohl verstand. »Sie,« fuhr er zu ihr gewendet fort, »habe ich als eine solche Tochter des Vaterlandes kennen gelernt, daß ich es, lächeln Sie nur, für eine heilbedeutende Fügung des Himmels hielt, Sie gerade in diesem Augenblick unvermutet wiederzufinden, wo ich Ihnen eine solche Botschaft bringen konnte.«

»O nehmen Sie meinen innigsten Dank«, erwiderte Marie gerührt, und ein lichter Freudenglanz verklärte ihr Auge. »Welch eine Morgenröte lassen Ihre Worte an dem düstern Himmel unsers Vaterlandes anbrechen!«

»Und eine herrliche Sonne wird schimmernd aufgehen«, rief Ludwig begeistert aus. »Jetzt, jetzt erst kommen die Tage, wo ich frei und glücklich atme! Selbst meine Liebe blüht erst voll und duftend in diesem neuen Licht! O Bianka, bisher warst du eine Blüte, deren Duft eine süße Frühlingsahnung in einen dunkeln, beängstigenden Kerker trug. Jetzt trifft uns der zitternde Morgenstrahl! Er fällt auf mein Herz wie auf Memnons Säule, daß es von wunderbaren Himmelsklängen tönt. Frische Lüfte umspielen Brust und Scheitel – der schwere Vorhang des Gewölkes zerreißt, und im Morgenglanz der Freiheit liegt die reiche Frühlingsflur, strahlend in der Perlenhülle des klarsten Himmelstaues! O Bianka, welche Tage brechen für uns an!«

Bernhard hatte ernst, aber tief durchglüht und erwärmt Arnheims Botschaft vernommen. »Ich trete in die Reihen der Kämpfer«, sprach er mit unwiderruflicher Entschlossenheit und reichte Arnheim die Hand. – »Und ich fechte an deiner Seite«, rief Ludwig feurig. »Jetzt werden wir erst erfahren, mit welchem Gefühl ein Mann die Donner der Schlacht um sich rollen hört! O! nun segne ich das Jahr der Duldung, das wir überstanden; denn es war unsere strenge, lehrreiche Schule. Doppelt kann ich jetzt das Unrecht vergüten, das ich wider Willen dem Vaterlande zugefügt. Gehärtet in dem furchtbaren Kampfe, der hinter uns liegt, wiegen wir das Dreifache für den, welchen die Zukunft uns bereitet. Nicht mehr Neulinge, erprobte Männer, gestählt in Gefahren und Drangsalen, wissen wir jetzt unser Schwert zu führen. O wahrlich, Schwester, du sprachst wahr, der Rosenglanz des Morgenrots bricht durch die tiefste Nacht!«

Bernhard ging, während Ludwig sich seiner freien Begeisterung überließ, unruhig und gedankenvoll auf und nieder. »Ich fühle, was geschehen muß,« begann er endlich, »und ein edles Gefühl hebt auch meine Brust. Aber Freude kann ich es nicht nennen. Taten wir unrecht, an dem Kampfe dieses Jahres teilzunehmen, war es unsere höhere Pflicht, das Haupt auf den Block zu legen und als wehrlose Opfer der Arglist zu fallen, so trifft uns jetzt auch die Nemesis. Und sie trifft schwer!«

Marie ahnte die Gedanken, die sich in Bernhards Brust bewegten. Ludwig aber erwiderte: »Ich verstehe dich nicht, Bernhard; welche Nemesis siehst du in den Fügungen, die ich für die gnadenreichsten des Himmels halte?«

»Auch ich halte sie dafür; doch haftet nicht für uns beide ein schweres Geschick daran? Deine schöne Begeisterung, Ludwig, hat dich in trunkener Freude hingerissen. So muß ich dir sagen, was ich sonst von dir, der du immer besser gewesen, edler empfunden als ich, gehört hätte?« – »Vollende nicht,« unterbrach ihn Ludwig schnell; »ich weiß, was du sagen willst. Gewiß, dies Opfer wird schwer; es ist der Ring des Polykrates, den wir ins Meer werfen müssen.« – »Ich verstehe euch beide,« sprach Marie mit tiefer Rührung; »aber es muß sein, es muß, so bitter es ist. Und Rasinski wird der erste sein, der euern Entschluß anerkennt. Selbst groß gesinnt, empfindet er auch jedes Große wahr und unverfälscht; aber frei, offen müßt ihr vor ihn treten. Durch niemand anders als durch euch erfahre er, daß ein Tag kommen kann, wo ihr feindlich gerüstet einander gegenübersteht.«

»So sei es,« sprach Bernhard schnell; »wir schreiben ihm, sobald es entschieden ist, was wir tun.« – »Das kann schnell geschehen sein,« fiel Arnheim ein; »der Gang, der Sie zu Kämpfern für Deutschlands Freiheit machen soll, ist noch in dieser Stunde möglich.«

»So gehen wir, denn es gibt keinen Grund des Säumens mehr für uns«, erwiderte Bernhard entschlossen. Sie gingen. – –

Am nächsten Morgen enthielten die Zeitungen den Aufruf des Königs an sein Volk, den Aufruf vom dritten Februar des Jahres Eintausendachthundertunddreizehn. Der Sturm der Begeisterung wehte durch alle Herzen. Mit lautem Siegesruf strömten die deutschen Männer herbei zu den wehenden Bannern der auferstehenden Freiheit; Tränen der Freude glänzten in den Augen deutscher Jungfrauen, und ihre sanfte Brust hob sich stolz im vaterländischen Bewußtsein. Freudig sah die Mutter den Sohn, die Schwester den Bruder, die Braut den Geliebten dahinziehen; jede bange Träne zerrann in dem stolzwogenden Meer erhabener Freude, dessen Wellen im rosigen Morgenschein der Hoffnung leuchteten. O schöne Zeit, o golden strahlende Aurora der Freiheit, die einen ewig heitern Frühlingshimmel über Deutschlands Fluren zu wölben versprach!

Bernhard und Ludwig waren in das Heer eingetreten; der nächste Morgen schon erblickte sie neu in Waffen. Doch herrschte eine düstere Beklemmung in ihrer Brust, denn zu schwer lastete das Verhängnis auf ihnen, das sie zwang, von nun an dem edelsten Freunde, dem Retter und Beschirmer ihrer Tage als Feinde gegenüberzutreten und die Waffen gegen sein verehrtes Haupt zu führen. Nicht eher konnte diese düstere Stimmung weichen, bis es rein zwischen ihnen und Rasinski geworden war. Daher nutzten sie die erste Stunde der Muße nach ihrem Entschlüsse, um ihn selbst damit bekannt zu machen. Ludwig schrieb ihm:

»Teuerster Freund! An Dein edles, großfühlendes Herz richte ich diese Worte. Der Strom der Weltgeschicke, der auf wild gehobenen Wellen mich zu Dir trug und meine Tage Deinem Schutz anvertraute, hat uns jetzt weit auseinander gerissen. Doch er trennt uns nicht nur, sondern er treibt mich Dir sogar feindlich entgegen. Noch ehe ich das Wort erkläre, weiß ich, hast Du es verstanden. Die Völker treten in einen furchtbaren Kampf; der einzelne kann sich nicht von der heiligen Sache des Vaterlandes lossagen; doch bluten darf sein Herz unter der grausamen Pflicht. Du hast den Schiffbrüchigen, der verloren auf stürmenden Wellen trieb, an Bord genommen und gerettet an den sichern Strand der Heimat geführt. Und jetzt soll er, den stolzen Segeln der vaterländischen Flotte folgend, das Verderben dahin senden, wo er Rettung fand! Freund, der Du mich kennst, der Du meine Liebe tausendfach geprüft, frage Dich, ob ich undankbar sein kann. Ich weiß und vertraue mit heilig unerschütterlichem Glauben darauf, Du werdest mir vergeben, unsere Freundschaft werde selbst dieser Sturm der Geschicke nicht trennen. Gewaffnet sollen wir einander entgegentreten, aber in der ganzen Schar meiner heimatlichen Brüder wird mein Herz für kein so teueres Leben zittern als für das, was höhere Gesetze mich feindlich zu bekämpfen zwingen. Das Gebet der Unsern sei unser Schutzengel; Bianka und Marie werden, wenn die Donner der Schlacht ertönen, ihre reine Hand flehend erheben, daß der Allgütige uns das Äußerste erspare. Durch das finstere Dunkel des dampfenden Schlachtgewölks glänzt mir ein holder Stern, der Stern des Friedens. Auch diese Stürme werden austoben, welche die Geschicke der Menschheit in ihren tiefsten Tiefen aufwühlten; endlich muß der donnernde Vulkan, der Europas Grundfesten in bebende Erschütterung setzt, erlöschen, und die blutigen Lavaflüsse werden stehen, die brausenden Ströme der Völker, die jetzt kämpfend gegeneinander wogen, in ihr altes, friedliches Bett zurückkehren. Dann, Rasinski, wenn die schönen Ufer der Erde sich wieder in ruhigen Fluten spiegeln, wenn der Himmel neu erheitert lacht, wenn der erschöpfte Mars in ferner Höhle den Schlaf sucht und der Themis das Schwert läßt, daß sie die Gebiete der Völker mit schlichtender Hand neu abmesse und ihre Rechte mit strenger Wage prüfe, dann, Rasinski, kommt der Tag, wo auch uns der Lohn für die schwersten Opfer des Herzens wird! Auf der Brandstätte der Schlachtfelder werden wir uns mit alter Liebe und Treue umarmen, und die Verwüstung um uns her schreckt uns nicht mehr, denn schon sprossen die neuen Keime des Lenzes empor, der in doppelter Schönheit da erblüht, wohin der Vulkan seinen zerstörendsten Aschenregen getrieben. Dahin laß uns die Blicke richten, auf dieses ferne, leuchtende Ziel. Fern? Was sage ich! Er, der die Sonnen aus der Nacht plötzlich schaffend heruorbrechen läßt, er, vor dem tausend Jahre ein Tag sind, er kann uns mit allmächtigem Arm im Flug des Augenblicks dahinführen. Darum laß uns ihm vertrauen, denn seine Gnade ist noch unerschöpflicher als seine Macht. Ewig Dein Ludwig.«

Auch Bernhard hatte geschrieben:

»Rasinski! Wenn ich Dir Auge in Auge sehen, von Mund zu Mund zu Dir reden könnte, so sollten weicher Blick und Ton das scharfe Gift meiner Worte mildern. Doch trinken müssen wir es beide, wie qualvoll es die Brust zerreiße. Das Schicksal rächt sich an mir. Du weißt, Rasinski, um des Freundes willen verriet ich mein Vaterland und nahm das Schwert und verwundete die Brust, die mich genährt. Jetzt rollt die Kugel um; die tückische Nemesis waffnet mich nun gegen den Freund und ich verrate ihn an das Vaterland. Was wehrt sich mein törichtes Herz dagegen und will bald brechen, bald sich empören und aus der Brust hervorstürmen? Hinunter zur Ruhe! Ich hatte und habe recht. Trotzig will ich nun mit eherner Stirn ausharren und wie ein Spartaner zu der Folter lächeln, auf der mich das Schicksal zu einem falschen, feigen Geständnis zu zwingen denkt. Dir, Rasinski, tue ich das wahre: Es ist meine heilige Pflicht, mit der Waffe in der Hand gegen Dich anzudringen, und die Brust zu durchbohren, die mir so treuen Schutz gewährte, an der mein Herz in heißester Liebe geschlagen. Tue Du mir auch so! – O, Rasinski! Der Tag wird schön sein, wo wir uns in Donnern und Wetterwolken, wie bei Mosaisk, finden, und gleich dem Brüderpaar vor Thebens Mauern mit dem Speer gegeneinander anrennen, daß wir beide durchbohrt niedersinken! Hier beteuere ich Dir, ich werde Dich nicht schonen; denn einen schwerern Verrat wüßte ich nicht zu begehen an meinem Vaterlande. Tue Du mir auch so! Wenn wir aber nebeneinander hingesunken sind und unter den toten Brüdern liegen, dann will ich mit sterbender Stimme rufen: «Rasinski», und Du rufe «Bernhard». Mit unserm Herzblut ströme dann der Völkerhaß dahin; und je mehr die versiegende Kraft des Lebens unsere Brust erkalten läßt, um so heißer wird sie in heiliger Freundesliebe erglühen. Unsere wunden Herzen sollen aneinander ausschlagen! Es wird ein schöner Tod sein und sie werden um uns weinen, Bianka– Marie!–Jetzt aber vorwärts; alle Ströme, wie wild sie brausen, finden ja doch endlich das Meer und dann ruhen sie aus, und ihre Wellen dringen nicht mehr rastlos weiter. Bis dahin lebe wohl! –– Bernhard.«

Marie und Bianka begehrten die Briefe zu sehen. »Wie ihr wollt, meine Lieben,« entgegnete Ludwig, »doch es ist besser, ihr laßt es.«–»Nein,« rief Bernhard, »es ist besser, ihr leset. Ihr wißt, was geschieht, warum solltet ihr nicht wissen, wie?«

Mit diesen Worten gab er ihnen die Blätter und sie lasen, beide zugleich, stumm, unter hervordringenden Tränen. Bernhard ging indessen in heftiger Wallung auf und ab; endlich blieb er vor Ludwig stehen und sprach: »O, es geht mir durch die Seele!« Und der Freund lag am Herzen des Freundes. Marie und Bianka schrieben jede einen innigsten Gruß der Liebe unter die Worte des Bruders. So wurden die Briefe abgesandt.

Über eine Woche verstrich, bevor Antwort eintraf. Diese Zeit war indessen eine unruhig bewegte, da sie sich mit Vorbereitungen zu dem neuen Kampfe ausfüllte. Eines Abends endlich kam das Schreiben Rasinskis an. Bernhard empfing es, doch er öffnete es nicht, sondern legte es zurück bis Ludwig nach Hause käme.

Als sie alle beisammen waren, gab er es ihm und sprach: »Lies es uns.« Ludwig nahm den Brief, erbrach ihn, warf einige flüchtige Blicke hinein und las dann mit schmerzlich erschütterter Stimme:

»Meine Freunde! Ich habe Euere Briefe empfangen; ich erwartete sie bereits. Ihr handelt, wie es eine unerläßliche Pflicht von Euch fordert; könnte meine Liebe zu Euch noch wachsen, sie würde es dadurch. Der Altar des Vaterlandes ist der heiligste, auf dem ein Mann seine Opfer zu bringen hat. Mit seiner Geburt leistet er ihm den stummen, aber unverbrüchlichen Eid der Treue. Haltet ihn; auch ich werde ihn halten, denn ich schwur ihn wie Hannibal schon als Knabe, obgleich kein Hamilkar mich an den Opferherd führte. Stets verehrte ich die erhabene Tugend des Brutus, der seinen Söhnen das Todesurteil sprach, weil sie das Vaterland verrieten; ich müßte es Euch sprechen, wenn Ihr wie Brutus' Söhne fehltet. Kein neuer Schmerz trifft meine Seele. Ich bin daran gewöhnt, daß der eherne Fuß der Weltgeschicke die Blüten zertrete, die ich für mein Herz zu pflanzen hoffte. Das sorglose Glück der Jugend, das schönere der Liebe habe ich dem strengen Gott geopfert; auch das Band der Freundschaft will er jetzt zerreißen, doch das vermag er nicht. Ja, meine Freunde, ich habe den Schmerz in ernster Schule gelernt und bin gehärtet gegen seine Pfeile. Ein undurchdringlicher Stahl deckt meine Brust. Die rauhen Schläge des Schicksals zermalmen sie nicht mehr, sie erschüttern sie nur mit dumpfer Betäubung. Wir müssen uns bekämpfen, doch wir dürfen uns lieben. Das schöne Band unserer Herzen soll selbst das Schwert des Schlachtengottes nicht trennen. Ist es uns gleich nicht gestattet, wie die Homerischen Helden das heilige Gastrecht der Freundschaft auch im offenen Kampfe zu ehren, so können wir, edler als sie, die Hand mit Liebe drücken, von der wir fallen. Doch dieses Äußerste wird der Gott der Milde verhüten, dem wir unsere Tage anvertrauen. Freunde, Brüder! Eine gnädige Hand legte die Binde um das Auge des Menschen, daß er die Zukunft nicht schaue; oft ist es ihm heilsam, daß auch die Gegenwart sich verschleiere. Dieses Heil laßt uns als eine Wohltat erbitten und es nicht frevelnd von uns stoßen. Solange der Kampf dauert, der uns feindlich gegeneinander führt, wollen wir unsere Freundschaft nur in schweigender Brust tragen. Keiner wisse, keiner erfahre von dem andern. Denn nicht zu vermessen trotze der Mensch auf seine Kraft. Wüßte ich, wo Ihr als Gegner mir gegenüberständet, das Schwert entsänke vielleicht meiner Hand, und ich vermöchte nicht, das heilige Gelübde zu lösen. Darum trenne dieser Streit der Völker, der sich ehern erhebt, jetzt alle sanfte Bande der Liebe und Mtteilung, die sich sonst zwischen uns und den Unseligen geknüpft hätten. Vielleicht erscheint einst der Tag des Friedens, auf den Du hoffest, Ludwig, und dann werden wir uns wiederfinden. Fällt das Los des Schicksals anders, sei's darum. Wir werden es zeitig genug erfahren. So lebt denn wohl, Ihr Freunde! Und Ihr, holdselige Gestalten, an die meine Seele mit süßem Schmerze zurückdenkt, Bianka, Marie! – Leb wohl, Marie, sei glücklich, Du kannst es, denn die Jugend lächelt noch auf Deiner Wange, und noch blüht der Lenz, der neugestreute Saaten zu goldenen Früchten reift. Sei glücklich und beglücke! – Es ist genug! Wir scheiden vielleicht auf lange Zeit, vielleicht – doch meine Hand will an dem Schleier rühren, der das heilige Antlitz der Zukunft verhüllt; die Zeit allein soll ihn heben. Lebt wohl bis in den Tod. Euer Rasinski.«

So war denn der letzte schwere Kampf der Herzen gekämpft; nur der leichtere, der des Schwertes, blieb noch übrig. Am nächsten Morgen tönten die Glocken feierlich von den Türmen; die Scharen der Krieger sammelten sich auf dem Marktplatze, Tausende der Bürger strömten herbei, um die scheidenden Kämpfer noch einmal zu begrüßen.

Bernhard und Ludwig waren gewaffnet; ihre Rosse stampften unruhig vor der Tür. Bianka und Marie standen, in bangen Tränen, aber heilig erhoben durch die Größe des Augenblicks, an die Brüder geschmiegt. »Leb wohl, Schwester,« brach endlich Bernhard das bange Schweigen, »leb wohl! Und du, Marie? Und du?« Sie wollte ihm die Hand reichen, er zog sie näher, sie sank, überdrängt von seiner edeln Liebe, weinend an sein Herz. Bernhard drückte einen sanften Kuß auf ihre Stirn, dann sprach er fest: »Nein, du Holde, jetzt fordere ich das entscheidende Wort nicht von dir, vor dem die Blüten meines Lebensglücks sich duftend öffnen oder welkend fallen sollen. Nicht der überwältigende Sturm des Augenblicks soll es dir entreißen! Du mußt wissen, ob deine tiefe Wunde heilen konnte. Aber der Tag der Wiederkehr wird nahen; diese leuchtende Sonne, die dort die Kuppeln beglänzt, verheißt ihn uns. Dann trete ich zu dir, Marie, und frage dich: Will das schönste Herz sich einem treuen widmen? – Doch jetzt nicht!« Mit diesen Worten riß er sich los und eilte mit Ludwig hinab. Marie sank weinend, betäubt an Biankas Brust. Jetzt hörten sie den Hufschlag der Rosse. Die Scharen setzten sich in Bewegung. Ludwig, Bernhard, Arnheim waren unter den Vordersten. Hehrer Glockenklang, wehende Tücher, jauchzender Jubelruf geleitete die Tapfern! Brausend wogte das erhobene Meer der Freude und trug auf seinen Wellen das Herz über die tiefsten Abgründe der Angst und Gefahr stolz dahin. Denn die Zeit war erfüllt, und die Saat gereift, und die Schnitter des Herrn zogen aus mit funkelnden Sicheln.


Letzte Worte. Sieg lautet die Verheißung, Sieg die Erfüllung! – Die Donner der letzten Freiheitsschlacht an Frankreichs Grenzen waren verhallt; zum zweiten Male wehten die heiligen Fahnen auf den Türmen von Paris. In den Schneewüsten Rußlands, unter dem rauhen Himmel seiner Winternachte hatte der Baum deutscher Freiheit die tiefen Wurzeln geschlagen; im Sturme der Heldenzeit wuchs er stolz empor; jetzt sollte die milde Sonne des Friedens seine Knospen öffnen, seine schattige Krone entfalten. Noch zitterten die Herzen bang in der Erinnerung an das dumpf nachdonnernde, fern hinabziehende Gewitter; doch der Himmel wölbte sich klar und blau über die Erde, und jede Brust blühte auf in süßen Hoffnungen. Selbst die Trauer um die Taufende gefallener Opfer wurde ein wehmutsvolles Glück; denn es war ja nur Blut der Erlösung geflossen.

Alles, alles sollte diese Zeit versöhnen, jede Wunde heilen, jeden süßen Schmerz mit reinem Born kühlen – wehe denen, die ihn vergifteten!


Marie und Bianka hatten nach Ludwigs Wunsch auf dem stillen Landsitz bei Dresden, den die Schwester seiner Mutter bewohnte und wo freundliche Liebe der Jugendgenossinnen sie umgab, eine Zuflucht gesucht. Hier sahen Bernhard und Ludwig sie wieder; hier vollendete sich ihr Glück im süßen unauflöslichen Bunde. Denn auch Mariens Herz war durch Bernhards edle Treue und Größe ganz sein geworden, und die Rose ihrer Liebe, in der so lange die schweren Gewittertropfen schmerzlicher Tränen gestanden, glänzte jetzt von zitternden Tautropfen der Freude und entfaltete den duftenden Kelch in neu aufblühender Anmut.

Nur eine Wolke lag trübe auf der Stirn der Glücklichen, die hier beisammen weilten. Der Tag des Friedens war gekommen; doch von dem edeln Freunde, der sich, seinem Vorsatz getreu, bis zu dieser Stunde streng von ihnen losgesagt, hatten sie nichts vernommen. Ein Brief an die Gräfin, den Ludwig seit mehreren Wochen nach Warschau geschrieben, blieb unbeantwortet. Sollte sie den Trefflichen betrauern? War er, wie der biedere Arnheim, wie der dichterische Jüngling Benno, unter den Opfern gefallen, die der Krieg blutig gefordert hatte? Diese neuen Bekümmernisse erfüllten die Herzen der Glückseligen.

Eines Abends, gegen das Ende des August, als schon die Dämmerung ihren Schleier leise über den Glanz der gesunkenen Sonne zu ziehen begann, saßen Bernhard, Ludwig, Bianka und Marie vor dem Gartensaal beisammen. Sie erblickten von dem buschumkränzten Hügel einen Reisewagen, der die dicht am Garten vorbeiführende Landstraße daherkam. Er hielt an der Gartenpforte; sie öffnete sich, eine hohe weibliche Gestalt in Trauerkleidern trat ein und schritt auf die Erstaunten zu. »Ich sollte diese Juno kennen«, sprach Bernhard ahnungsvoll, da sie schon so nahe gekommen war, daß man ihre Züge hätte unterscheiden können, wenn sie nicht von dem Schleier verhüllt gewesen wären. – »Es ist die Gräfin!« rief plötzlich Marie, die sie am längsten und genauesten gekannt, und eilte ihr beklommen überrascht entgegen. – »Ja, ich bin es«, sprach die Kommende stillstehend und schlug den Schleier zurück; dann öffnete sie die Arme, um Marien zu empfangen, schloß sie heftig ans Herz und drückte heiße Küsse auf ihre Lippen. Auch Ludwig, Bernhard, Bianka hatten sich genähert; sie empfingen einen stummen, schmerzvoll innigen Gruß von der hohen Frau.

Sie war bleich; der Gram hatte ihre edeln Züge tief gefurcht; Tränen vergoß sie nicht, aber der Glanz des Auges war erloschen. »Ich wollte euch noch einmal wiedersehen«, sprach sie nach langem Kampfe mühsam, und reichte Bernhard und Ludwig die Hand dar; dann verstummte sie wieder. Die Frage nach Rasinski schwebte auf aller Lippen, doch wagte sie niemand zu tun.

»Und Sie kommen allein, ganz allein?« begann endlich Bianka mit zagender Stimme. »O lassen Sie uns nicht länger in banger Ungewißheit um das Geschick so teuerer Wesen.«

Die Gräfin seufzte aus tiefer Brust und blickte gen Himmel. »Ich komme allein! Ganz allein! Das ist meine Antwort!« erwiderte sie und schauerte zusammen. – »Und Lodoiska?« fragte Marie mit bebenden Lippen. – »Wähntest du, sie würde ihren Schmerz überleben? Seit einem Jahre schlummert ihr gequältes Herz in Frieden. Ihr ist wohl!« – »Und Rasinski!« rief Bernhard, der nicht mehr an sich zu halten vermochte. Ein schwerer Kampf war auf dem Antlitz der Gräfin zu lesen: »Auch ihm ist Ruhe geworden!« sprach sie endlich langsam. »Man sah ihn zuletzt in der Schlacht bei Leipzig in der Nähe des Fürsten Poniatowski; – weiter weiß ich nichts von ihm.«

Längst hatte das bebende Herz es geahnt; doch die Erfüllung berührte es mit vernichtender Erschütterung. Marie sank schauernd an Bernhards Brust; er schloß sie fest an sich, sein Haupt neigte sich auf das ihre, und seine Tränen netzten ihre Stirn. Ludwig stand vom tiefsten Schmerz bezwungen und heftete den von Tränen umdunkelten Blick auf den Boden. Bianka verhüllte sich das weinende Auge und lehnte die Wange ermattet gegen die Schulter des Freundes. »Ich weine nicht mehr um ihn«, sprach die Gräfin, doch bebte ihre Stimme wie sanft gerührt; »ich habe auch wenig geweint. Wohl ihm, daß sein Auge sich geschlossen hat, daß es diese Tage nicht sieht! Würde sein edles Herz unsere Schmach ertragen? Gewiß, ihm ist besser.«

Marie wankte zu ihr und warf sich ihr weinend ans Herz. »O meine Mutter!« schluchzte sie in Tränen erstickend.

»Tochter, meine Tochter!« rief die Gräfin, und jetzt brach ein heißer Strom von Tränen auch aus ihren Augen hervor: »Eine Tochter an meiner Brust! O ich kann wieder weinen!« Auch Bianka näherte sich und legte ihren Arm weich um den Nacken der hohen Gestalt. »Ruhe bei uns aus, du Schwergebeugte,« bat sie tröstend; »wir wollen deine Töchter sein!«

Die Gräfin sah sie einen Augenblick mit fragenden Blicken an; ein heftiger Kampf bewegte ihre Brust; es zog sie mit sanften Armen wieder in das Leben, in das milde Reich der Freude zurück. Doch plötzlich richtete sie sich auf, entzog sich der Umarmung der Weinenden, bewegte verneinend das Haupt und sprach: »Nein, nein, es ist unmöglich! Sollte ich, ein ewiges versteinertes Bild des Grams, mich hinsetzen in die Hallen euers Glücks und jeden Kelch der Freude vergiften? Nein, nein, nimmermehr!«

In Haltung und Stimme drückte sich die Unabänderlichkeit ihres Entschlusses so fest aus, daß niemand die Bitte zu wiederholen wagte. Indem hüpfte das blondlockige Töchterchen Alisettens, Nadine, zwischen den Gebüschen hervor und blieb erstaunt vor der Fremden stehen und betrachtete sie mit ihren großen unschuldigen Augen.

Eine seltsame Rührung bewegte die Brust der Gräfin beim Anblick dieses Kindes, das sie sogleich erkannte. »Kennst du mich noch, Nadine?« fragte sie mit kaum hörbarer Stimme. Statt zu antworten sah das Kind sie noch immer an und schmiegte sich dann mit dem Lockenköpfchcn vertraulich in ihren Schoß. Zu erschüttert, drängte die Gräfin es sanft hinweg und wandte sich ab, um zu gehen. »Bleibe bei uns, schöne Dame«, rief Nadine ihr freundlich nach, als sie gegen die Gartenpforte zuging. Rasch wandte sie sich um, hob das Kind auf, küßte es, drückte es ans Herz und fragte bewegt: »Willst du mit mir gehen? Dieses Kind wäre ein süßer Trost in meiner tiefen Einsamkeit«, wandte sie sich zu Bianka und blickte sie fragend an.

»Was du forderst, nichts, nichts kann ich verweigern«, erwiderte diese, wie tief ihr auch die Wehmut einer Trennung von dem liebgewordenen kleinen Wesen ins Herz drang.

»Nein, auch das nicht«, sprach die Gräfin nach einigen Augenblicken stummen Kampfes sanft, aber fest, und ließ das Kind auf den Rasen nieder. »Soll ich den schwarzen Trauerflor über seine heitere Jugend werfen? Soll es nur unter Zypressen wandeln, wo Totenurnen trauernd stehen? Nein, ich will die Tage, die ich noch leben muß – zum Allmächtigen hoffe ich, es werden nur wenige sein – nicht mit diesem Vorwurfe belasten. Weile unter Glücklichen, holdes Wesen!« Sie küßte das Kind und ließ es von sich; es ging zu Bianka hin und fragte teilnehmend: »Mutter, du weinst?«

»Ich kam nur, um Abschied zu nehmen,« begann die Gräfin nach einer Minute der tiefsten Stille gesammelt; »ich zitterte vor dieser Stunde, doch es wäre ungerecht gewesen, sie zu vermeiden. Ich gehe nach Amerika! Es kann mir ein Vaterland werden, denn es ist das einzige Land der Erde, wo eine freie Seele zu atmen vermag. Meine Heimat ist ein Kirchhof, ein Gefängnis, eine schmachvolle Richtstätte, – ein Weltmeer liege zwischen ihr und mir! – Wir wollen uns den Abschied nicht erschweren; rasch, entschieden zerreiße das letzte Band, das mich fesseln will. Lebt wohl, ihr Teuern, folgt mir nicht – erst nach meinem Tode sollt ihr wieder von mir hören.«

Sie ließ den Schleier über das Antlitz herab und ging mit raschen, stolzen Schritten hinweg, noch einmal mit der Hand zurückdeutend, daß niemand ihr folgen möge. Doch das tränendunkle Auge der Bleibenden hing begleitend an der majestätischen Gestalt, bis sie sich im Dunkel der Bäume und des Abends verlor.


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