Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Sechstes Buch.

Erstes Kapitel.

»Zum Teufel, was gibt's schon wieder?« fuhr Bernhard, der, in seinen Mantel gehüllt, am Biwakfeuer lag, unwillig empor, als eine männliche Hand ihn aus dem Schlafe aufrüttelte, in den er erst seit wenigen Minuten gesunken war. »Ach, bist du's, Ludwig?« setzte er gleich darauf sanfter hinzu, indem er den Freund erkannte. »Schon zurück? Nun? Habt ihr Abenteuer gehabt in Witebsk?« – »Mancherlei Art,« antwortete Ludwig; »aber bist du nicht bös, daß ich dich so spät noch störe?«

»Ich bin so müde nicht, daß ich nicht noch eine Stunde plaudern könnte. Erzähle denn.«

»Rate zuerst, wen ich in Witebsk gesehen habe?«

»Nun? den großen Mogul, oder den Papst, oder den König von England?«

»Nein, sei ernsthaft, Bernhard!«

»Das sage ich dir; denn wie soll ich von den zehntausend Möglichkeiten die eine Wirklichkeit treffen, wenn mein Raten nicht ein Scherz sein soll. Also wen trafst du an?«

»Ich ging an einem kleinen Häuschen in einer Quergasse vorüber, da hörte ich plötzlich eine weibliche Stimme angenehm singen. Erstaunt wandte ich mich um und sah in einem mit Blumen halb versetzten Fenster die junge Sängerin aus Warschau.« – »Françoise Alisette?« rief Bernhard einfallend und im höchsten Grade erstaunt. – »Dieselbe.« – »Bist du dessen auch gewiß? Hast du sie gesprochen?« – »Das nicht, denn sie zog sich schnell zurück, da sie mich erblickte. Doch bin ich meiner Augen sicher.« ,

»Hm!« murmelte Bernhard vor sich hin, »sollten sich meine Vermutungen so vollständig bestätigen? Höre, Ludwig, ich möchte fast wetten, der Oberst Regnard steht auch in der Stadt mit seinem Regiment.«

»Du irrst; zwar habe ich ihn angetroffen, doch weiß ich, daß sein Regiment in Ostrowno liegt,«

»Pah!« rief Bernhard, »das sind fünf Stunden; die reitet man in zweien mit Bequemlichkeit.« – »Weißt du noch etwas?« fuhr Bernhard fort; »ich glaube, es ist gut, daß wir Jaromir nichts davon sagen, wenn er es nicht schon weiß.« – »Das glaube ich nicht; aber weshalb?« fragte Ludwig erstaunt.

»Aus mancherlei Gründen. Einmal, glaube ich, ist Regnard eifersüchtig auf ihn, und das könnte unangenehme Händel geben; dann habe ich so eine kleine Vermutung, als ob der Oberst auch nicht unrecht hätte, nämlich soweit die schöne Alisette es verantworten müßte. Sie hatte schon zu Warschau so gewisse Blicke für Jaromir, die einem jungen, unerfahrenen Menschen wie er gefährlich werden könnten; daher ist Schweigen hier gut.« – »Wie du meinst«, gab Ludwig zu.

Plötzlich unterbrach ein ziemlich naher Pistolenschuß das Gespräch der Freunde. Die ringsumher gelagerten Leute sprangen, denn man befand sich fast auf den äußersten Vorposten, rasch auf und ergriffen die Waffen, des Winkes gewärtig, sich zum Gefecht zu ordnen. Man lauschte, ob sich ein neues Geräusch vernehmen lasse; aber alles blieb still, nur daß man in der Ferne nach den Vorposten zu einige Leute lebhaft sprechen hörte. Boleslaw, der die Feldwache befehligte, sandte den Unteroffizier Petrowski mit einer Patrouille ab, der Bericht über das Vorgefallene abstatten sollte. Dieser kam nach wenigen Minuten zurück und führte, gewissermaßen als Gefangene, einen jungen Mann und ein junges Frauenzimmer, der Tracht nach eine Russin, ins Lager. Das Mädchen schloß sich ängstlich an ihren Begleiter an; sie ging zitternd und suchte den Blicken der neugierig herantretenden Soldaten beschämt auszuweichen. »Der Tausend, ein artiges Kind!« rief Bernhard gegen Ludwig gewandt, indem sie vorübergeführt wurden und der Widerschein des Wachtfeuers die Gruppe beleuchtete; doch kaum hatte er diese Worte gesprochen, als der gefangene junge Mann stillstand und ihn anredete: »O, mein Herr, Sie sind ein Deutscher, helfen Sie einem Landsmann, der in großer Verlegenheit ist, weil er nur deutsch und russisch spricht, welches diese Polen nicht verstehen oder nicht verstehen wollen.«

»Gern,« erwiderte Bernhard, »ich werde euch begleiten.« – Indessen war auch Boleslaw herangetreten und fragte den Unteroffizier, wer die Leute seien, was sie wollten. »Sie sind,« sprach der Graubart Petrowski, »soeben mit einer Kibitke angehalten worden. Da wir sie anriefen, gaben sie keine Antwort, sondern wollten rasch umwenden; als aber die Schildwache das Pistol abschoß, hielten sie still. Es sind wahrscheinlich Spione.« – Bernhard mischte sich ein und bat Boleslaw um Erlaubnis, die Leute deutsch zu befragen. »Woher kommt ihr?« redete er sie an, »wie ist euer Name? was ist euer Reisezweck?«

»O, mein Herr,« erwiderte der Gefangene, »kein anderer, als in Frieden nach Deutschland zu ziehen, woher ich gebürtig bin. Ich heiße Paul, und dies ist meine junge Frau, Axinia, eine Russin. Ich war bisher als Gärtner in Diensten bei dem Grafen Dolgorow; allein da der Krieg alles zerstört, hat er mich entlassen, damit ich in meine Heimat ziehen könnte.« – »Habt ihr Papiere, guter Freund, welche diese Aussage bekräftigen?« fragte Bernhard weiter. – »O, die allerbesten, mein Herr«, entgegnete Paul und zog eine Brieftasche hervor, aus welcher er seinen Taufschein, sein Dienstzeugnis und einen in Smolensk ausgestellten russischen Paß nahm und Bernhard dieses darreichte.

»Die Papiere mögen ganz in der Ordnung sein, mein Freund,« entgegnete dieser; »allein russische Pässe, begreift ihr wohl, haben keine Gültigkeit durch das französische Lager. So leid mir es auch tut, wird man euch doch zurückweisen müssen.«

»O, mein Himmel, dann bin ich verloren,« rief Paul aus, »denn nur durch ein Wunder ist es mir gelungen, mit meinen wenigen Habseligkeiten bisher den Schwärmen umherstreifender Kosaken zu entrinnen. Ich bitte euch, bester Herr, wenn ihr es irgend vermögt, helft uns durch, denn wir sind wahrlich ehrliche Leute und begehren nichts, als ungestört reisen zu können.«

»Warum habt ihr nicht die gerade Straße nach Witebsk genommen? Und weshalb wählt ihr die Nacht zur Reise? Das macht sogleich verdächtig.«

»Nur um den Kosaken zu entgehen; und überdies sagte man uns, wir würden hier am Flügel der Armee vorbeikommen und dann ohne weitere Hindernisse Boiszikowo und so die gerade Straße nach Wilna erreichen.«

»Je nun, Marodeurs würdet ihr dort auch noch genug antreffen«, warf Bernhard hin und sann nach, wie er den Leuten aushelfen könnte. »Sie scheinen mir durchaus ehrlich und unschuldig,« sprach er zu Boleslaw; »allein wenn du sie auch ziehen ließest, so kann ihnen das nicht viel helfen, weil man sie anderwärts überall anhalten wird. Zumal ist diese junge Frau eine Ware, für die ich die Assekuranz nicht übernehmen möchte auf dem verwüsteten Wege von hier nach Wilna, wo sich noch immer Nachzügler umhertreiben, und die Juden und Bauern rauben, was diese übriglassen.«

»Was gibt's hier?« fragte plötzlich eine Stimme. Es war Rasinski, der mit übergeworfenem Mantel, eine Feldmütze tief ins Gesicht gedrückt, unvermutet unter die Sprechenden trat. Bernhard berichtete den Fall. »Bei wem standet ihr in Diensten?« richtete Rasinski seine Frage an Paul. – »Beim Grafen Dolgorow«, antwortete dieser. – »Eure Papiere.« Paul zeigte sie. Rasinski durchlief sie mit schnellem Blick. »Es ist, wie ihr angebt; das ist die Unterschrift des Grafen. Ich werde euch zu euerm weitern Fortkommen behilflich hilflich sein. Diese Nacht müßt ihr hier im Lager verweilen, morgen aber geht ein Transport mit Kranken nach Wilna zurück, dem könnt ihr euch anschließen. Ich werde euch die nötigen Pässe dazu besorgen.«

Paul dankte mit freudigen Worten und noch freudigern Blicken; in Axiniens schüchterne Züge kehrte die Heiterkeit zurück. Erst jetzt schien Rasinski ihrer gewahr zu werden. Freundlich trat er auf sie zu und fragte sie russisch: »Und auch du willst nach Deutschland ziehen, und bist doch eine Tochter aus Ruriks Reich, wie ich aus deiner Tracht sehe?« Axinia schlug errötend die Augen nieder. »Es war der Wille der jungen Gräfin Feodorowna«, erwiderte sie. – »Und weshalb sandte die Gräfin dich nach Deutschland?« fuhr er nach kurzem Besinnen fort.

»Wir würden, meinte sie, dort glücklicher sein.«

»Jetzt? Es fragt sich; das Land ist auch nicht überreich an Glück. Ist die Gräfin Feodorowna die Tochter des Grafen Dolgorow?« – »So ist es, mein gnädigster Herr!« entgegnete Axinia, indem sie das Haupt bejahend und mit dem Ausdruck der Demut senkte. »In meiner Kindheit wurde ich als Gespielin der Gräfin mit ihr erzogen; ihr verdanke ich alles.« Hier wurde ihre Miene so bewegt, daß sie nicht weiter zu reden vermochte.

»Wenn du so an ihr hängst, weshalb verließest du sie, oder weshalb sandte sie dich fort?« Axinia stockte und errötete. »Ich verstehe,« fuhr Rasinski lächelnd fort; »je nun, es ist die Pflicht des Weibes, dem Manne zu folgen. Du hast wohlgetan. – Weiset diesen Leuten eine Stelle unten neben dem Hügel an, wo sie sicher übernachten mögen«, sprach Rasinski abbrechend und winkte mit der Hand.

»Nun, Freunde,« begann er, als sich die Ankömmlinge entfernt hatten; »morgen setzen wir uns wieder in Marsch, das hatte ich euch noch nicht gesagt. Ich erwarte jeden Augenblick Jaromir mit Depeschen aus Witebsk; dann werde ich euch sagen können, wohin wir unsern Weg zu richten haben. Denn ich glaube nicht, daß wir beim Gros der Armee bleiben. Es wird endlich Zeit, daß wir in Tätigkeit kommen.«

»Wahrlich!« rief Bernhard, »wenn der Feind uns standhalten will. Bis jetzt haben wir mit einem Schattenbilde gefochten. Wenn wir den Gegner dicht vor Augen hatten und ihm endlich wie Achill dem Hektor zurufen konnten: Steh und kämpfe – dann verschwand das Phantom wieder in die wüste Nacht. Ich gestehe, daß mich diese Art des Krieges bisweilen fast schauerlich berührt hat. Der größte Feldherr, das sieht man wenigstens, muß einen Feind haben, um ihn besiegen zu können.«

Es ist dies einmal die Form des Verteidigungskrieges, wenn das Terrain dem Angreifenden durch seine Ausdehnung ungünstig ist; schon die alten szythischen Bewohner dieses Landes führten ihren Krieg mit den Perserkönigen auf diese Weise«, antwortete Rasinski. »Ich war von Anfang an darauf gefaßt, denn ich kenne den Russen und sein Land. Aber das eben ist mein Trost. Hier ist noch nicht die Stelle, wo diesem Reich das Herz schlägt; halb fochten wir noch auf eigenem Grund und Boden, auf altpolnischem; auch Litauen gehorchte ja den Jagellonen. Dieser Boden ist dem Russen kein Heiligtum. Erst jetzt berühren wir seine Grenzen; hier beginnt sein Vaterland, seine Kirche. Gebt acht, hier werden Ruriks Söhne ihre Schwellen und Altäre beschützen; und je näher wir dem Sitz des heiligen Iwan, der ehrwürdigen Stadt Moskau rücken, je mächtiger wird sich das Volk gegen uns waffnen. Nicht alle Bewohner des Russischen Reichs haben ein Vaterland. Die Grenzprovinzen gleichen den Torschwellen und Vorsälen, wo das Heer der heimatlosen Sklaven gelagert ist. Diese gibt man leicht preis, doch im Innern des Hauses wohnen die Söhne desselben und sie werden den Altar kämpfend beschützen. Dann wird es an Schlachten, und ich hoffe an Siegen nicht fehlen.«

Man hörte einen Reiter im Galopp heransprengen. Es war Jaromir. Er überbrachte, rasch abspringend, Rasinski Depeschen, die dieser beim Schein der Flammen eilig durchlief, während Jaromir die Freunde begrüßte. »Morgen mit der vierten Stunde brechen wir auf. Gute Nacht denn; nutzt die Zeit der Ruhe, die uns bleibt, denn der morgende Tag fordert vielleicht angestrengte Kräfte.« Mit diesen Worten ging er in sein Zelt zurück, und die übrigen lagerten sich wieder an dem Wachtfeuer, wo sie bald in festen Schlaf sanken.

Als der Tag anbrach, befand sich Rasinski mit seinem Regimente schon auf dem Marsche. Er zog auf einer langgedehntcn Anhöhe am Saume eines Fichtenwaldes dahin, der sich zu seiner Rechten weit ins Land hinein erstreckte, während sich zur Linken ein hügeliges, von Gebüsch durchschnittenes Terrain ausbreitete. Boleslaw, Jaromir, Ludwig und Bernhard ritten an seiner Seite. »Der Kaiser hat einen kühnen Entwurf gemacht,« begann Rasinski; »wie ihr seht, nehmen wir eine Richtung, die uns vom Feinde, der weit links bei Rudnia, und Inkowo sein Hauptquartier aufgeschlagen hat, entfernt. Wir werden über den Dnjepr gehen, dann, auf der linken Flanke von dem Flusse gedeckt, bis nach Smolensk vordringen, die russische Armee umgehen und uns mitten zwischen sie und Moskau hineinwerfen. Eine kolossale Kombination, die, wenn sie glückt, den ganzen Feldzug in einem Wurfe entscheiden muß. Was dem Marschall Davoust durch Schuld des Königs von Westfalen gegen Bagration fehlschlug, das soll hoffentlich jetzt gegen Barclay und Bagration zugleich gelingen. Unsere Aufgabe dabei ist die, die vorgesprengte streifende Kavallerie, die sich etwa doch noch auf unserer rechten Flanke befinden könnte, zu werfen und sie in solcher Entfernung zu halten, daß sie die Bewegung der Hauptarmee nicht zu früh erfährt.«

Die Sonne war jetzt aufgegangen und warf ihre Strahlen in die weite Landschaft, die man von der Höhe übersehen konnte. »Seht ihr, wie die Kolonnen hervorbrechen?« sprach Rasinski und deutete links hinüber. »Hier vorn der schwarze Strom ist uns ganz nahe; dort jenseit hinüber erkennt man es an der Staubwolke, daß Kavallerie marschiert, und hinten an jenem Hügel, der zu entfernt ist, um die Truppen selbst wahrzunehmen, seht ihr doch die glänzenden Blitze der Waffen. In diesen Tagen kann sich viel entscheiden.« '

Ludwig übersah die Gefilde, in denen sich die schwarzen Ströme der Völker bewegten, mit einem eigenen Gefühl. »Was sich hier bildet und entscheidet,« fragte er sich ernst, »wird es der Welt zum Heil oder zum Wehe gereichen? Wenn der gewaltige Geist, welcher die Massen in Bewegung setzt, hier, wie Alexander einst in Indien, das Ziel seiner Taten fände? Wenn er scheiterte an dem ungeheuern Unternehmen? Wenn die kolossale rohe Macht des Nordens ihr Übergewicht in Europa geltend machte? Oder wenn umgekehrt der Strom des Sieges fortbrauste bis in das Herz des alten Rußland, und Frankreichs Fahnen, auch auf dem Sitz der Zaren aufgepflanzt, herabwehten von den stolzen Zinnen des Kreml? Wäre es dann mit Deutschlands Selbständigkeit nicht am Ende? Müßte nicht alles dem französischen Übermute gehorchen? Würde der Name Vaterland nicht ein leerer Klang, ein hohler Schall für uns werden?«

In diesen Betrachtungen unterbrach ihn Bernhard, der als Maler alle äußern Erscheinungen unter dem Gesichtspunkte eines Gemäldes auffaßte. »Was doch auch die toten Landschaften für einen eigentümlichen Reiz haben können,« redete er ihn an; »sieh nur, wie dieser blauschwarze Waldsaum sich mit seinen zarten Spitzen fein gegen den Himmel abzeichnet; diese traurige Einförmigkeit hat etwas eigen Ergreifendes, sowie auch die Wüste einen großartigen Eindruck macht. Und die weiten Waldstrecken, die sich dort unten durch das Land ziehen, die nackten Hügel dazwischen, auf denen das rote Heidekraut schimmert, der farblose Himmel, die langen grauen Wolkenstreifen – zuzeiten möchte ich dergleichen lieber malen als Schweizerlandschaften. So lag ich auch in Schottland an stillen heitern Herbsttagen gern auf den öden Heiden des Hochlandes und ließ die Wolken über mich dahinziehen.«

»Solange der Mensch mit dem Schauerlichen und Düstern frei spielt, es von sich weisen kann, wenn er mag,« entgegnete Ludwig, »solange findet er ein ganz eigenes Behagen darin, die heitern Zustände des Lebens zu vermeiden. Doch wenn die strenge Notwendigkeit uns ihre ernsten Wege wandeln läßt, dann sehen wir das finstere Antlitz des Geschicks mit andern Augen an. Doch was ich sagen wollte«, brach er plötzlich ab. »Ja, was meinst du? Boleslaw scheint sehr trübe zu sein, wie er denn überhaupt, seit wir Warschau verlassen haben, täglich ernster wird.«

»Und täglich schöner«, erwiderte Bernhard. »Sieh nur, wie edel diese bleichen Züge sind; welch eine stolze Stirn, auf der die düstern Schatten seiner Trauer schweben! Und der Glanz des schwarzen Haares, das dunkle Glühen des Auges, der feine Mund! Er ist der Orestes zu dem lebensfrohen Pylades Jaromir, das romantische Nachtstück zu seinem Sonnenaufgang, oder doch die Herbstlandschaft zu seiner Frühlingslandschaft.«

Man war im Gespräch an einen Scheideweg gekommen; links zog sich die Masse den Hügel hinab in das freiere Feld nach Liozna zu, rechts bog sie in den Wald ein, nach Babinowiczi und Orsza. Rasinski schlug den letztern Weg ein, fand es aber, da er das Terrain vor sich nicht mehr übersehen konnte, nötig, eine Vorhut und Seitenpatrouillen einzurichten. Jaromir erhielt den Befehl über die erste, Boleslaw wurde mit der Verteilung und Beaufsichtigung der letztern beauftragt. Ludwig und Bernhard blieben in Rasinskis Nähe, indem er sich ihrer als Ordonnanzen bediente, um Befehle an die detachierten Trupps zu senden. Man marschierte indes bis zum Abend, ohne auf den Feind zu stoßen. Die Nacht biwakierte man teils in, teils neben einem elenden Dorfe, welches von seinen Einwohnern ganz verlassen war. Mit der Morgendämmerung rückte das Regiment wieder aus und marschierte auf Rasasna zu, wo die Armee den Übergang über den Dnjepr machen wollte.

Der Kaiser war bereits mit dem Davoustschen Korps eingetroffen; die Brücken bei Rasasna, welche schnell in dauernden Stand gesetzt worden waren, wimmelten schon von Truppen, die in langen schwarzen Massen hinüberzogen. Auch Rasinski schloß sich denselben an und bezog sein Lager jenseit des Flusses über Rasasna hinaus, wo auch das Zelt des Kaisers aufgeschlagen wurde. Ein litauischer Jude, der für Geld der Spion Rasinskis geworden war, unternahm es gegen eine gute Belohnung, noch einige Stunden weiter vorwärts zu gehen, um auszukundschaften, ob der Feind von der Annäherung der Armee unterrichtet sei, und vielleicht Truppenmassen entgegenstellte.

Gegen drei Uhr morgens, als es noch völlig dunkel war, kehrte der Spion zurück. Bernhard war eben erwacht und hatte das Feuer geschürt, als die seltsame Gestalt des Israeliten, der sich leise heranschlich – denn scheue Vorsicht war ihm schon zur andern Natur geworden – im Widerschein der Flammen sichtbar wurde. Wie ein hämischer Zauberer erschien er dem betroffenen Bernhard, als er so plötzlich aus der dunkeln Nacht in den hellen Umkreis des Feuers trat. Ein schwarzer Talar, den in der Mitte ein lederner Gürtel zusammenhielt, hüllte die Gestalt ein; der rote Spitzbart reichte bis über die Brust hinab, das schmale bleiche Gesicht guckte lauernd aus der Masse des verworrenen Haares hervor, und die grauen Augen blinzelten listig, aber auch zugleich boshaft, aus ihren Höhlen heraus. Ein widriges Lächeln verzog seine Lippen, als er Bernhard in seiner jüdischen Mundart anredete: »Junger Herr! Sagt mir doch geschwind, wo der Herr Oberst schläft! Ich hab' ihn notwendig zu sprechen, hört ihr, junger Herr?« – »Der Kerl sieht aus, als ob sich der Teufel in einen Fuchs verwandelt hätte«, murmelte Bernhard. »Haben sie dich nicht gehängt, Isaak?« fragte er den Juden.

»Vater Abraham, was tut ihr für Fragen, junger Herr? Wird der alte Isaak so lange gelebt haben, um nicht zu wissen, wie man einer Hanfschlinge ausweicht? Aber führt mich geschwind zu dem Herrn Obersten, es hat Eile!«

»Komm, Sohn Abrahams, setze deine Sohlen auf die Spuren meiner Füße, so wirst du dahin gelangen, wo du den findest, dessen Gold du suchst. Vorwärts.« Mit diesen des Juden Weise parodierenden Worten ging Bernhard voran und führte den alten Schlaukopf zwischen die Gruppen der an den Feuern gelagerten Krieger hindurch bis an die Stelle, wo Rasinski, in den Mantel gehüllt, auf einer Schütte Stroh schlief. Sein leises aufmerksames Ohr bewirkte, daß er bei der Annäherung der Schritte sich sogleich aufrichtete und scharf umhersah. »Bist du's, Freund Isaak?« rief er schnell ermuntert die Kommenden an. »Nun? Gibt's etwas Neues von Belang?« Der Jude winkte mit geheimnisvollen Mienen und zog ihn beiseite. Bernhard wollte sich entfernen, doch Rasinski hieß ihn bleiben. Indessen sprach er lange heimlich mit dem Juden, und hörte, wie es schien, mit sehr gespannter Teilnahme den Bericht desselben an. Die Züge des Spions wurden immer bedeutsamer; jenes widerwärtige boshafte Lächeln überglänzte sie von Minute zu Minute strahlender, je in dem Maße, wie Rasinski mit den Nachrichten zufrieden zu sein schien. »Verfluchter Judas!« brummte Bernhard für sich. »Ich könnte dieser Physiognomie nicht trauen, und wenn diese Fuchsnase mir verspräche, mein Führer gerade ins Paradies zu sein. Doch Rasinski kennt seine Leute, das muß man ihm lassen!«

Isaaks Bericht war zu Ende; demütig stand er vor Rasinski und schien in tiefster Unterwürfigkeit dessen Befehle abwarten zu wollen. Dieser zog die Börse; des Juden Gesicht glänzte vor Freude; die Begierde nach dem Metall blitzte ihm aus den Augen. Als er aber vollends in der geöffnet dargereichten Hand eine Anzahl von Goldstücken fühlte, da brach er in die widerwärtigsten Dankbezeigungen aus. »Gott Abrahams!« rief er, indem er sich bestrebte, Rasinskis Hände zu küssen, »beschütze meinen Wohltäter, der mich nicht darben läßt in der Zeit des Elends und des Kriegs! Der Hunger würde meine Eingeweide zerreißen, daß ich heulte wie der heißhungrige Wolf im Winter, wenn ihr nicht mein großmütiger Retter wäret, edler Herr!« Rasinski machte eine abwehrende Bewegung und gebot ihm zu schweigen. Der Jude wollte sich entfernen und zog im Gehen einen kleinen ledernen Beutel hervor, um die Goldstücke Hineinzutun. Doch zu gleicher Zeit zog er unversehens einen zweiten ungleich schwerern Beutel, an den sich die Schnur des erstern angehäkelt haben mußte, mit heraus, und dieser fiel auf den Boden nieder. Isaak erschrak sichtlich und wollte danach greifen; Bernhard aber, der im Widerschein der Flamme das Gesicht des Juden beobachtet hatte, schöpfte im Augenblick Verdacht und sprang gleichfalls herzu, um den Beutel aufzuheben. Da das Gras hoch und die Stelle des Erdbodens gerade nicht vom Feuer beleuchtet war, so tappten beide einigemal vergeblich danach; endlich hatte Bernhard ihn zuerst. »Gebt her, mein lieber junger Herr,« rief Isaak sogleich, »es ist mein sauer erworbenes Gut. Was man jetzt nicht bei sich trägt, ist nicht sicher! Ich bitte euch, gebt.«

Der ängstliche Ton, mit dem er diese Worte sprach, seine hastigen Gebärden verstärkten nicht nur Bernhards Verdacht, sondern auch Rasinski wurde aufmerksam. »Hm! Schwer, sehr schwer,« sprach Bernhard absichtlich laut; »vermutlich lauter Gold?« Rasinski trat näher. »Ei bewahre!« rief Isaak, »ein wenig Silber und Kupfer, ein paar alte Dukaten dabei.« Zugleich streckte er den Arm hastig nach dem Beutel aus und wollte ihn ergreifen. Bernhard aber zog die Hand zurück, hielt die Börse gegen den Schein der Flammen und sprach noch lauter: »Silber? Kupfer? Was ich beim Schein des Feuers durch die Maschen glitzern sehe, scheint mir helles Gold zu sein!«–»Zeigt doch her!« sprach jetzt Rasinski und trat rasch heran. Lachend übergab er ihm den Beutel; der Jude wagte nichts einzuwenden, doch sprach er zitternd und mit demütig bittendem Tone: »Großmütigster Herr! Es ist das Wenige, was ich aus der Kriegsnot gerettet. Ihr werdet das Eigentum eines hilflosen alten Mannes nicht rauben.«

»Rauben?« sprach Rasinski verächtlich. »Bin ich ein Marodeur? Doch,« fuhr er mit drohendem Tone und Blicke fort, »du sollst mir nicht aufbinden, daß dieses Geld von länger her dein Besitztum gewesen. Meinst du, ich wisse nicht besser, was ein Jude deinesgleichen in Litauen ersparen kann? Wähnst du, ich würde dir glauben, du schlichest als Spion von einem Lager ins andere, und trügest diesen Schatz stets mit dir herum? Zehn Fuß tief im dichtesten Wald vergraben, würdest du ihn noch nicht sicher glauben. Und warum verleugnetest du, daß es Gold ist? Wo ist das Silber und Kupfer unter diesen neuen Dukaten? Bekenne, Jude, woher hast du dieses Gold?« Isaak zitterte an allen Gliedern; endlich sprach er stotternd: »Was mögt ihr denken, gnädigster Herr Oberst? Wie soll der alte Isaak anderes Gold besitzen, als woran er die sechzig Jahre seines Lebens gespart hat? Wo soll er es vergraben? Welcher Boden ist sein, daß er den Schatz wieder heben könnte? Und wenn ich's verhehlen wollte, daß ich etliche Dukaten erspart habe, so sagt mir doch, wann ist es geraten, seinen Reichtum laut auszurufen?«

»Elende Ausflüchte!« rief Rasinski. »Hier nimm dein Gold zu dir, ich begehre dessen nicht. Das aber sage ich dir! Schmelzen lasse ich's, und glühend sollst du es niederschlucken, wenn deine Zunge mir Lügen berichtet hat! Diese Dukaten sehen aus wie ein Judaslohn für wichtigere Nachrichten, als du mir gebracht. Hast du dem Feinde etwas verraten, mißlingt der Plan, den wir vorhaben, so zittere, denn du sollst mich fürchterlich kennen lernen!« Der Jude stand bleich wie der Tod da; seine Knie schlotterten; plötzlich warf er sich zu Rasinskis Füßen nieder und rief mit verzerrten Gebärden: »Gnade, Barmherzigkeit!« – »Gerechtigkeit!« donnerte Rasinski ihn an. »Untersucht ihn sogleich auf das strengste, ob er Papiere oder sonst etwas bei sich hat.« Ein Offizier und zwei Soldaten bemächtigten sich auf einen Wink Rasinskis sogleich des Alten, schleppten ihn an das nächste Feuer und hießen ihn, sich sofort von Kopf bis zu Fuß entkleiden. In wenigen Augenblicken war es geschehen. Man durchsuchte den Talar, die Beinkleider, die Leibbinde, die Strümpfe und Schuhe, ohne etwas zu finden, selbst ein Schnitt durch die Schuhsohlen führte zu keiner Entdeckung. Isaak stand indessen zitternd im bloßen Hemde und folgte mit ängstlichen Blicken den Bewegungen der Soldaten. Seine Züge erheiterten und beruhigten sich, je nachdem ein Stück seiner Kleidung nach dem andern als unverdächtig befunden und auf die Seite gelegt war. »So wahr Gott Jehova über mir lebt,« rief er aus, »ich bin ein unschuldiger alter Mann. Gebt mir, ich bitte euch, das Meinige zurück und meine Kleidungsstücke, und laßt mich heimkehren in meine Hütte!«

»Da, ziehe den Plunder wieder an«, rief ein Unteroffizier und warf ihm die Beinkleider zu. Isaak fing sie mit den Händen auf; aber in demselben Augenblicke stellte ihm der Kriegsmann auch seinen zusammengeknäulten Talar auf dieselbe Weise zu. Da der Jude eben nach dem ersten Kleidungsstücke gegriffen hatte, fiel ihm das zweite, ehe er es abwehren konnte, über den Kopf, so daß er sich im ersten Augenblicke darin verwickelte. Dies gab den übermütigen Soldaten Anlaß, ihn zu necken, indem sie ihm das weite Gewand über den Kopf hin und her zerrten, so daß er ganz darin verwickelt wurde und wie betäubt, jedoch heftig schreiend und abwehrend, hin und her taumelte.

Eben wollte Rasinski diesem Spiele des Übermuts Einhalt tun, als der Jude, stark von einem Soldaten gezerrt, stolperte und auf den Boden nieder- fiel, so daß der Talar in den Händen des Kriegers blieb. Doch mit dem Gewände zugleich war dem Gefallenen, zu seinem äußersten Schrecken, auch die falsche Atzel, die er trug, entrissen worden und er lag barhaupt da. Niemand dachte im ersten Augenblicke etwas Arges, sondern die Soldaten lachten über das neue Unglück, das dem Juden begegnete, als Bernhards scharfes Auge auf dem Boden ein Papier entdeckte, das der Jude zwischen Schädel und Perücke verborgen gehabt und soeben verloren haben mußte. Er wollte danach greifen; doch Isaak, der sich nichts Gutes bewußt war, hatte selbst nichts Eiligeres zu tun als es aufzuraffen und in die Flammen des dicht neben ihm lodernden hohen Wachtfeuers zu schleudern, so daß es im Augenblicke zu Asche verbrannte. Dieser Umstand gab Veranlassung zu einer neuen Untersuchung. Der Jude leugnete alles ab; er schwur bei dem Gott seiner Väter, er wisse von keinem Briefe und habe nichts in die Flammen geworfen, sondern nur sein weißes Tuch vom Boden aufgerafft. Doch Rasinski ließ ihm sofort den Schädel genauer be- sichtigen, und man entdeckte, daß das Haar desselben frisch abgeschoren war, Isaak also eine Perücke gar nicht nötig gehabt hätte. Mit Gewandtheit ent- gegnete er aber zu seiner Verteidigung: »Gott der Gnade! was ich getan habe, um euch dienen zu können, das soll jetzt mein Verderben bei euch werden? Als ich mich anbot aus Hunger und Not, das gefährliche Gewerbe für euch zu treiben, mußte ich da nicht darauf denken, wie ich euch nützlich werden könnte, ohne euch zu verraten? Wußte ich, was ihr mir für Aufträge geben würdet? Habe ich nicht immer gehört, daß man Briefe, Verzeichnisse und andere Papiere geschickt fortschaffen müßte? Darum habe ich – jetzt trifft mich die Strafe dafür – das heilige Gesetz gebrochen und ein Schermesser an mein Haupt gebracht! Ist es aber an euch Christen, mich deshalb zu richten, weil ich gesündigt habe, um euch zu dienen? Sprecht, nehmt aber euern Gott zum Zeugen, Herr Oberst, wenn ihr mir hättet geheißen: Isaak, hier ist ein Brief, geh hin, schaffe ihn zum feindlichen General, doch laß ihn nicht fallen in fremde Hände! würdet ihr euch dann darum gekümmert haben, wie es der alte Isaak angefangen hätte, um den Auftrag auszuführen? Hätten sie mich ertappt und aufgeknüpft, würdet ihr nicht gerufen haben: Es geschieht ihm recht; warum ist er nicht gewesen vorsichtig und schlau, als ein Kundschafter soll? Habe ich euch gefragt um die Mittel? Ist es meine Schuld, daß ihr mir keinen andern als mündlichen Auftrag gegeben habt?« In diesem Tone fuhr der Jude, von Todesangst gefoltert, mit unaufhaltsamem Strom der Rede fort, und in der Tat waren seine Gründe schwer abzuweisen. Dennoch mußte Rasinski den äußersten Verdacht gegen ihn hegen. Er befahl daher, ihn zu binden und, wenn er ausrücken würde, auf einem Reservepferd mitzuführen.

»Sehe ich an den Bewegungen der Feinde,« redete er den Juden an, als dieser abgeführt wurde, »daß er Kundschaft erhalten hat, so bist du zum Galgen reif und sollst ihm nicht entgehen. Hast du ihm nichts verraten oder verraten können, so magst du laufen, bis andere dich hängen; denn jenseit Liady seid ihr doch nicht zu gebrauchen, weil der Russe euer ganzes, Blut und Mark der Armen aussaugendes Geschlecht in seinem Lande nicht duldet, das einzige, das ich gut an diesem Volke nennen kann. Nun fort! Bewacht ihn wohl!« So wurde der Jude jammernd und wehklagend unter dem Hohn und Spott der übermütigen Soldaten in Gewahrsam gebracht; denn so verachtet ist das schnöde, aber leider unentbehrliche Handwerk des Spions, daß selbst diejenigen, denen er nutzt, ihn lieber mißhandelt als belohnt sehen.


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