Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Dreizehntes Buch.

Erstes Kapitel.

Durch Rasinskis Bemühung, der die dankbarste Freude über die Rettung Ludwigs und Bernhards im Herzen trug, waren diese wieder in Besitz eines Wagens gelangt, auf dem Bianka, Jeannette und das Kind den beschwerlichen Zug fortsetzen konnten. Um in dem allgemeinen Unglücke sich so hilfreich zu zeigen, als sie vermochten, nahmen sie noch drei verwundete Offiziere auf, deren einer immer abwechselnd die Zügel führte. Ludwig und Bernhard, dessen Wunde bei seinen frischen jugendlichen Kräften und unter der besten Pflege, die er in den letzten Tagen genossen hatte, völlig geheilt war, gingen zu Fuß, hielten sich aber stets in der Nähe des Wagens. Rasinski und seine Leute betrachteten sich gewissermaßen als die Deckung desselben und verließen ihn nur, wenn die Pflicht sie anderwärts hinrief.

Die Kälte hatte ganz nachgelassen; es war so starkes Tauwetter eingetreten, daß sogar der Schnee zum Teil wegschmolz und wenigstens auf der Landstraße nicht mehr liegenblieb. Fiel daher der Winter das Heer nicht mehr so gewaltsam mit seinen scharfen Waffen an, so wurde dafür der Marsch desto mühseliger. Diejenigen, welche in der Meinung, das Reich des Winters habe dauernd begonnen, ihre Wagen mit Schlitten vertauscht hatten, sahen sich jetzt bitter getäuscht, da diese Fuhrwerke in dem schmelzenden Schnee durchaus nicht fortzuschaffen waren. Mehr der Zufall als Vorsicht hatte für Bianka auf umgekehrte Weise gesorgt. Wie man in ernstern Zeiten auch auf die geringsten begünstigenden Umstände hohen Wert legt, so wollte sie auch darin ein besonderes Zeichen erkennen, daß die beschützende Hand des Himmels über ihr weile und sie glücklich aus dem tiefen Strudel aller dieser Bedrängnisse erretten werde. Doch mit schauderndem Mitgefühl sah sie das Unglück, welches rings um sie her mit jeder Stunde eine schreckenvollere Gestalt annahm; es schien ihr fast ein Verbrechen, in diesem großen Untergange sich allein retten zu wollen, nicht Tod und Elend gemeinsam zu teilen. Hätte der Schmerz überall eine edle Haltung gehabt, so würde sie es vielleicht nicht über sich gewonnen haben, nur an ihre eigene Rettung zu denken; so aber brach leider in diesen strengen Prüfungen die tiefe Verderbnis der menschlichen Seele meist erst in ihrer ganzen nackten Abscheulichkeit hervor. Selten zeigte sich eine großartige duldende Unterwerfung unter das zermalmende Schicksal; dagegen desto häufiger jene empörte Wut, jenes Ausbrechen in Flüche und Verwünschungen gegen alles Menschliche, Heilige und Göttliche. Bianka schauderte im Innersten davor zurück; ihr gemartertes Auge flüchtete von diesen Szenen des Grausens, und sie beugte sich über das liebliche Kind auf ihrem Schoße herab, um im Anblick seiner schuldlosen Züge die Entartung der Menschheit zu vergessen. Ach, und gerade dieses Kind, erinnerte es nicht an die unnatürlichste Tat? Stand nicht hinter dem holden Bilde dieses lächelnden Engels die Furiengestalt einer in Verderbnis untergegangenen Mutter, die die heilige Blüte ihres Schoßes im frevelnden Wahnsinn selbst vernichten wollte? Und wenn die Gequälte das Auge wieder aufschlug, was erblickte sie? Jammer, Elend, Verzweiflung; wild tobende Wut gegen Schöpfer und Geschöpfe!

Der tiefe, in einen Sumpf verwandelte Weg trotzte der übermäßigen Anstrengung der Kräfte. Die vor die Schlitten gespannten Pferde stürzten trotz der unbarmherzigsten Peitschenhiebe, mit denen die Führer sie unter grimmigen Flüchen anzutreiben suchten, zu Boden und vermochten sich kaum noch emporzurichten. Jetzt erst wurde der zu späte Entschluß gefaßt, das Unmögliche aufzugeben. Man spannte die Tiere los und häufte nun Beute und Vorräte auf ihren Rücken; vergebens flehten die Kranken, die Verwundeten, daß man sie retten solle. Die Habsucht, der Eigennutz waren taub; wer noch so viel Kräfte besaß, um für sich zu handeln und zu retten, gedachte der Menschlichkeit nicht mehr. Indes folgte die Strafe auf die Tat; denn kaum hatte man, ohne sich an den verzweifelten Ruf des Erbarmens der Kameraden, die man dem Verschmachten durch Hunger und Kälte preisgab, zu kehren, die überlasteten Rosse einige hundert Schritte fortgetrieben, so stürzten sie abermals zusammen, und jetzt war jedes Mittel, sie aufzustacheln, vergeblich. Heulend vor Wut sah man dann die erbitterten Besitzer ihr schnödes Gut in den Kot treten, von Grimm verblendet, daß sie fast auch die Lebensmittel, denen sie vielleicht am nächsten Tage ihre Rettung vom Hungertode verdankten, vernichteten. Und Hunderte und Tausende gingen an solchen Schauspielen vorüber, und keinen rührten, keinen bekümmerten sie, niemand nahm sich der Bedrängten, Verlassenen an, so hatte die schreckenvolle Wiederholung derselben Qualen selbst das Entsetzlichste zur stumpfen Gewohnheit gemacht, so der unerträgliche Grad der eigenen Marter jedes Gefühl für die fremde getötet! Und nicht allein der Rohe, dem besseres Wissen, Erkenntnis des Wahren und Gewohnheit des Edeln die Brust nicht geläutert hatten, sondern selbst diejenigen, denen das höhere Gesetz der Tugend vertraut sein konnte, hatten es gänzlich vergessen und trugen vom Menschen nur noch die Gestalt. Freilich aber auch diese meist in fürchterlicher Verzerrung und Entstellung durch Hunger, Schmutz, Elend und Krankheit. So sah man höhere Offiziere, selbst Generale, einzeln unter der Masse der Krieger verloren, am Stabe wandern und wie Bettler den Boden verlassen, auf dem sie als Triumphierende eingezogen waren, glücklich genug, wenn sie außer den Mühseligkeiten des Weges nicht noch die Gefahren des Kampfes, den Hohn des Feindes zu dulden hatten, dessen schwärmende Horden asiatischer Krieger das Heer begleiteten, wie eine Schar hungeriger Raubvögel einen verwesenden Körper umflattert.

Es vergingen einige Tage, an denen sich die düstern Bilder in unablässiger Wiederholung erneuten. Die Hoffnung, das nicht mehr ferne Minsk zu erreichen, wo sich Vorräte in ungeheuerer Masse, Raum zum Obdach des Heeres, und überdies die Unterstützung durch frische wohlgerüstete Truppen vorfand, hielt die Kräfte aufrecht. So erreichten die Trümmer des Heeres Toloczin. Am nächsten Morgen hatte man kaum den Marsch wieder begonnen, als plötzlich ein Offizier dem Kaiser mit Depeschen entgegenkam. Er öffnete dieselben und verriet durch eine heftige Bewegung, daß der Inhalt beunruhigend sei. Zwar blieb die Botschaft noch ein Geheimnis, doch liefen allerlei Mutmaßungen und Gerüchte von Mund zu Mund, die der Wahrheit nahekamen. Am Abend des folgenden Tages ließ sich diese nicht mehr verbergen, denn sie waren schon auf andern Wegen zu dem Heere gelangt – Minsk war verloren, vom Feinde besetzt. Als Rasinski im Biwak diese Nachricht von Regnard vernahm, wechselte selbst er die Farbe und bedeckte sich die Augen mit der Hand, als wolle er dieses Unheil nicht sehen. Dann brach er in die Worte aus: »So ist der Kaiser ein russischer Staatsgefangener!«

Ein düsteres Schweigen herrschte in dem Kreise ringsumher, in dem Jaromir, Boleslaw, Ludwig und Bernhard gelagert waren. Mit fragenden Blicken hingen sie an dem Angesicht ihres Führers und suchten noch eine Hoffnung auf seiner Stirn zu lesen. Doch vergeblich! Sie rollte sich in finstere Falten und blieb von schwarzen Wolken des Grams verhüllt. »Also auch das noch«, sprach er nach langer Pause, indem er aufstand. »Und dieser Winter, der uns anfangs mit hinterlistiger Tücke einen Monat zu früh überfiel, verrät uns jetzt zum zweitenmal, da er uns verläßt, wo er unser Bundesgenosse werden könnte. Minsk, so hart der Verlust ist, wäre zu verschmerzen, wenn uns die Beresina nicht mit ihren sumpfigen Tiefen gefangen hielte. Ein russisches Heer am andern Ufer dieses Stroms ist wie ein eherner Riegel, der uns die Tore, welche aus diesem Tartarus führen, unwiederbringlich versperrt!« – »Uns bleibt keine Hoffnung,« erwiderte Regnard, »als die, daß der Feind vor uns unsere Lage hier noch nicht kennen kann; daß er uns vielleicht fürchtet, vielleicht zu täuschen ist.« – Rasinski schüttelte ungläubig das Haupt. »Kutusow, meint ihr, werde keinen Boten gefunden haben, Tschitschagow, Wittgenstein und wie die Führer jener Massen in unserm Rücken heißen mögen, zu benachrichtigen? Ein Dämon müßte sie verblenden, wenn sie jetzt das Netz nicht über den köstlichsten Fang zusammenzögen! Es bleibt uns noch ein Ausweg – der ehrenvolle Kampf und Untergang. Auf die Bahn der Schmach kann uns das Geschick nicht zwingen, das aber ist auch seine einzige Gunst.«

Über Jaromirs Angesicht zuckte ein wehmütiges Lächeln, als Rasinski so sprach; Bernhard, der es bemerkte, erkannte daraus, welches die Hoffnung dieses im Tiefsten gebrochenen Herzens war. Seit der Unglückliche Alisettens Schicksal kannte, war außer dem verschlossenen Ernst, der seine jugendliche Freudigkeit seit jenem verhängnisvollen Abende zu Moskau in starre Fesseln geschlagen hatte, auch ein stiller Trübsinn über ihn gekommen, der oft einem weit hinweg verirrten Träumen glich. Der männliche Entschluß seiner Seele, durch energisches Handeln in seinem Beruf als Krieger die Schuld, mit der er sich beladen fühlte, zu versöhnen, war durch ein Versagen der Kraft, die außer der Grenze des Willens lag, gelähmt. Die klare kriegerische Besonnenheit, durch die er sich bisher in diesen Tagen der Bedrängnis selbst vor Boleslaw ausgezeichnet hatte, war verschwunden; das Elend um ihn her schien ihn ohne Anteil zu lassen, ja selbst die rührenden Freuden und Sorgen seiner liebsten Genossen, die Bernhards und Ludwigs um ihre Schwester und Geliebte, gewahrte er kaum, vollends daß er sie empfunden und geteilt hätte wie Rasinski oder Boleslaw.

Mit tiefer Trauer hatte der stets beobachtende Bernhard diese Umwandlung des Jünglings im geheimen bemerkt. Und jetzt, als das Wort der Verurteilung über alle seine Genossen, über die nächsten, welche er aus tiefster Seele liebte, über den Ruhm des Heeres und des Kaisers, ja über das Schicksal seines Vaterlandes ausgesprochen wurde, als er die Freunde von dumpfer Erschütterung wie versteinert vor sich sah, jetzt lächelte er, als dringe endlich ein Strahl der Freude in das Dunkel seiner Schmerzen. Er glich einem Gequälten auf dem Todeslager, der den Engel der Erfüllung vor sich treten sieht. Bernhard wurde daher durch den Anblick des unglücklichen Freundes selbst jetzt mit schauerlicher Ahnung bewegt, wo der zermalmende Keulenschlag der Weltgeschicke, der alle zugleich traf, ihn ebenso betäubend erschütterte als die übrigen auch. Dies wäre unmöglich gewesen, wenn derselbe Augenblick die Gewißheit des Verderbens und die Erfüllung geboren hätte; doch wenn zwischen beiden noch ein Arm des Zeitstroms braust, so vertraut der Mensch, selbst unwillkürlich, sein Heil noch dem gebrechlichen Nachen der Hoffnung, der auf den Wellen schwankt, an, und behält das Gefühl einer Gegenwart mit ihren Schmerzen und Freuden.

»Also ihm ist das zur Hoffnung und Erhaltung seiner Wünsche geworden, was in jedes andern Brust die Wünsche und Hoffnungen vernichtet?« dachte Bernhard und ließ seinen Blick wehmütig betrachtend auf dem bleichen Antlitz und dem erloschenen Auge des Jünglings weilen. »So gequält bist du Armer?« – Die Ahnungen des scharfblickenden Freundes gingen weiter. Der seiner selbst bewußte Jaromir hätte die Erlösung von seiner Marter, die mit der Vernichtung der Freunde, des Ruhms und des Vaterlandes erkauft ward, nicht mit einem Lächeln begrüßt! Das konnte nur der, dem schon die Bilder des Lebens sich zu verwirren begannen, für den sie in dämmernde Träume übergingen. Ach, schon längst hatte Bernhard es bemerkt, aber den Gedanken wie einen unheimlichen Feind zu verscheuchen gesucht, daß die Nemesis, welche die frevelvolle Alisette ereilt hatte, für Jaromir ein grausenhaftes Spiegelbild geworden war, in dem er sein eigenes Geschick vor sich sah.

Aber nicht dieses selbst, sondern der Gedanke, daß er es so verschuldet, daß sein Verbrechen die finstern Rachegestalten aufrufe und sie verfolgend an seine Füße hefte, folterte Jaromirs Brust mit namenlosen stummen Qualen, von denen er keine Erlösung sah als die Vernichtung, zu der er selbst den Arm nicht gegen sich aufheben durfte, ohne sich mit neuen Freveln zu belasten. In diesen steten, innern Martern verzehrte er sich, seine Kraft erlag, sein edler Geist verlor die Freiheit des Bewußtseins, das Grauen des Wahnsinns pochte schauerlich leise an die Pforte seiner Seele, und er bebte zusammen bei der eisigen Berührung. Wer will ihn jetzt richten, wenn das dunkle Tor des Todes ihm nur als das der Erlösung erschien, wenn seine gequälte Brust die Fähigkeit verloren hatte, es für andere anders zu denken?

Bernhard wandte sich mit einem von Schmerz bezwungenen Antlitz ab. Jetzt wäre die offene Freundesmitteilung eine erquickende Wohltat für ihn gewesen, doch er versagte sie sich selbst, um nicht diesen bittersten Schmerz auch auf Ludwigs und Boleslaws Seele, die noch ahnungslos an dem Abgrunde dieses neuen Schreckens hinwandelten, zu häufen. Das Geschick hatte ihre Brust ja schon genug zerschmettert; weshalb ihnen neue tiefe Wunden bohren? Aber zu Jaromir wandte er sich mit warmer Bruderliebe und versuchte, ob Worte des Trostes, der Hoffnung, der männlichen Erhebung zur Pflicht den finstern Raubvogel des Wahnsinns zu verscheuchen vermöchten, der in nahen Kreisen drohend über seiner Seele schwebte und sie mit den vergifteten Fängen zu zerreißen drohte.


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