Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.

Rasinski trat ein. Sein Auge war düster, seine Stirn gefurcht, »Freunde, ich denke, ihr seid Männer,« fing er an, »und werdet eine Widerwärtigkeit des Geschicks zu ertragen wissen. Aber euere Sache steht schlimm, und zwar durch Sie selbst, liebster Freund,« hierbei wandte er sich zu Bernhard; »denn der Portier des Hauses, wo St.-Luces einquartiert ist, hat Sie verraten!«

»Teufel! Und wie wäre das möglich!« rief Bernhard.

»Auf die leichteste Weise von der Welt. Denn nachdem Sie sich nach dem Fremden, den ich Ihnen als St.-Luces' Sekretär, Beaucaire, bezeichnen kann, erkundigt hatten und das Haus wieder verließen, stand er oben im Erker. Natürlich mußte es ihm auffallen, daß Sie ihm nachgegangen waren; er erkundigte sich daher seinerseits ebenfalls nach Ihnen und erfuhr, da der Portier Sie kennt, was er nur wünschte. Der unglaublichste Zufall von der Welt hat es überdies gefügt, daß derselbe Portier gestern mit in Pillnitz gewesen ist und Sie dort mit unserm Freunde Ludwig, den er leider so gut kennt als Sie, Arm in Arm gesehen hatte, als Sie daselbst St.-Luces und Beaucaire begegneten. Jener ist der gewandteste Spitzbube von der Welt und dieser scheint es zu sein. Es konnte also nicht fehlen, daß ihnen bald nichts mehr zu entdecken blieb als das ausgedehnte Komplott, welches sie mutmaßen, weil Ludwig auf so kühne Weise befreit worden ist.« – »Eine Kugel möchte ich mir durch den Kopf jagen!« rief Bernhard. – »Und meine Mutter?« fragte Ludwig.

»Ist bereits von allem unterrichtet.«

»Hat man sie schon beunruhigt?«

»Noch nicht, denn glücklicherweise kennt der Portier nur Ihren Namen, aber weiß nicht, wo Sie wohnen. Das ist man soeben auszuforschen bemüht. Darüber werden indessen einige Stunden vergehen, und diese müssen wir benutzen. Ich habe bereits einen Plan gemacht und werde meine Anstalten noch zeitig genug vollendet haben. Für jetzt nur diese Benachrichtigung, denn ich muß augenblicklich wieder fort.«

»Nur eine Minute!« rief Ludwig. »Wenn ich mich nun, um alle, die in meine Sache verwickelt sind, mit einem Schlage von jeder Verantwortung zu befreien, freiwillig zur Untersuchung stellte?« – »So könnte ich nicht für Ihr Leben bürgen, junger Freund,« erwiderte Rasinski ernst; »denn Sie haben, wie man mir gesagt hat, einem der gefährlichsten geheimen Agenten unserer Feinde in Italien, dem man jedoch schon auf der Spur war und bei welchem man die wichtigsten Papiere zu entdecken gewiß sein durfte, zur Flucht verholfen.« – »Nannte man Ihnen denselben?« fiel Ludwig lebhaft ein, denn er hoffte, so eine Spur von der Verschwundenen, der er sein Herz geweiht, zu erhalten.

»Nein,« erwiderte Rasinski; »ich fragte selbst danach, doch die Antwort war, dies sei ein diplomatisches Geheimnis, das vermutlich nur St.-Luces kenne und, weil die Verhältnisse noch nicht gelöst seien, wohl noch lange ein Geheimnis bleiben werde. Wissen Sie wirklich gar nichts darüber?«– »Nicht das mindeste,« erwiderte Ludwig; »in diesem Punkte bin ich also wenigstens völlig ohne Schuld!« – »Ihr Wissen oder Nichtwissen, wenn man Ihnen auch glauben wollte,« antwortete Rasinski, »kommt dabei leider durchaus nicht in Betracht. Unser Kriegsgesetz bestimmt Ihnen den Tod. Fassen Sie indessen Mut! Sie werden vielleicht ein Opfer bringen müssen, aber ich denke, es wird mir gelingen, Sie zu retten. Für jetzt leben Sie wohl, Sie sollen bald von mir hören. Noch eins, meinen beiden jungen Kameraden dürfen Sie in allem blind vertrauen, sie sind mir treu wie Söhne ergeben.« Er ging.

Ludwig und Bernhard blieben in sorgenvoller Unruhe zurück; beide jedoch am wenigsten um ihrer selbst willen. Bernhard machte sich die bittersten Vorwürfe. »Daß ich alles so leichtsinnig nehme!« rief er aus. »Meine Torheit stürzt dich ins Verderben und mich dazu, denn ich kann alles ertragen, nur nicht ein mit Vorwürfen belastetes Herz und Gewissen.«

»Deine Absicht war die beste, lieber Bernhard« entgegnete Ludwig sanft; »und kannst du es vergessen, daß ich die Hoffnung, die mir noch bleibt, allein dir verdanke? Wäre ich nicht vielleicht schon jetzt verurteilt, wenn du mich nicht aus den Händen meiner Feinde befreit hättest?«

»Gäbe mir das etwa ein Recht,« fiel Bernhard heftig ein, »dich jetzt ans Messer zu liefern? Und bei Lichte besehen war meine Handlungsweise in Pillnitz auch eine verrückte! Standen die Sachen nicht schlimm, so hätte ich sie schlimm gemacht!«

»Es war doch gut,« antwortete Ludwig, indem er sich bemühte zu lächeln, »daß du dort nicht so vernünftig warst als jetzt. Ich säße sonst vielleicht auf dem Königstein oder hier in irgendeinem Gefängnis und wartete auf den Geistlichen, der mich bis an den Sandhügel begleiten sollte.«

Bernhard sah ihm mit seinem dunkeln wilden Auge treu und wehmütig ins Gesicht; plötzlich breitete er die Arme aus, drückte den Freund heftig ans Herz, küßte ihn und rief: »Bruder! Mich absolviert niemand, wenn ich's nicht selbst kann! Und glaube mir, ich bin ein strenger Beichtvater gegen mich! Hier hilft nichts als gut machen. Ich habe den Karren in den Morast geschoben, so will ich wenigstens treu daran helfen, ihn herauszuziehen. Und geht's nicht, so sollen mich alte Weiber verspotten, wenn ich nicht alles mit dir ausharre und dulde, was dir die Haut naß macht. Ja, ich schwöre es dir, hängen sie dich auf und lassen mich frei, so hänge ich mich selbst daneben.« – »Guter! Lieber!« sprach Ludwig bewegt und hielt ihn fest umschlossen. »Du rauher Diamant! Aber dein Inneres ist lauterer als Kristall.«

Die Freunde wurden durch ein Geräusch an der Tür unterbrochen; es war der rückkehrende Rasinski. Ludwig und Bernhard blickten ihm gespannt ins Gesicht. »Ich will euch,« begann er ohne Umschweife, »mit einem Worte euer Schicksal verkünden, Freunde, denn ihr seid Männer. Ich kann euch retten, wenn ihr in mein Freibataillon treten wollt; die Uniform bahnt euch den Weg aus Dresden, sonst weiß ich keinen, den die Ränke eurer Feinde euch nicht verlegt hätten. Überdies seid ihr alsdann vor jeder fernern Nachforschung sicher; denn einmal bei der Armee angekommen, steht ihr unter meinem Schutz, unter meiner Aufsicht. Ich weiß, die Wahl, die ihr zu treffen habt, ist hart, allein sie ist die einzige.«

»Und könnten wir nicht unter dem Schutz der Uniform die Stadt verlassen und nachher einen andern Weg einschlagen?« fragte Bernhard, in dessen Seele ein mißtrauischer Gedanke gegen Rasinski aufstieg.

»Ich kann euch nur Pässe nach Warschau ausfertigen, dazu habe ich Erlaubnis und die nötigen Mittel. Dort müßt ihr euch bei dem Divisionskommando, dem ich zugehörte, melden. Nähmet ihr einen andern Weg als den, welchen meine Pässe euch vorschreiben, so würdet ihr als Deserteure behandelt werden, und ich selbst vermöchte nicht mehr euch zu schützen. Und auf welche andere Weise wolltet ihr aus Dresden entkommen? Wohin wolltet ihr euch wenden? Bei der Polizei seid ihr bereits signalisiert und als Flüchtige oder irgendwo Verborgene angegeben. Alle Behörden erhalten die Weisung, euch aufzugreifen; auf dem ganzen Kontinent befindet sich kein einziger Punkt, wohin die Macht der französischen Polizei – denn diese ist es, die euch verfolgt – nicht reichte; ausgenommen die Armee, wo man euch erstlich nicht sucht, und wo sich zweitens durch die unmittelbare Einwirkung des Chefs alle Nachforschungen der Art vereiteln lassen, wenn er sie vereiteln will.«

»Ich werde mich in das, was unvermeidlich ist, zu fügen wissen«, sprach Ludwig Mit Fassung. »Doch – meine Mutter, meine Schwester werden untröstlich sein! In ihrer Seele leide ich unaussprechlich! Und in deiner, mein Bernhard! daß ich dich in diesen Abgrund ziehe – –« Hier wandte er das Haupt und legte die Hand schwermütig gegen die Stirn. – Bernhard hielt das Auge finster schweigend auf den Boden geheftet; nach einigen Augenblicken begann er: »Soldat oder Galeerensklave zu sein, ist nach meinem Gefühl dasselbe. Ich meinesteils ließe mich mit Vergnügen statt dessen hängen. Doch wenn mich auch das Schicksal nicht jetzt mit dir zusammenkuppelte, wenn ich frei wie ein Vogel von hier nach England zurückfliegen könnte – hier meine Hand darauf, ich zöge doch die Uniform an und würde dein Kamerad. Ich verlange nichts weiter, als daß du mir dies glaubst.« Ludwig reichte ihm stumm die Hand, blieb aber abgewendet in tiefster Erschütterung stehen.

»Ihr werdet euer Los liebgewinnen lernen, meine Freunde,« sprach Rasinski; »denn ich hoffe, ihr sollt nur die schöne, die rühmliche Seite unsers Standes kennen lernen. Ihr tretet als Volontärs ein; ich werde euch durch irgendein Dienstverhältnis zunächst an meine Person knüpfen. Wir wollen dann als Freunde und Zeltkameraden leben. Es stände in meiner Gewalt, euch sogleich zu Offizieren zu ernennen; aber es wäre wider mein Gewissen und wider euer eigenes Wohl. Denn als Befehlshaber, wenngleich einer geringen Mannschaft, würdet ihr eine Verantwortlichkeit haben, von der euch selbst der Kaiser nicht entbinden könnte. Um aber dabei nicht Gefahr zu laufen, müßtet ihr den Dienst verstehen, den Krieg kennen. Der Ehrgeiz des Soldaten kann euch nicht treiben; daher ist das Verhältnis, das ich euch bestimme, ein ungleich besseres für euch. Euere Bildung sichert euch die Gemeinschaft mit den Offizieren; meine Freundschaft für euch wird euch die andern Vorteile schaffen, die dem Gebildeten wert scheinen. Wenn nur wenige Monden vergangen sind, so läßt sich indessen vielleicht ein Ausweg finden, der alles ins gleiche bringt. Betrachtet euern neuen Stand als eine Verkleidung, die ihr einstweilen gewählt habt; in irgendeiner Verkappung müßtet ihr dennoch das spähende Auge euerer Feinde zu täuschen suchen. Diejenige, welche ich euch vorschlage, scheint mir wenigstens die ehrenvollste, die am leichtesten zu ertragende und, was am meisten in Betracht kommt, die einzig sichere.« Rasinskis vernünftige, wohlwollende Rede flößte selbst dem starrsinnigen Bernhard Vertrauen ein und brach seinen heftigen Widerwillen in etwas. Ludwig erkannte, daß ihm keine Wahl blieb; mit geläuterter Kraft seines Willens wußte er das Notwendige frei zu tragen. Doch Freund, Schwester und Mutter in dieses Unglück zu verflechten, das schmerzte ihn in tiefster Brust.

»Weiß meine Mutter schon,« fragte er mit zitternder Stimme, »um das Geschehene?« – »Sie ist hinlänglich vorbereitet,« antwortete Rasinski, »und hat sich mit einer Festigkeit dem Notwendigen unterworfen, die ich bewundern muß. Ihre Schwester ist ungleich tiefer erschüttert.« – »Marie!« rief Ludwig schmerzvoll aus. »O, ich weiß auch, was sie dabei am bittersten kränkt! Das deutsche treue Herz!« Über Bernhards Stirn flogen finstere Wolkenschatten.

»Wird man aber,« fragte Ludwig, »meine Flucht nicht meiner Mutter zur Schuld anrechnen? Wird sie nicht die Rache der Gewalthaber zu fürchten haben? Erfahre ich, daß man ihr nur die leiseste Kränkung zufügt, so kehre ich zurück!« – »Beruhigen Sie sich,« antwortete Rasinski; »bereits habe ich alles so eingeleitet, daß die Ihrigen nichts zu fürchten haben. Sie sind in diesem Augenblicke schon nicht mehr in Dresden, sondern auf dem Gute Ihrer Tante« – »Wie?« rief Ludwig; »so sollte ich sie vielleicht nicht wiedersehen?« – »Ich denke doch,« antwortete Rasinski, »obwohl ich's Ihnen nicht gewiß versprechen kann.« –»Das wäre das Härteste von allem«, seufzte Ludwig. »Sollte aber der Aufenthalt auf dem Gute hinreichend sicher sein?«

»Er ist es vorläufig für einige Tage, alsdann wird sich manches anders gestalten, denn aus sicherer Quelle weiß ich, daß St.-Luces nicht länger als höchstens noch zwei Tage hier bleiben kann. Ist er, den ich allein für fähig halte, ränkesüchtig zu verfahren, erst fort, so geht die Sache ihren gewöhnlichen Gang; und alsdann wird, nach den Einleitungen, die ich getroffen, nichts mehr zu besorgen sein. Nur müssen Sie beide mir Ihr festes Versprechen geben, ganz nach meiner Vorschrift zu handeln; sonst kann ich für nichts bürgen.« – »Unbedingt« rief Ludwig.

Bernhard schwieg; in seiner, alle Verhältnisse spähend überschauenden Seele keimte der furchtbare Argwohn auf, daß Rasinski es nicht redlich meine. Fast war er entschlossen, sich mit einem kühnen Schritte Gewißheit zu verschaffen und zu erklären, er werde nicht gehorchen, werde nicht Soldat werden, sondern allein für seine Rettung sorgen. Nur der fest gefaßte Vorsatz, daß er Ludwigs Schicksale teilen wolle, mochten sie sich auch noch so rauh gestalten, hielt ihn von der Unbesonnenheit, die er zu begehen im Begriff war, zurück. »Ich teile in allem, was da kommen mag, Schicksal und Entschluß meines Freundes; mehr kann ich nicht versprechen«, sprach er nach einigen Sekunden und reichte dem Grafen die Hand dar. Rasinski ahnte etwas von dem, was in seiner Seele vorgegangen sein mochte; es machte ihn einen Augenblick unwillig, doch sein großmütiger Sinn verzieh das Unrecht, welches ihm durch den Verdacht angetan wurde, fast so schnell, als er es entdeckt hatte.

»Nun denn,« antwortete Rasinski, »so hören Sie was geschehen ist, und was noch geschehen soll. Ich kenne die Frauen; ihre Gewissenhaftigkeit ist oft so groß, daß sie sich selbst gegen die teuflischste Arglist nicht durch irgendeine Unwahrheit zu waffnen vermögen. Mein ganzer Versuch, Sie zu retten, konnte an dem Unvermögen Ihrer Mutter oder Schwester scheitern, bei einer richterlichen Frage irgendeinen Umstand nur zu verschweigen, vollends aber ihn anders anzugeben. Diese schöne Reinheit weiblicher Gesinnungen, die sie in der Zurückgezogenheit von dem uns Männer so vielfach befleckenden Verkehr des Lebens bewahren, konnte hier unser aller Verderben werden. Darum wählte ich den sichersten Weg, nämlich den, die Ihrigen nur so weit zu unterrichten, wie sie aussagen dürfen, ohne uns schaden zu können. Mit dem Zettel von Ihrer Hand, der mir als Vollmacht dienen sollte, sandte ich einen mir durchaus ergebenen Kriegsgefährten, den ich gestern vormittag hier traf und auf dessen Treue ich Felsen bauen kann, zu Ihrer Mutter. Er mußte darauf dringen, daß sie sofort mit Ihrer Tante nach dem Gute abreisen solle, indem Sie gestern in Pillnitz in einen Ehrenhandel mit einem französischen Offizier geraten seien, der heute in aller Frühe entschieden würde und Sie nebst Ihrem Freunde und Sekundanten Bernhard vielleicht zwänge, Dresden auf das schleunigste zu verlassen. Alsdann bliebe Ihnen kein anderes Mittel, sie noch zu sprechen, als auf dem Gute der Tante. Diese Nachrichten, beglaubigt durch die Zeilen Ihrer Hand, reichten hin, die Ihrigen zu bestimmen. Und wenn man sie jetzt auf der Folter befragte, so würden sie nichts anderes auszusagen wissen, als was ich Ihnen soeben erzählt habe. Sie selbst werden nun dafür zu sorgen haben, Ihre Mutter zu einem Aufenthalte von einigen Tagen auf dem Gute zu bestimmen, unter dem Vorwande, daß alsdann die ersten unangenehmen Folgen, denen sie mit ausgesetzt wäre, vorüber sein würden.«

Bernhard erkannte jetzt seinen Irrtum mit froher Reue. »Vortrefflich, schlauer Odysseus,« rief er aus, »ihr schafft uns wirklich aus der Höhle des Zyklopen heraus. Nehmt dafür hier meine Hand zum Pfande, daß euch mein Kopf jederzeit zu Diensten stehen soll.«

»Ihr seht wohl ein, liebe Freunde,« begann Rasinski freudig, »daß ich euerer beiderseitigen Zustimmung gewiß sein mußte; denn wolltet ihr nicht durchaus nach meiner Vorschrift handeln, so könnte unser ganzes Spiel aus Mangel an Übereinstimmung der Maßregeln verloren gehen. Falls das Gut nicht so weit von der Straße nach Posen, die ihr noch heute einschlagen müßt, entfernt liegt, so ist bei dem Abschiede nichts zu besorgen. Einen großen Umweg aber dürfen wir wegen des Zeitverlustes nicht wagen.«

»Gott sei Dank,« rief Ludwig und drückte dem Grafen froh bewegt die Hand; »das Gut liegt nicht eine Viertelstunde abseit der Straße.«

»Jaromir und Boleslaw,« fuhr Rasinski fort, »sind schon von allem unterrichtet. Für Jaromir habe ich einen Kurierpaß ausgewirkt, unter dem Vorwande, daß ich ihn der Organisation meines Regiments wegen aufs schleunigste voraussenden müsse. Ihr beide erhaltet Pässe von mir, als euerm Chef, und begleitet ihn; diese Legitimationen genügen vollkommen. Boleslaw hat auf seine Figur, die der eurigen gleicht, bei einem französischen Regimentsschneider schon zwei Uniformen anmessen lassen, die noch diesen Nachmittag abgeliefert werden, so daß ihr am hellen Tage unerkannt zur Stadt hinausfahren könnt. Für Geld und sonstige Bedürfnisse werde ich schon sorgen, wenn ihr nur erst in Sicherheit seid, und vorläufig ist Jaromir mit allem versehen.«

Dieser trat eben ein. Er war nach Jugendart voller Freude, daß ihm der abenteuerliche Auftrag geworden war. Aufs herzlichste begrüßte er die beiden Kameraden und versprach ihnen die fröhlichsten Tage. »Ihr wißt noch nicht, wie prächtig der Krieg ist«, rief er aus. »Es ist ganz gut hier in Dresden, es ist sogar wunderschön,« dabei errötete er ein wenig, weil er vermutlich an eins der schönen Mädchen dachte, die er gestern kennen gelernt; »aber doch möchte ich den sorglosesten Aufenthalt hier nicht mit Pferd und Säbel vertauschen. Das reizendste Glück würde mich unglücklich machen, wenn ich niemals wieder zu Roß steigen und mitfechten sollte! Und dann sollt ihr Warschau sehen, meine Vaterstadt! O, sie wird euch gefallen!« Die Liebenswürdigkeit des offenen Jünglings verfehlte selbst in diesen ernsten Minuten ihres Eindrucks nicht. Bald kehrte auch Boleslaw zurück, der die Nachricht mitbrachte, daß die Uniformen auf den Schlag sechs Uhr eintreffen würden. Dieser ernste Jüngling empfand, so sehr er dem Kriegsstande anhing, doch die Lage Bernhards und Ludwigs in ihrer Wahrheit und schenkte ihnen die herzlichste Teilnahme.

So verstrich die Zeit in kameradschaftlich herzlicher Vertraulichkeit. Endlich schlug die Stunde des Aufbruchs. Die Uniformen waren gekommen; Bernhard und Ludwig wurden eingekleidet; Jaromir machte sich reisefertig; der Postillon stieß ins Horn, sie stiegen ein und rollten in der glänzenden Verkleidung mitten durch die Stadt und durch die zahlreiche Menge der Spaziergänger vor dem Tor dahin, ohne daß einer derselben ahnte, ein wie ernstes, seltsames Geschick unter dieser heitern Äußerlichkeit verborgen sei.

Bald hinter der ersten Station, die sie gegen Abend erreichten, lag das Haus, wo Ludwig die Seinigen zum letzten Male umarmen sollte. Rasinski hatte ihnen wohl eingeschärft, sich daselbst nicht in der Uniform blicken zu lassen, auch war es Jaromir zur besondern Bedingung gemacht worden, die Freunde nicht zu begleiten, so gern dieser auch noch von Marien, Emma und Julien Abschied genommen hätte. Gleichsam als rüsteten sie sich auf die Nacht, legten daher Ludwig und Bernhard die Uniformen ab, zogen ihre Überröcke an und entfernten sich. Während Jaromir zum Schein beim Abendessen verweilte, gingen sie unvermerkt aus dem Posthause, um das schmerzlich süße Lebewohl zu sagen. Ludwig, dem alle Pfade der Gegend wohlerinnerlich waren, führte Bernhard so, daß man an die Hintertür des Gartens gelangte, welche für einen Kundigen leicht zu öffnen war. So erreichten die Freunde in tiefer Dämmerung das Haus; vorsichtig blickten sie erst zwischen die Spalten der Fensterladen in das Wohnzimmer, in welchem schon Licht brannte, hinein, ob nicht ein Fremder anwesend sei. Nur die Frauen saßen, mit weiblichen Arbeiten beschäftigt, beisammen. Zitternd pochte Ludwig an die Tür; als er sie öffnete, flog ihm zuerst Marie entgegen und hing weinend an seinem Halse. Die Mutter versuchte aufzustehen, doch sie vermochte es nicht; Ludwig hatte sich tausendmal die männlichste Fassung vorgesetzt, aber jetzo fühlte er, wie seine Kraft dem Schmerz zu erliegen drohte. Er ging auf die Mutter zu, beugte sich über ihre Hand und küßte sie mit ehrfurchtsvoller Innigkeit. Tief erschüttert legte sie die Rechte auf des Sohnes Haupt und sprach: »O Ludwig, wüßtest du, wieviel Jammer schon ein Zweikampf über mein Leben gebracht hat, du hättest mir diese Sorge vielleicht erspart. Doch vielleicht mußte es sein! Ich will nicht richten; aber darf ich dieses Haupt auch segnen? Gehört es nicht einem unglücklichen Schuldigen?« – »Wahrlich, du darfst es«, sprach Ludwig fast mit dem Ausdruck der Freude. »Es haftet keine Schuld an mir!« – »So wäre,« rief die Mutter freudig, »alles glücklich beendet, und du dürftest nicht flüchtig werden?«

Ludwig erschrak über den eiteln Wahn der Freude, den seine unvorsichtig rasch ausgesprochenen Worte bei der Mutter erzeugt hatten; er geriet in Verwirrung, denn er wußte nicht, wie er sich helfen und der Flucht jetzt noch einen geschickten Vorwand leihen sollte. Bernhard, der indessen gleichfalls näher getreten war, rettete ihn durch seine Geistesgegenwart. »Ludwig ist völlig schuldlos,« sprach er; »er dürfte den heiligsten Eid der Reinigung schwören. Aber nicht jeder, den der unparteiische göttliche Richter freisprechen muß, wird von dem weltlichen für unschuldig erklärt, zumal wenn derselbe, wie es hier der Fall sein würde, sein Richteramt in eins der Rache verwandeln will. Unsere Flucht ist für jetzt unvermeidlich, es sind uns nur wenige Augenblicke des Abschieds gestattet. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen, denn nur das möglichste Nichtwissen bewirkt es, daß Sie und vielleicht alle, die hier versammelt sind, möglichst gering in unser Verhältnis verwickelt werden.«

Marie, in deren Auge bei Ludwigs Worten selige Strahlen der Hoffnung geglänzt hatten, wurde jetzt wieder bleich und neigte sich weinend und bebend gegen die Schulter des Bruders. »Wir haben dich jahrelang entbehrt,« rief sie, von ihren Tränen unterbrochen, mit schmerzlicher Heftigkeit aus: »endlich umarmen wir dich wieder, und schon nach wenigen Stunden wirst du uns aufs neue entrissen, und wer weiß, für wie lange Zeit! O das ist grausam!«

»Fasse dich, liebe Schwester,« sprach Ludwig, der in dem Schmerz Mariens die verdoppelte Aufforderung fand, sich männlich zusammenzuraffen; »du bist so sanft, so gut, du kannst niemand zürnen, der dich gekränkt hat. Trage auch diesen Schmerz sanft, den der Geber alles Guten uns sendet. Seine dunkeln Wege werden endlich doch zum Heile führen!«

»Ach Ludwig!« Mehr vermochte die ganz Überwältigte nicht hervorzubringen. Der Bruder hielt sie in sanfter, liebender Umarmung, bis er fühlte, daß ihre bebende Brust sich erleichterte. Dann sprach er: »Lebe nun wohl! Meine Mutter, lebe wohl; ihr alle, alle ihr Lieben – ihr sollt von mir hören!« Jetzt wollte er, weil er fühlte, daß er seinem Schmerz nicht mehr gebieten könne, sich losreißen und schnell hinaus. Doch Marie ließ ihn noch nicht; sie umschlang ihn noch einmal und bedeckte ihm das Antlitz mit Küssen und Tränen. Plötzlich faßte sie sich. Sie trocknete das Auge und sprach: »Nun geh', Lieber! Du wirst uns alle in treuem Angedenken behalten, das weiß ich! Doch, wohin flüchtest du?«

Jetzt hatte Ludwig die Kraft verloren; Bernhard, der bisher ein stummer, aber im Innersten bewegter Zeuge von der rührenden Liebe Mariens zu ihrem Bruder gewesen war, antwortete statt seiner: »Noch muß auch das ein Geheimnis bleiben! aber sorgen Sie nicht, Sie werden bald Nachricht erhalten.« Marie sah Bernhard mit sanften, tränenfeuchten Blicken an: »Sie sind sein Freund, Sie sind so gut, o verlassen Sie ihn nicht, bleiben Sie sein treuer Begleiter, sein Bruder, denn die Schwester muß er ja entbehren – ich will dann auch Ihre Schwester sein, und er selbst soll meiner Sorge künftig nicht näher stehen als Sie.« Dabei reichte sie ihm die Hand dar, um sein Versprechen zu empfangen..

Als Bernhard ihr in das holde, traurigbittende Auge sah, aus dem die treueste Seele so rein glänzte, verlor er selbst fast die entschlossene Haltung. Ihre Blicke fielen wie Mondlicht in die dunkeln, unruhigen Wogen seiner Brust. Es war ihm plötzlich, als könnten alle Stürme des Geschicks durch ein so sanftes Wort beschwichtigt werden, als müsse selbst sein brausender Lebensstrom plötzlich mild und klar zwischen heitern Ufern dahinwallen, wenn sie es geböte. Eine Wehmut überkam ihn, die sein trotziges, ehernes Herz weich auflösen wollte. Schien es ihm doch, als tönten süße, längst verhallte Klänge aus der Kindheit herüber, als sähe er weitverwehte Traumbilder alter schöner Zeiten wieder aufsteigen – sein dunkelbrennendes Auge wurde durch eine Träne feucht verschleiert. »Das Schwesterherz darf ruhig sein,« sprach er bewegt, »ein Bruderherz soll es vertreten. Aber jetzt müssen wir fort!« Er faßte Ludwigs Arm und riß ihn eilig mit sich hinweg.

Als sie einige Minuten stumm durch die Nacht gegangen waren, begann Bernhard: »Es gäbe gar kein Unglück ohne die Weiber, freilich auch kein sonderliches Glück; aber ihre Tränen versalzen und verbittern alles, was sonst im schlimmsten Falle nach nichts schmeckt. Keine Prise Schnupftabak fragte ich danach, ob wir beide in Rußland von den Wölfen gefressen würden oder nicht, wenn du nicht Mutter und Schwester hättest. Aber deine Schwester ist brav geworden; sie war schon immer ein gutes Kind, und ich entsinne mich jetzt, daß sie mich einmal recht sanft und liebreich verbunden hat, als ich mir hier auf dem Gute die Stirn blutig gefallen hatte von dem großen Birnbaume herunter. Sie hat dich lieber, als du es verdienst, denn wir Männer taugen insgesamt nicht genug, um recht geliebt zu werden. Es muß aber wohltun. Ich hab's noch nicht erfahren, am wenigsten von Eltern oder Geschwistern. Mich hat das Schicksal spartanisch behandelt, denn – zwar weiß ich nicht, ob ich bei der Geburt kränklich war – aber es setzte mich gleich danach einigermaßen aus in die Wildnis. Nun, dem König Agesilaos ging's auch nicht besser! Wer weiß, für welchen Thron ich bestimmt bin; in unsern Tagen fällt so etwas ja kaum auf. Nun, du bist ja so still? Schäme dich! Der Abschied ändert doch nichts in der Sache? Warum sollten wir jetzt bewegter sein als vor einer Minute?«

»Und du bist es selbst, Bernhard«, entgegnete Ludwig sanft. »Schäme dich nicht deiner Rührung, sie zeugt von deiner Menschlichkeit! Weil wir menschlich fühlen, gehorchen wir den Sinnen und der Macht der Gegenwart!« – »Amen, du hast recht, Bruder«, rief Bernhard und reichte dem Freunde die Hand. Beide standen still. Feierliches Dunkel umhüllte sie; das Gebirge lagerte sich schwarz am klaren Horizont, die Sterne leuchteten sanft; ein heiliges Schweigen, wie im Tempel des Gottes, herrschte ringsum. Da sanken die Freunde einander in die Arme, hielten sich fest umschlungen und taten ein stummes Gelübde unverbrüchlicher Treue.

»Das soll die letzte weichherzige Minute gewesen sein,« sprach Bernhard, nachdem er einen sanften Bruderkuß auf Ludwigs Lippen gedrückt hatte, »von nun an laß uns wie alte Steuermänner kalt und besonnen im Sturm des Schicksals bleiben. Wir sind Soldaten geworden und müssen wenigstens für die deutsche Männerehre fechten, da es keinen Kampf fürs deutsche Vaterland gilt. Wenn mir die rote Morgensonne in die Augen scheint, soll sie zittern und erblassen vor dem Eisenfressergesichte, das ich mir diese Nacht anzulegen denke. Nun vorwärts, Kamerad, wir kommen sonst zu spät in Dienst!« Sie beschleunigten ihre Schritte und erreichten nach wenigen Minuten die Station, von der sie rasch weiter ihrer abenteuerlichen Zukunft entgegeneilten.


 << zurück weiter >>