Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Fünftes Kapitel.

Am andern Morgen war Jaromir zuerst wach, sprang schnell von dem Lager auf und weckte die Freunde; denn jetzt sollten die ernsten Stunden der dienstlichen Tätigkeit beginnen. Bernhard und Ludwig waren rasch in Uniform; man schickte sich an, auszugehen. Im Palast war noch alles still; auch auf den Straßen regte sich kein Laut. Der Weg führte die drei Freunde durch die Seitenstraße, in welcher Alisette wohnte. Bernhard warf in der Erinnerung an den gestrigen Abend spähende Blicke hinauf. Die Fenster waren noch durch die Jalousien geschlossen. Jaromir blickte dagegen nach den Fenstern des Palastes gegenüber, die durch weiße Vorhänge verhüllt waren.

»Was sucht denn dein Auge dort oben?« fragte Bernhard ahnend; »hier hinüber wende es, denn in einem dieser Häuser muß, wie sie mir gestern sagte, die liebliche Françoise Alisette wohnen.«

»Und dort wohnt –« rief Jaromir lebhaft, stockte aber plötzlich, denn einer der Fenstervorhänge, nach denen er eben blickte, fing an sich zu bewegen, rollte auf, das Fenster öffnete sich, und Lodoiska beugte sich heraus. – Sie errötete im dunkelsten Purpur, als sie die drei jungen Männer erblickte; aber auch Jaromirs Wangen wurden von einer dunkeln Glut überflogen, und er geriet in eine solche Verwirrung, daß er fast zu grüßen versäumte, als Bernhard und Ludwig sich schon hinaufblickend verbeugt hatten.

»Ei, Gräfin,« sprach Bernhard mit Freiheit, »fürchten Sie die Morgenluft nicht? Kenner behaupten, sie sei der Schönheit nicht günstig!« – »Ich bin fast immer so früh im Garten«, sprach Lodoiska etwas befangen. – »So müssen die Kenner im größten Irrtum sein«, fiel Bernhard mit rascher Galanterie ein. Lodoiska senkte das schöne Auge mit Anmut und lächelte, aber erwiderte nichts.

Die Freunde grüßten nochmals hinauf und erhielten einen freundlichen Dank; dann verschwand Lodoiska vom Fenster und sie setzten ihren Weg fort. Ein Blick in Jaromirs Auge mußte einem so scharfen Kenner menschlicher Züge wie Bernhard sein ganzes Herz verraten. Er liebte, er wurde geliebt, das las sich in seiner und ihrer holden Freude, obwohl beide jetzt eben kein Wort miteinander gewechselt hatten. Aus der Lage der Gemächer erriet Bernhard auch sogleich, daß es niemand anders als Lodoiska gewesen sein konnte, die er gestern abend im Speisesaal gesehen. »Hm!« sprach er und blickte Jaromir im Scherz, aber prüfend an, »die junge Gräfin scheint am spätesten und am frühesten hier zu wachen im Hause. Wenn mich nicht alles täuscht, so habe ich sie gestern als eine Geistergestalt gesehen.« – »Was sahst du?« fiel Jaromir rasch ein; »was, ich bitte dich?« – »Wie, hättest du Gespensterfurcht?« fragte Bernhard ein wenig spöttisch. – »O laß den Scherz,« unterbrach ihn Jaromir halb unwillig, halb bittend; »sage mir, was du gesehen, es liegt mir etwas daran!«

»Ich sah lange nach Mitternacht,« sprach Bernhard bedeutsam betonend, »die Zimmertür eines jungen Offiziers offenstehen, und er selbst, so müde er von der Reise sein konnte, wachte noch.« – »Hast du gelauscht, Bernhard, ich bitte dich«, rief Jaromir. – »Ei, was ein böses Gewissen nicht tut!« lautete die scherzende Antwort. »Gelauscht? Nein! Aber ich sah Gespenster, weiße Frauen, verschleierte, geheimnisvolle Gestalten.«

»Ich werde ganz neugierig«, sprach Ludwig. »Gespenster? Abenteuer? Laß doch hören!«– »Liebe Freunde!« rief Jaromir, ohne Bernhards Antwort abzuwarten, und faßte beider Hände, »ich will ganz aufrichtig gegen euch sein, denn ich sehe, ich bin halb verraten. Aber schwört mir Stillschweigen, wenn euch mein Glück lieb ist.« – »Herzlich gern«, antwortete Ludwig und gab ihm die Hand. – »Beim Styx,« schwur Bernhard und tat desgleichen, »obwohl ich's kaum nötig hätte, da ich schon alles zuvor weiß und errate. Aber erzähle!«

Jaromir begann: »Lodoiska war die Gespielin meiner Jugend; sie ist meine nächste Verwandte. Wir haben unendlich glückliche Tage auf dem Landsitze ihres Vaters am Narew zugebracht. Soll ich es euch gestehen, daß ich, fast noch ein Knabe, die Holde schon liebte? Sie war erst dreizehn Jahre alt, als ich siebzehn zählte; aber sie blühte wie die lieblichste Rosenknospe und war schon damals so gut, so verständig, ach, tausendmal besser als ich! In dieser Zeit mußte ich mich von ihr trennen, ich wurde Soldat; das sind nun sechs Jahre her! Ich bin seitdem durch die halbe Welt verschlagen worden und habe nur im wilden Getümmel und Gebrause des Kriegs gelebt; aber glaubt ihr wohl, liebe Freunde, daß das Bild dieses zarten Kindes mich überallhin begleitet hat, daß, so mancher schönen Spanierin und reizenden Französin ich begegnete, doch keine einen tiefern Eindruck auf mein Herz machte als sie? Doch die Jahre und der Krieg verwehen viel! Wenn ich an die Heimat dachte, freilich, dann stand auch Lodoiska vor mir; aber seltener und seltener kam mir dieser Gedanke, und nachgerade verlor ich in dem ewigen Wechsel das Gefühl des Heimwehs. Wer nirgends zu Hause ist, wird gar bald überall zu Hause! Erst als wir die Türme von Warschau wiedersahen, erwachte die ganze alte Sehnsucht in mir, und auch Lodoiskas Bild schwebte lieblich und sanft wieder an meiner Seele vorüber. Aber ich konnte sie mir nur als das Kind von damals denken; zwar sagte ich es mir selbst tausendmal, daß sie eine Jungfrau geworden sein müsse, doch mein Herz sah sie nur wie sonst.«

»Und mir deucht, es sah sie richtig,« unterbrach Bernhard, »denn ihre Seele ist noch die eines Kindes und leuchtet durch ihre Schönheit hindurch wie durch eine durchsichtige Hülle. So lag das unschuldige Herz nie hinter dem klaren Kristall des Auges wie bei ihr; ich verstehe das, Bester, denn ich porträtierte manchen Engel, aber leider auch manchen Satan!«

»Du sprichst, als nähmest du die Worte aus meiner Seele«, rief Jaromir mit lebhaftem Ausdruck der Freude und hörte nicht auf den Zusatz, womit Bernhard die muntere Karikaturlarve auf die entgegengesetzte Seite des ernsten Profils zeichnete. »Deshalb waren wir auch gleich wieder so vertraut wie an dem Tage, wo wir uns trennten. Als wir gestern auseinandergingen, war ich daher ganz mißmutig, es quälten mich beunruhigende Gedanken, ich wußte nicht, was mir fehlte. Der Mond schien hell, die Nacht war so lau, ich lehnte mich ins Fenster; da sah ich eine weiße Gestalt durch die dunkeln Gebüsche des Gartens schweben. Wenn sie es wäre, dachte ich, und du könntest sie noch ein wenig sprechen! Ich flog hinab, suchte sie in allen schattigen Wegen, doch vergeblich. Da hörte ich plötzlich ganz leise in der Ferne die Töne des Liedchens, das sie uns abends gesungen; ich ging den Klängen nach und entdeckte das holde Wesen in einer Laube bei dem Springbrunnen. Anfangs wollte ich lauschen; doch schnell wurde ich unwillig auf mich selbst, ging näher, trat plötzlich vor sie hin und redete sie an.«

»Du warst sehr kühn, lieber Freund,« unterbrach Ludwig mit dem sanften Ton teilnehmender Bedenklichkeit; »du hättest damit viel verscherzen können.« – »Jetzt weiß ich's auch, wahrlich; aber gestern mußte ich, ich konnte nicht anders, wahrhaftig nicht!« erwiderte Jaromir und sah überaus redlich und glücklich aus.

»Habeas absolutionem, sed confiteri pergas,« sprach Bernhard gravitätisch; »ich glaube, ich hätte es ebenso gemacht. Aber die Gräfin, was tat sie?«

»Sie war erschrocken, sie zürnte, bat –«

»Ich kenne das,« unterbrach Bernhard; »ist man nicht schon vollends des Teufels vor Liebe, so wird man's danach. Weiter!«

»Aber sie reichte mir die Hand und war so himmelgütig – und –« Das jugendliche Herz Jaromirs wallte über, die vollste Seligkeit leuchtete ihm aus den Augen, zu sprechen vermochte er nicht weiter, aber er fiel Bernhard, er fiel Ludwig um den Hals und drückte heiße Küsse auf ihre Lippen. »Ludwig,« rief er aus, »sie will die Meine sein; süß widerstrebend gab sie mir das holde Wort, aber vertrieb mich gleich danach mit ängstlicher Hast. Jetzt vielleicht schon öffnet sie ihr reines Herz der Mutter; o Freunde, kann man denn glückseliger sein?«

Jaromir, der sich ganz den brausenden Wellen der Jugend und Liebe hingab, bemerkte nicht, wie ernst und tief bewegt Ludwig war, ja, wie selbst über Bernhards Stirn sich dunkle Falten zogen. Jener dachte an seine Liebe, die wie ein zerrinnendes Traumbild aus der Wirklichkeit seines Daseins verschwunden war; er hielt die Schattengestalt seines schmerzlichen Glücks gegen die lebendige, blütengekränzte, welche dem Jüngling an seiner Seite entgegentrat. Bernhard empfand vielleicht noch einen herbern Schmerz, weil die Liebe in seiner Brust dunkler und tiefer vergraben war. Für Ludwig glich sie einer unter dem Horizont versenkten Sonne, deren Abendröte die ganze Nacht hindurch nachschimmert, bis ein heller Morgen anbricht und das liebliche Gestirn wieder heraufführt; für Bernhard war sie nur ein schöner, unerreichbarer Stern, der die Strahlen in den tiefsten Schacht der einsamen Brust hinabsendet, ohne sie zu erleuchten. Hätte Jaromir ihn besser gekannt, ihn überhaupt in seiner tiefsten Tiefe zu verstehen vermocht, so würde er aus seiner Antwort sein Inneres begriffen haben.

»Glück zu!« sprach er und schüttelte ihm die Hand; »du darfst selig sein, wenigstens glücklich oder vergnügt, oder doch leidlich gelaunt. Weiche Arme sind eine sanfte Fessel, aber sie bleiben eine. Ein Käfig ist ein Käfig, sei er so eng wie der Vogelbauer, in dem Johann von Leiden am Turm zu Münster hing, oder so finster wie die schwarze Höhle in Indien, oder beides zugleich, wie das Loch, in dem wir alle stecken. Ich meine die Erde, nämlich die, auf der wir scheinlebendig umherwandeln, nicht das unermeßlich weite Grab – kurz, wie gesagt, Fesseln sind Fesseln, und man sollte froher sein, daß man noch ein paar ungelähmte Flügel hat zum Aufflattern. Was wollt ich aber sagen? Ja, nun verstehe ich auch meine Geistererscheinung, die ich hatte, als ich selbst umging und im Ahnensaal spukte.« Jaromir horchte gespannt auf; Bernhard erzählte sein Abenteuer im Saale, stellte sich aber dabei nur als einen Sonderling dar, der gern nachts in fremden Gebäuden umherschleiche, und tat weder der Ursache, die ihn getrieben, Erwähnung, noch des Verdachts, den er über Alisetten gefaßt.

Unter diesen Gesprächen hatten die Freunde das Ziel ihres Weges erreicht, nämlich den Exerzierplatz, wo Bernhard und Ludwig für jetzt den wirklichen Dienst beginnen, ihn in seinen kleinsten Anfängen erlernen sollten. Man fand bereits Reiter und Unteroffiziere zweier unvollständigen Schwadronen polnischer Lanciers, die den Stamm des neuen Regiments zu bilden bestimmt waren, versammelt. Jaromirs vorläufige Aufgabe bestand darin, aus diesen Trümmern ein Ganzes zu bilden. Währenddessen übergab er seine Freunde einem alten tüchtigen Graubart, damit er sie in den ersten Waffenübungen unterrichte. Johann Petrowski, ein Unteroffizier, der noch unter Kosciuszko gefochten, wurde ihr Lehrmeister. Er begann das Geschäft mit einer Art von Ehrfurcht, die ihm jedoch nicht der vornehme Stand seiner Rekruten, sondern nur der Ernst der Sache selbst einflößte. Denn es galt ja die Ausbildung zweier Krieger, die für das Vaterland fechten sollten; für das teuere, heilige Vaterland, dem Johann Petrowski in rüstigen Mnnnesjahren, als sein alter Feldherr Kosciuszko die Söhne Polens zu den Waffen rief, so freudig Blut und Leben zum Opfer dargebracht hatte. Jetzt war er der Schwelle des Greisenalters nahe, denn mit dem nächsten Frühling mußte er sich zu den Sechzigern zählen. Aber sein grauer Kopf, den mancher Säbelhieb getroffen, bot sich noch mit Freuden dem Dienste des Vaterlandes dar, und in dem alten Herzen glühte noch, wie Wein, durch das Alter nur veredelt, die alte heilige Flamme der Vaterlandsliebe, des Heldenmuts. Unter der halb kahlen, halb mit grauen Locken umkränzten Stirn leuchteten, von buschigen Brauen überschattet, zwei feurige Augen; die Adlernase bog sich würdig gegen die ernsten Lippen herab, die sich unter einem grauen Knebelbart, auf welchen Johann Petrowski ein wenig stolz war, fast verbargen. Er stand vor den beiden frischen Jünglingen wie ein alter, halbgehöhlter Eichenstamm vor zwei jungen kräftigen Bäumen einer neuen Pflanzung. Sein Antlitz schien zu sagen: Blickt mich nur an, so morsch und verwittert ich aussehe, vielleicht trotze ich, obwohl der Frühling mir keinen andern Schmuck mehr leiht als das kärgliche Moos, das meine rauhe Rinde ein wenig sanfter macht, doch den Ungewittern und Stürmen noch rüstiger als eure jugendliche Kraft. Denn ich habe weithin Wurzeln durch felsigen Boden getrieben, und wer mich stürzen will, muß den halben Hügel mit hinabreißen; ihr aber scheint mir nur in lockere Erde gepflanzt und euere Krone ist größer als euere Wurzel. Seine Kommandoworte: Gewehr auf, Gewehr ab, Rechtsum, Marsch und Halt! sprach er mit einem so feierlichen Ernst wie der Priester in der Messe das Dominus vobiscum. Seine Lehrlinge gehorchten ihm mit ebensoviel Liebe als Eifer; daher schritten sie rasch vorwärts, und Meister wie Zöglinge erfreuten sich aneinander. So verstrich den drei Freunden der ganze Tag in Dienstgeschäften, und erst abends gewannen sie Muße, ihre liebenswürdigen Hausgenossinnen zu sehen.

Aus Lodoiskas Augen glänzte das reinste Glück; die Gräfin hieß Jaromir so freundlich willkommen, daß dieser über ihre Gesinnung keinen Zweifel hegen durfte. Bernhard und Ludwig fühlten, daß einige ungestörte Augenblicke für Jaromir von höchstem Wert sein mußten; sie bereiteten sie ihm daher, indem sie sich auf ihr Zimmer zurückzogen, noch ehe er sie darum gebeten hatte. Fast zur Tafelzeit rief Jaromir selbst sie wieder hinunter und erzählte ihnen voller Freude: »Auch die Gräfin ist mir günstig, ist so mütterlich gütig; aber sie ist auch streng, denn sie hat mir geboten, bis Rasinski kommt, meinem Herzen zu gebieten, weil sie ihm die Entscheidung übergeben will. Darum jetzt kein Wort, keinen Blick, liebe Freunde, wodurch unsere Liebe verraten würde; ich habe es Lodoiska versprochen, folgsam zu sein, und will es männlich halten.« – »Brav, wacker!« sprach Bernhard kurz und rauh wie er pflegte; »und wir wollen deinem Beispiel folgen. Bist du fest, so will ich dir dafür auch zur Belohnung deine Braut malen, oder wenigstens zeichnen, wenn wir nicht mehr Zeit haben.«

So traten sie ein in den Gesellschaftssaal; kein Wort verriet das Glück, aber es weilte in stiller, segnender Gegenwart und lächelte aus aller Blicken. Denn auch die Freunde teilten, was den Freund beseligte.


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