Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Drittes Kapitel.

Sieben Tage waren verstrichen, seit der Kaiser Moskau verlassen hatte. Das Heer stand bei Malo-Jaroslawez, welches am Tage zuvor erstürmt worden war. Man erwartete gespannt den Befehl vorzurücken und hoffte, sich noch vor Kaluga mit Kutusows ganzer Stärke zu messen. In einer kleinen, elenden Hütte, die Rasinski zur Wohnung genommen hatte, harrten Ludwig, Bernhard, Jaromir und Boleslaw auf seine Rückkehr aus dem Hauptquartier, wohin er noch am späten Abend geritten war.

Den Freunden war jetzt Jaromirs Schmerz und seine Veranlassung sowie Alisettens Anwesenheit beim Heere kein Geheimnis mehr. Oft hatten sie ihn zu trösten, zu beruhigen versucht, doch vergeblich. Tief vergiftet war der reine Born seines Lebens; die Qual zehrte in seiner Brust und drohte den Jüngling zu zerstören. Boleslaw empfand Jaromirs Schmerzen in seiner reinen, edeln Seele fast so tief als dieser selbst. Gewöhnt an den männlichen Kampf der Selbstüberwindung, hatte er den letzten, entscheidenden Sieg über sich gewonnen und dadurch war ihm, mitten in der Trauer, im ernsten Gram eine freudige Kraft in die Seele gedrungen, die stets der Lohn sittlicher Siege ist. Es war sein wahrhaftes Bestreben, Jaromir wieder mit der Geliebten zu vereinigen, das zerrissene Band neu anzuknüpfen. Streng verbarg er es, welche Flamme in seinem Herzen für Lodoiska glühe; mit reiner Freundeswärme suchte er die welken Keime der Hoffnung in der Brust des Freundes neu zu beleben, die gesunkenen Blüten seines Glücks mit dem Tau des Trostes zu erfrischen. Auch Ludwig und Bernhard nahmen reinen Anteil der Liebe an Jaromir und hatten ihm seine Schuld in milder Seele vergeben; doch beide waren noch durch ihre Erlebnisse in Moskau sowie durch die ganze Betrachtung ihres eigenen, seltsam verschlungenen Geschicks zu tief aufgeregt, um sich ganz in die Seele des Freundes zu vertiefen. Boleslaw dagegen wurde eben durch das Band der gleichen Liebe mächtig zu Jaromir hingezogen; er trug gleiche Schmerzen mit ihm, und darum verbanden sich die Seelen beider jetzt am innigsten. Er liebte edel, uneigennützig, wie großgeartete Seelen müssen; deshalb stand nicht der eigene, sondern der fremde Schmerz in seiner erschütternden Größe zunächst vor ihm. Er gedachte der einsamen, verlassenen, durch Jaromirs Verurteilung seiner selbst ganz vernichteten Lodoiska. Weil er sie mit heiliger Glut, verschwiegen liebte, schien es ihm Beruf und Pflicht, wenn er es vermöchte, ihr Glück wiederherzustellen; denn er war fest überzeugt, daß die Liebe alles versöhnen kann, wenn sie der Reue die vergebende Hand reicht. Darum ließ er nicht ab, lindernde Worte des Trostes in des Freundes Herz zu flößen. Wie der weiche Tropfen den Felsen höhlt, so hoffte er, werde es ihm endlich gelingen, die eherne Unerbittlichkeit Jaromirs gegen seine Schuld zu besiegen, die Eisrinde, mit der er seine gequälte Brust selbstpeinigend umgeben hatte, zu schmelzen. Ach, das Herz des Unglücklichen mußte ja erstarren in dieser selbstgeschaffenen Qual; hätte es sich aus warmen Wunden verbluten dürfen, es wäre noch glücklich zu nennen gewesen. Aber dieses kalte Gift, das er tödlich in sich trug, warf die Seele auf eine namenlose Folter, die der Freund mit dem Gequälten empfand.

Boleslaw trat mit Jaromir hinaus vor die Hütte, die auf einer kleinen Anhöhe lag. Man überblickte in dem trüben Licht des schon sinkenden Mondes ein weites, ebenes Feld, mit lagernden Kriegern und zahllosem Feldgerät bedeckt; die Louja umschloß diese Ebene mit ihrem gekrümmten Strom. Hinter derselben erhoben sich steile, mit düsterer Tannenwaldung gekrönte Anhöhen. In jenen Wäldern stand Kutusow in fester, unangreifbarer Stellung. Vor den z Höhen lagen die rauchenden Trümmer von Malo-Jaroslawez, das gestern der Schauplatz eines furchtbaren Kampfes gewesen war, der jedoch nur das Vorspiel zu einer größern Schlacht zu sein schien. »O daß wir an dem Kampfe dort nicht Anteil haben konnten,« seufzte Jaromir, »es liegen dort so viele, die die Sonne heute so gern wieder begrüßt hätten!«

Boleslaw verstand den Freund. »Ist das nun wohl recht und gut, Jaromir?« sprach er sanft, aber ernst. »Gedenkst du derer nicht mehr, die in bittern Tränen um dich weinen würden?«

»Hast du dir nie den rühmlichen Tod auf dem Schlachtfelde gewünscht?« rief Jaromir heftig. Boleslaw schwieg einen Augenblick; er fühlte sich getroffen, denn in seinem düstern, verschwiegenen Gram hatte er freilich diesen Wunsch in der Brust gefühlt. Doch war es einer, wie so viele, die nur in der Ferne aufsteigen, die eine heilige Scheu vor dem Unrecht uns nicht mit vollem Ernst fassen läßt. »Ich habe ihn oft in mir bezwungen,« erwiderte er; »und das fordere ich von dir.«

»O, Boleslaw,« seufzte Jaromir, »du konntest das wohl leichter als ich!« Diese Worte drangen in Boleslaws innerste Seele; ein unnennbarer Schmerz zuckte ihm durch die Brust. Er durfte nicht darauf antworten, ohne sich zu verraten. »Und wenn du auch recht hättest, Jaromir; es ändert nichts für dich. Sei ein Mann, wolle leben und handeln; nicht die Buße, die Tat versöhnt.« – »Beides«, sprach Jaromir finster. – »Wenn jetzt Lodoiska vor dich träte und, sanft wie sie ist, spräche: Ich habe dir vergeben, denn die Liebe vergibt tausend- und tausendmal! – aber komme wieder an mein Herz, zertritt nicht alle Blüten meines Glücks!« Jaromir sah ihn starr an, ein Schauer schüttelte ihn; plötzlich rief er in wildem Schmerz und Hohn zugleich: »Sonne, leuchte mild wie der Mond, Strom, fließe das Gebirge hinan, Pfeil, wende dich im Fluge, Minute, kehre zurück aus dem endlichen Raum der Vergangenheit! O, Boleslaw! Fühlst du denn nicht, daß du das Unmögliche denkst? Habe ich denn die Blüten ihres Glücks nicht zertreten? Ist denn die Tat nicht geschehen? Die Reine, Schuldlose, Heilige klagte ich des Verbrechens an, das ich selbst in derselben Minute beging! Meine Treulosigkeit könnte sie verzeihen; aber nie darf sie vergeben, daß ich den Glauben an sie verlor – nie darf ich diese Vergebung annehmen.«

»O, ihr dürft es beide, glaube das mir, mir –!« – »Du hast nicht geliebt, Boleslaw!« rief Jaromir. »Du weißt nicht, wie schwer die Verbrechen sind, die wir an der Geliebten begehen!«

»Jaromir! Ich weiß, wie unerschöpflich die vergebende Kraft des Herzens ist!«

»Liebe kann sich nicht mit Verachtung paaren.« Er stieß diese Worte wild heraus, starrte auf den Boden und machte eine abwehrende Bewegung mit der Rechten, als wolle er sagen: Versucher, weiche von mir! – »Lodoiska hat dich keinen Augenblick verachtet, sie hat nur bittere Tränen um dich geweint«, entgegnete Boleslaw mit Ernst. »Und statt ihre Tränen zu trocknen, zertrittst du jetzt kalt ihre Brust.«

»Ich zog nur rasch den Pfeil aus der Wunde und sparte ihr die längere Qual! Habe ich sie tödlich verletzt – so wird sie jetzt schnell dahinsinken, und – ihr Blut kommt dann über mich! War die Heilung möglich, so war sie es nur so. Mit dem Geschoß in der Brust windest du dich noch einige qualvolle Stunden hin, aber leben kannst du dennoch nicht. Entscheidung ist besser!«

»Der Schmerz verdunkelt deinen Blick. Traue dem Auge des Freundes!«

»Boleslaw, ich muß dir's wiederholen, hier entscheidet nur ein Herz, das liebt!« – »Und wer sagt dir,« rief jetzt der Freund in hingerissenem Schmerz, »wer sagt dir, daß ich – nie geliebt hätte«, setzte er mit unterdrückter Stimme hinzu. – »Also auch du? Und ohne Glück, ohne den schönen Zweig von dem Blütenbaume zu brechen?« antwortete Jaromir sanft und legte die Hand auf seine Schulter. »Dann laß uns Leidensgefährten sein! – Warum hast du nicht Lodoiska geliebt? Mit dir wäre sie glücklich geworden, du bist soviel besser als ich – ja du bist gut, du hättest die reine Heilige nie gelästert!« Der empordrängende Schmerz preßte Boleslaws Brust zusammen; und er durfte ihm nicht den erleichternden Strom in die Brust des Freundes öffnen! Beide hielten sich innig umfaßt.

»Aber du hast dennoch recht, geliebter Bruder!« unterbrach Jaromir endlich die Stille; »der Wunsch des Todes ist verbrecherisch, denn er ist der Wunsch der feigen Seele. Eine schwere Schuld lastet auf meiner Brust, aber ich will sie durch ein tatenvolles Leben abtragen. Dem Vaterlande will ich's vergelten, was ich an seiner reinsten, schönsten Tochter verbrach. Steh' du mir bei; richte mich auf durch deine edle Kraft, wenn ich in meiner Schwachheit verzage und zurücksinke, sei mein Beispiel, mein Führer! Du warst es ja schon seit langen Jahren, denn stets eiferte ich dir nach. Wie beneide ich dir dieses Kreuz auf deiner Brust, wie strebte ich es gleich dir zu verdienen! Und so muß es wieder werden. Du sollst mich nicht mehr unkräftig, nicht mehr in Gram versunken sehen. Zwar die jugendliche Lebenslust rötet meine Wangen nicht mehr, denn ihre Flügel sind gebrochen; ich zeige euch keine glatte Stirn mehr. Doch ich will auch nicht! Fort damit! Narben und Furchen ernster Männlichkeit sollen sie schmücken, meine Wange soll sich bräunen im Brand der Sonne, im rauhen Strom der Lüfte. Das will ich, Boleslaw! Dazu fühle ich eine neue Kraft in meinen Adern rinnen – aber was du forderst, was du hoffst – davon nichts mehr!«

Der Galopp und das Schnauben eines Pferdes unterbrachen die nächtliche Stille. Es war Rasinski, der den Hügel heransprengte. Jaromir und Boleslaw traten ihm entgegen; er begrüßte sie, sprang vom Pferde und gab das Tier rasch weg. »Füttere es ab,« rief er dem Reitknecht zu, »wir werden bald aufbrechen!« – »Geht es vorwärts?« fragte Jaromir, als sie in die Hütte getreten waren, mit einem Anflug der Freude; denn er glaubte, ein günstiges Zeichen darin zu sehen, wenn sich schnell die Gelegenheit böte, seinen raschen Entschluß durch die Tat zu bewähren.– »Vorwärts? Das Wort werden wir für diesen Feldzug verlernen müssen«, entgegnete Rasinski finster. »Dem Kaiser fehlt noch etwas am Ruf eines großen Feldherrn! Er hatte noch keinen berühmten Rückzug aufzuweisen. Von heute an wird man davon sprechen können!« Die tiefgefurchte Stirn, der düstere Blick, mit dem Rasinski diese Nachricht gab, regte ein banges Vorgefühl in denen an, die ihn umstanden.

»Zurück sollen wir? Nach Moskau? Oder wohin?« fragte Boleslaw erstaunt. – »Nach Moskau? Um auf den Trümmern des Kreml unsere Fahnen aufzupflanzen?« entgegnete Rasinski. »Habt ihr den dumpfen Knall, die bebende Erschütterung der Erde von ehegestern schon vergessen? Es war Mortier, der die alte Burg der Zaren in die Luft sprengte. Gestern mittag empfing der Kaiser die Nachricht, die Kosaken schwärmen jetzt schon wieder in den Trümmern Moskaus umher und halten die Nachlese der Beute. Mortier ist nach Werreja aufgebrochen; er hat den General Wintzingerode gefangen genommen. Das die neuesten Nachrichten von dort; die neuesten von hier, daß wir in einer Stunde gleichfalls aufbrechen, um uns nach Smolensk zu ziehen.« – »Unmöglich!« rief Jaromir. – »Bis Mitternacht ist Kriegsrat gehalten worden; der Rückzug wurde beschlossen. Es ging stürmisch zu. Der König von Neapel wollte Kutusow angreifen. Bessières, der seine Stellung rekognosziert hat, erklärte sie für unangreifbar. Der Kaiser sprach: «Wir haben genug für den Ruhm getan, es ist an der Zeit, auch für die Sicherheit etwas zu tun.» Davoust wollte, daß wir uns wenigstens auf Platow und seine Kosaken werfen und uns den Weg nach Medyn bahnen sollten. Der Kaiser entschied für den Rückzug über Mosaisk. Wir werden also die traurige Straße zurückmessen, die wir vor zwei Monaten durchwanderten.«

»Der Kaiser auf dem Rückzüge!« rief Jaromir und blickte Rasinski staunend an, als könne er es noch nicht glauben. – »Und so wäre der blutige Sieg von gestern also ein vergeblicher gewesen?« fragte Boleslaw und bewegte ernst das Haupt. – »Er wird den Taten des Kaisers wenigstens einen ewig denkwürdigen Grenzstein gesetzt haben«, entgegnete Rasinski. »Ich habe das Schlachtfeld gesehen. Es sieht grauenvoll aus! Blutende, Verstümmelte winden sich noch jetzt unter den rauchenden Trümmern hervor. In Rußland gibt es keinen Sieg, über den die Menschheit nicht schaudert. Hier ist die Flamme stets der wutbegierige Kampfgenoß des Schwertes! So führte der Szythe Krieg, der vor Jahrtausenden diese Steppen durchstreifte. Doch welche Taten sind hier wieder geschehen! Der mutige Delzons greift an der Spitze seiner Krieger an; eine Kugel streckt ihn nieder. Der Soldat, der seinen Führer fallen sieht, stutzt, schwankt, weicht; die Russen dringen vor. Delzons' Bruder wirft sich allein in die Dampfwolke der feindlichen Feuerschlünde, um wenigstens den Leichnam zu retten. Er umfaßt ihn mit seinen Armen, hebt ihn empor; da trifft auch ihn eine mörderische Kugel, er sinkt mit der teuersten Last zu Boden, und der letzte Schlag seines Herzens klopft gegen die erkaltete Brust des Bruders. Die italienischen Rekruten haben zum erstenmal gefochten wie junge Löwen, die die erste Beute jagen. Keine Nation ist tapfer; alle sind es, von Tapfern geführt!«

»Und der Kühnste führt uns jetzt zum Rückzuge!« rief Jaromir unwillig. – »Wer weiß, ob nicht eben dazu der Kühnste notwendig ist«, antwortete Rasinski ernst. »Zum Ruhm, zum Siege ließen sich die Völker leicht vom Ebro bis zur Moskwa führen, ohne daß die Flamme ihres Mutes erlosch. Wird die Glut aber nicht erkalten, wenn nur noch der Ruhm des heldenmütig ausdauernden Märtyrers zu erwerben ist? Wird sie Nahrung genug haben für die unermeßliche Zeit- und Wegstrecke? Wird sie lebendig bleiben unter dem Schnee des Winters, der bald diese Fluren einhüllt, auf den Eisfeldern, die uns zum Lager dienen werden? Jetzt fordere ich euch auf, ihr, die ihr Männer seid, die mit Bewußtsein handeln, jetzt fordere ich euch auf, mit stolz aufgerichtetem Haupte und mutiger Stirn euern Kameraden voranzugehen! Denn, wie schwer die Aufgabe war, die wir vollendeten, die schwerere beginnt von diesem Tage an!« Er sprach mit hohem Ernst; man hörte jedem Worte an, daß seine Befürchtungen ihren Grund in seiner innersten Überzeugung hatten. Mit Besorgnis richteten sich daher die Blicke auf die Zukunft. Ludwig warf die seinigen noch weiter hinaus als Rasinski, denn er fragte sich: Und was soll endlich aus dir und Bernhard werden? Wenn wir gar den heimatlichen Boden wieder beträten, was würde unser Schicksal sein?

Rasinski hatte ihm gleich nach der Schlacht von Mosaisk gesagt, jetzt sei der günstige Augenblick gekommen, wo er etwas Gewisses in seiner und Bernhards Angelegenheit tun zu können hoffe. Nach einem Siege sei der Kaiser zu großmütigen Beschlüssen am geneigtesten; das Regiment habe seine Anerkennung erworben, und man dürfe daher, ohne etwas zu gefährden, das seltsame Verhältnis in Anregung bringen, das Ludwig und Bernhard in die Reihen der tapfern Polen geführt habe. Indessen seitdem hatte Rasinski nicht wieder von diesem Gegenstande gesprochen, ja, wie es schien, jede Erinnerung daran vermieden. Ludwig, der ihm zutrauen durfte, daß er von freien Stücken alles tun werde, was man nur von einem solchen Freunde erwarten könne, hatte ihn deshalb nicht daran erinnern wollen. Jetzt aber glaubte er, ohne Rasinski zu kränken, davon sprechen zu dürfen. Er fragte ihn daher geradehin, ob er denn nicht endlich Hoffnung habe, unter seinem wahren Namen auftreten zu können, zumal da er ihn doch bei einer möglichen Rückkehr nach Deutschland nicht sicher zu verbergen imstande sein werde. Rasinski blickte den Freund wehmütig ernst an. »Ich weiß, was du denkst, Ludwig,« sprach er; »du glaubst, ich hätte dich und Bernhard vergessen! Aber wahrlich, dem ist nicht so. Ich kann euch jetzt offen die ganze Lage der Dinge darstellen; doch hört mich ruhig an und laßt mich ganz zu Ende reden, meine Freunde; dann erst entscheidet, ob ich für euch gehandelt habe, wie ich konnte und mußte. Vor dem Siege über Kutusow war der Kaiser so schwer zugänglich, so ganz mit unruhigen Entwürfen beschäftigt, daß ich ihn nicht anzutreten wagte. Ich mußte bedenken, wieviel auf dem Spiele stand, wie sehr ich euch und mich in Gefahr brachte, wenn ich die Lage der Dinge entdeckte; denn ich hatte ja nicht Gnade, sondern die Niederschlagung einer Anklage gegen zwei Beschuldigte durchzusetzen, deren man bis jetzt nicht hatte habhaft werden können. Nach der Schlacht bei Borodino, du weißt es ja selbst, waren wir Tag und Nacht zu Pferde, so daß kein Augenblick der Muße sich fand. Auch hatten die ungeheuern Opfer, mit denen dieser Sieg erkauft war, die geringen Folgen desselben den Kaiser nichts weniger als günstiger gestimmt. In Moskau hoffte ich alles zu schlichten – da kam der Brand, der nicht nur uns vertrieb, sondern die Möglichkeit, den Kaiser in solcher Angelegenheit anzutreten, noch ungleich erschwerte. Überdies standen wir auf dem Vorposten, es war nur selten möglich, nach Moskau hineinzukommen. Dennoch ließ ich es nicht unversucht, etwas für euch zu tun; allein ich mußte vorsichtig handeln, denn alle Erkundigungen, die ich einzog, waren euch ungünstig. Man hatte dem Kaiser in der Tat gerade in deiner Angelegenheit, Ludwig, höchst nachteilige und entstellende Berichte geliefert, ja, die Vermutung, du seiest in dem Heere, war ausgesprochen worden und der verleumderische Zusatz gemacht, daß du hier deine Rolle als Spion der russischen Regierung fortsetzest. Ich verschwieg dir dies, um dir eine unnötige Sorge zu ersparen, denn die Versicherung kann ich dir geben, daß man bis jetzt von dem Wo deines Aufenthalts nicht unterrichtet ist. Und, dessen darfst du überzeugt sein, tritt der gefürchtete Fall der Entdeckung ein, so werde ich mit meiner Ehre als Führer für euch beide als Bürge eintreten, und ich hoffe, es soll mir gelingen, euch dadurch zu schützen. Jetzt aber laßt uns noch in der Sicherheit beharren, die uns die Verborgenheit gibt. Die Zeit ist die ungünstigste, die ich wählen könnte, um für euch zu sprechen, denn durch den halb rätselhaften, halb erklärten Brand von Moskau ist das Mißtrauen gegen Fremde nur gewachsen, und wir dürfen nicht vergessen, daß in dem Palaste, wo ich mein Quartier aufgeschlagen, die Flammen zuerst ausbrachen. Auch dieser Umstand würde euch ungünstig sein. Zu dem allen kommt, daß der Kaiser, wie ich aus guter Quelle weiß, Briefe über Briefe aus Deutschland empfängt, die ihm die Aufrichtigkeit seiner deutschen Bundesgenossen immer zweifelhafter machen. Marschall Macdonald meldet, daß die preußischen Korps zwar tapfer im Gefecht sind, doch nur mit Unlust gegen die Russen fechten, wenngleich das Gegenteil in seinen Armeebulletins steht. Mit der Untätigkeit des Heeres unter dem Fürsten von Schwarzenberg ist der Kaiser ebenfalls unzufrieden; es beweist sich ihm dadurch, daß Österreich trotz der verwandtschaftlichen Bande, die es jetzt an Frankreich knüpfen, kein aufrichtiger Bundesgenosse ist. Die Agenten aus dem Innern Deutschlands schreiben von geheimen Verbindungen deutscher Patrioten gegen Frankreich, und alle französischen Regierungen von hier und da laut werdenden unvorsichtigen Äußerungen über Einverständnisse, welche man bis in das Heer des Feindes unterhalte! Sagt selbst, sind solche Nachrichten geeignet, von euerer Schuldlosigkeit zu überzeugen? Und nun noch eins. Wenn der Kaiser die Anklage gegen euch niederschlüge und damit euer Verhältnis zum Heere aufhörte – was wolltet ihr tun? Seit heute, wo der Rückzug beschlossen ist, bliebe euch dennoch nichts übrig, als die Schicksale des Heeres zu teilen, und wo könntet ihr das besser als bei mir, da ich stets euere besondere Lage im Auge behalte und nicht einmal eine Dienstpflicht für euch anerkennen würde, wenn ihr sie nicht selbst freiwillig übernähmt, oder wenn sich die Ausnahmen immer so treffen ließen, daß nicht das Auffallende derselben zu sehr in die Augen spränge? Denn allein, auf eigene Hand die ungeheuere Rückreise anzutreten, das wäre jetzt gar nicht zu wagen. Ihr wißt, wie das Land gesinnt ist, welchen Gefahren der einzelne sich preisgibt. Könntet ihr vergessen, wie viele, die, einzeln überrascht, in die Gewalt der fanatischen Muschiks gerieten, unter den fürchterlichsten Martern hingeopfert wurden? Und auch die Gefahr beiseite gesetzt, wo fändet ihr die Mittel, auf einer solchen Reise zu bestehen? Kaum die vereinigte Gewalt vieler schafft sich die notwendigsten Lebensbedürfnisse; der einzelne vollends vermag nichts. Auf dem verwüsteten Wege, den wir hierher nahmen, wo wir statt der Dörfer und Städte nur die Aschenhaufen finden werden, die ihre ehemalige Lage bezeichnen – wie wolltet ihr da Unterkommen, Lebensmittel, Pferde finden, wenn die eurigen, abgezehrt von Arbeit und schlechter Nahrung, wie sie sind, unbrauchbar würden oder fielen? Ich habe weder die Lust noch den Mut verloren, euch mit voller Freundespflicht zu dienen; aber sprecht selbst, wißt ihr jetzt ein sicheres Auskunftsmittel? Meine eigene Verantwortlichkeit ist es, die ich zuletzt scheuen würde. Gebt ihr einen guten, ausführbaren Rat, ich befolge ihn; ihr selbst, Boleslaw und Jaromir, müßt entscheiden, was zu tun ist.«

Die Freunde blickten einander an; sie suchten vergeblich eine Widerlegung für Rasinskis Gründe, und doch wurde Ludwigs Seele tief bedrückt von dem Gefühl dieser drohenden Zukunft, in die er seine Freunde und seine hilflose Schwester verwickelt sah. »Und wären wir jeder siebenmal so weise als die sieben Weisen Griechenlands zusammengenommen,« unterbrach endlich Bernhard die eingetretene Stille, »wir würden keinen bessern Rat aushecken. Rasinskis Rat ist so klar wie der Himmel draußen, dessen Sterne uns recht günstig zum Rückzuge zu leuchten scheinen. Tröste dich, Freund Ludwig; uns umschweben nicht mehr Todesgefahren als andere auch; beim Lichte besehen hält unser Lebensfaden vielleicht noch zu lange und spinnt sich langsamer oder trauriger ab, als wir glauben. Die Schere der Parze kneipt oft auf und zu in der Minute, und wird manchem das vorsichtig gesponnene Garn früher abschneiden als das freilich hinlänglich dünne Haar, an dem uns der Hieber des Damokles über dem Genick hängt. Soviel aber weiß ich, daß, bleiben wir hier, wir unter guten Freunden leben oder sterben, worauf es meines Erachtens mehr ankommt, als ob wir etwas mehr Wahrscheinlichkeit für die Apotheke und dagegen etwas weniger für den Sandhaufen aufweisen können. Mach du dir keine Sorge deshalb, Rasinski, du hast größeres Verdienst um uns, als wir dir vergelten werden. Denn der dankbarste Mensch bleibt ein undankbarer Esel, zumal ich. – Gebt die Hände, Freunde, wir wollen froh sein, wenn uns morgen noch die Sonne bescheint und der Wald einige fahlgrüne Blätter unter den gelben und roten zeigt, die der Wind als perennierenden Herbstblütenregen herabschüttelt. Mir deucht, die Welt ist noch ganz hübsch, und wer sie noch eine Weile ansehen darf, kann von Glück sagen, gegen die Sechstausend, die da drüben mit verbrannten Knochen in der Asche und dem Schutt von Malo-Jaroslawez liegen.« Damit schüttelte der wackere, kräftige Freund Rasinski und Ludwig die Hand und reichte sie dann auch Jaromir und Boleslaw hinüber. Sein trotzig fröhliches Wesen, womit er die härtesten Schläge des Schicksals verspottete, gab oft seiner ganzen Umgebung ein Gefühl dieser kecken Selbständigkeit, die sich unter kein Joch des Lebens beugt.

Eine Ordonnanz trat ein; sie brachte den Befehl zum Aufbruch, den Rasinski erwartete. »Um drei Uhr!« sprach er. »Also still, in der tiefnächtlichen Stunde!« Er ging zweimal mit untergeschlagenen Armen und zur Erde gehefteten Blicken in dem engen Gemach auf und nieder. »Laßt jetzt aufzäumen! Es wird bald Zeit sein!«

Jaromir und Boleslaw gingen, das Nötige bei ihren Leuten anzuordnen, Ludwig und Bernhard hatten wenigstens für sich selbst Vorbereitungen zu treffen. So trennten sich die Freunde. Allein kaum war eine halbe Stunde vergangen, so fanden sie sich wieder beisammen, doch zu Pferde und auf dem Rückmarsche. Auf Rasinskis Stirn lagen düstere Wolken; er sprach nicht, sondern sah sich nur stumm vielmal nach der Gegend um, wo der Schauplatz des letzten Sieges, den das Heer erfochten, in die Schleier der Nacht gehüllt lag. Als die Straße sich um eine einsame steile Höhe bog, ritt er allein hinauf. Auf dem windumrauschten Gipfel hielt er und richtete die Blicke nach der wüsten, von Qualm umzogenen Stätte des Todes, die nunmehr der äußerste Zielpunkt des ungeheuern Kriegszuges geworden war. Der Rauch der Trümmer mischte sich mit dem der Wachtfeuer, welche die Nachhut hell auflodern ließ, die unter des Marschalls Davoust Befehlen den Feind über den Rückzug des großen Heeres täuschen sollte. Jenseit, am Walde, erkannte man an zahllosen, in düsterroter Glut leuchtenden Flammensternen das Lager des russischen Heeres. Langsam zogen die schwarzen Dampfgewölke über den im Dämmerschein des untergegangenen Mondes matt leuchtenden Himmel; sie schienen sich zu einem schweren Gewitter zu sammeln. »Also dort!« sprach Rasinski zu sich selbst, »dort soll der Wanderer künftiger Jahrhunderte die Stätte aufsuchen, wo dem unermeßlichen Geiste, der die Könige des Erdballs stürmend aus ihrer alten, versunkenen Ruhe aufjagte, die Grenze seiner Kraft gesteckt war! Soll denn kein Sterblicher ein großes Werk vollenden? Kann denn der Menschengeist nicht einmal diese kleine, ärmliche Erde umfassen, die ihm zur Wohnstätte angewiesen ist, solange er in den Banden seiner irdischen Hülle schmachtet? Sind wir denn so wenig, daß dieser Punkt, dieses Sonnenstäubchen im Weltall, ein unermeßlich ungeheuerer Raum für unsere Kräfte ist? Cyrus fiel an den Grenzen des wilden nordischen Szythenreichs, Kambyses mußte umkehren an den glühenden Pforten Äthiopiens, Alexander an dem fabelhaften Reiche der Inder – und hier sollte die Nachwelt die Marksteine seines Tuns aufrichten dürfen? Hier! Und wer behauptet das? Warum nicht schon an den Pyramiden? Was dort geschah, wiederholt sich hier. Ist denn der Kreislauf der Zeiten schon vollendet? Torheit, an räumlichen Grenzen zu hangen! Als ob die Welt nicht dort hinaus so weit wäre wie dort! Und dennoch!« Ein Schauer schüttelte den Einsamen. Der Wind sauste über die Höhen und rauschte durch die Wipfel der alten Fichten, die ihre Zweige über Rasinskis Haupt hinausstreckten. Sein Roß scharrte mit dem Fuße und schüttelte die im Winde fliegenden Mähnen. Düstere Ahnungen, welche die Bilder der Zukunft vor seiner Seele vorüberzuführen schienen, gewannen mehr und mehr Macht über ihn. »Dennoch!« seufzte er nach einer stummen Minute, »dennoch ist es wahr, die Tat des Menschen ist von den engen Schranken des Raumes unsichtbar umgeben; erst wenn er sie erreicht hat, sieht er die unwiderruflichen Grenzen, die keine Macht mehr verrückt, keine Zeit verwischt. Weissagt ihm sein ahnendes Herz nicht, wo er ihnen nahe steht? – Wäre hier der Ort, wo der Strom großer Taten in das Meer der Unermeßlichkeit ausmünden und ewig spurlos darin verschwinden soll? Oder wendet er nur den Lauf, um sich stolz durch neue Gefilde zu ergießen, neue Felsendämme zu durchbrechen, die sich ihm entgegentürmen? Wer sagt es uns, wo unser Fuß die geheimen Zeichen des Geschicks berührt, die im bannenden Zauberkreise rings um uns gezogen sind? Öffnen sich jetzt die Tore eines neuen olympischen Sieg- und Kampfgefildes, oder stehen wir vor den ehernen verriegelten Pforten, mit denen der Allmächtige im Urrat des Schicksals unsere Bahn unwiderruflich zu sperren beschloß? Ist hier die Stelle, wo die endliche Kraft an dem diamantenen Damm der ewigen zersplittern soll? – Ja, ja, so ist es. Eine Geisterstimme ruft es mir zu aus diesem nächtlichen Himmel, in dem schauerlichen Sausen des Herbststurms. – Also hier! Wirklich hier! Jetzt greift der eiserne Arm des Geschicks in die Schwingen des Gewaltigen und lähmt und bricht sie? Und wäre er denn vernichtet? Nein, nimmermehr! Ewig fest wird sein Riesendenkmal stehen in den fortbrausenden Wogen der Zeit. Sie wird den Schleier heben von dieser finstern Gegenwart. Wenige Monden oder Jahre – Pulsschläge der Ewigkeit – und das Buch der Verhängnisse liegt aufgeschlagen vor uns. Die kommenden Geschlechter werden es wissen, ob der Glockenschlag dieser nächtlichen Stunde einen Umschwung der Weltgeschicke verkündet! – Und sei es denn! Vertilgen kann keine Ewigkeit die Spuren seines Riesenganges über die Erde! So mag denn hier der Grenzstein seines mächtigen Vollbringens aufgerichtet werden! Die gigantischen Altäre am Ganges, das Schlachtfeld von Kannä, die rauchenden Trümmer an jenen Fichtenhöhen – sie sind gleichbedeutende Hieroglyphen, und noch nach Jahrtausenden wird der Wanderer sie mit schauernder Verehrung lesen.«

Diese Gedanken wogten in Rasinskis heldenverwandter Seele! Er fühlte mit unabweisbarer Ahnung, daß ein schweres, düsteres Unheil hereinbrach! Doch mit dieser klaren Entscheidung kehrte seine volle Manneskraft zurück und er richtete Brust und Haupt stolz gegen das Verhängnis auf. Noch einen Blick warf er über das düstere nächtliche Gefilde, wo die Geschichte die neuen Säulen des Herkules aufzupflanzen beschlossen hatte; dann wandte er sein Roß und kehrte mit befestigtem Mute zu den Seinigen zurück.


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