Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Zehntes Kapitel.

Die Gräfin Dolgorow hatte die Verhältnisse Biankas zu den Gästen des Hauses vielmehr gemutmaßt als gekannt. Durch einen Zufall war Jeannette die Verräterin gewesen; denn diese war es, welche sich, gleich nach dem Augenblick, wo Bianka ihren Bruder zuerst erkannte, dem Gastzimmer näherte. Sie hörte laut und heftig sprechen und vernahm die Worte: Bruder, Schwester; erstaunt stand sie still und lauschte unwillkürlich, wenigstens arglos. Da näherten sich Willhofen und einige Diener, und der Schall ihrer Schritte auf dem Korridor wurde von Ludwig vernommen, der die leisern des Mädchens überhört hatte. Die Annäherung derselben unterbrach die ersten süßen Vertraulichkeiten der Geschwister; doch mußte Jeannette beim Eintreten bemerken, daß etwas Ungewöhnliches vorgefallen sei. Der Kammerdiener des Grafen, Jacques, war ihr Liebhaber; sie hatte also nichts Eiligeres zu tun, als diesem gewandten Menschen ihre Vermutung mitzuteilen, wobei sie freilich nicht ahnte, daß sie das Glück ihrer geliebten Gebieterin so gefährdete. Doch Jacques hatte einen scharfen Blick für dergleichen Verhältnisse. »Höre, Jeannette,« sprach er zu dieser, »wenn die Fürstin davon nichts äußert, so tue ja, als ahntest oder wüßtest du nichts. Für Diener ist nichts gefährlicher, als die Geheimnisse der Herrschaften wider den Willen derselben zu erfahren. Wenn es auch anfangs vorteilhaft zu sein scheint, späterhin bekommt es uns immer sehr übel. Man wird bisweilen auf ganz eigene Art zum Schweigen gebracht.« Das eingeschüchterte Mädchen erschrak vor dieser Warnung so, daß sie in der Tat nicht das mindeste gegen ihre Gebieterin äußerte; aber, so ehrlich war sie, auch gegen niemand sonst. Jacques dagegen legte sich aufs Lauschen und stellte dies so geschickt an, daß er, bevor eine Stunde verging, wenigstens so viel wußte, daß Bianka ihr Geheimnis vor der Gräfin verberge. Jetzt hielt er die Verhältnisse für geeignet, sie zu seinem Vorteil benutzen zu können. Er ging zur Gräfin und entdeckte dieser, anfangs nur andeutend, doch da der hingeworfene Funke mit einer über alle Erwartung gehenden Schnelligkeit zur Flamme aufschlug, im ganzen Umfange alles, was er wußte. Sie versprach ihm eine reiche Belohnung, wenn er gegen jeden schweigen und nur ihre Befehle in dieser Sache erfüllen wolle. Jacques, habsüchtig, schlau, unternehmend, ging auf alles ein, ohne jedoch Jeannetten, deren Ergebenheit gegen ihre Gebieterin er kannte, ein Wort davon zu sagen. So reiste er denn noch in derselben Nacht mit Briefen der Gräfin zu dem Gemahl derselben ab und war auch jetzt mit ihm zurückgekehrt. Die Nachricht mußte dem Grafen von der beunruhigendsten Wichtigkeit sein, und er hatte daher sogar den Eifer gegen die Feinde seines Vaterlandes für den Augenblick hintangesetzt, um seine eigenen Angelegenheiten wahrzunehmen.

Er fand die Gräfin, deren ganze Krankheit wohl nur in zu großen körperlichen Anstrengungen bestanden hatte, noch in den Kleidern; die geistige Aufregung, in der sie sich seit gestern befand, hatte ihr ihre vollen Kräfte wiedergegeben. »Nun, was sagen Sie zu meiner Entdeckung?« redete sie ihn an, als sie sich mit ihm allein befand; »was beschließen Sie zu tun?« – »Vor allen Dingen,« erwiderte Dolgorow, »muß ich wissen, wieweit Sie deren gewiß sind, und wieweit Feodorowna um Ihr Wissen weiß.«

Die Gräfin erzählte und vergaß auch die Vorsichtsmaßregeln nicht, die sie den Tag über getroffen hatte, um eine Zusammenkunft der Geschwister! zu hindern. Dolgorow ging während der ganzen Erzählung mit untergeschlagenen Armen, finster vor sich hinblickend, auf und nieder und schüttelte mehrmals mißbilligend das Haupt. »Und wer von beiden Fremden soll denn nun der Bruder sein?« fragte er, als die Gräfin geendet hatte.

Mit einer Art von Beschämung gestand die Gräfin, daß sie dies nicht wisse. Sie hatte ohne weiteres angenommen, es sei Ludwig, etwas, wozu die so mißfällig von ihr bemerkte Hinneigung Biankas zu ihm sie ziemlich natürlich verleitet hatte. Erst jetzt, da der Graf ihr die Frage auch mit Beziehung auf Bernhard vorlegte, sah sie ein, daß sie gar keinen bestimmten Grund für ihre Vermutung habe. »Wenn Sie nur die unglückselige Maßregel mit der halben Gefangenhaltung nicht getroffen hätten!« sprach Dolgorow mit kaum unterdrücktem Unwillen. »Ich begreife nicht, was sie Ihnen helfen konnte. Es war nichts als ein Überrest von den Gewohnheiten Ihrer mütterlichen Strenge und Willkür, die jedoch seit Feodorownas Vermählung in keinem Fall mehr an ihrem Platze sind. Wie nahm sie den Schritt auf?« – »Sie äußerte sich gar nicht darüber«, erwiderte die Gräfin betreten. – »So haben wir vielleicht die Hoffnung, daß sie denselben nicht gewahr geworden ist!« fiel der Graf rasch und freudig ein. Die Gräfin wußte das Gegenteil zwar sehr gut, da sie es aus dem Umstände entnehmen konnte, daß ihr Zimmer der Durchgang für Jeannetten geworden war; doch bestätigte sie Dolgorows Vermutung, um seinen fernern nicht eben fein gemachten Verweisen zu entgehen.

»Das rettet uns,« sprach er beruhigter; »und sollte die Fürstin ja etwas bemerkt haben, so muß das Ganze als ein Versehen dargestellt werden, welches man dem Kammerdiener zuschreiben kann. Für heute werden wir also nichts mehr unternehmen, morgen will ich selbst sehen und beobachten. Um des Himmels willen keinen auffallenden Schritt in dieser Sache, bis wir ihn gar nicht mehr vermeiden können, oder wenigstens genau wissen, wieweit unser Geheimnis verraten ist. Auch daß dieser Jacques etwas davon erfahren mußte, ist höchst verdrießlich. Zwar ist ihm die Wahrheit völlig unbekannt und, soweit ich bemerken kann, zweifelt er nicht daran, daß Feodorowna unsere Tochter sei, hält aber den unvermutet zurückgekehrten Bruder für einen Sohn, den wir, wer weiß aus welchen guten Gründen entfernt haben mögen. Ja, ich glaube, er hatte es eigentlich im Sinne, Ihre Eifersucht durch die Entdeckung rege zu machen. Indessen gleichviel; sehr unangenehm bleibt es für uns, daß ein so fremder, unzuverlässiger Mensch überhaupt nur von einem Verhältnis der Art eine Ahnung hat. »Vielleicht,« begann Dolgorow nach einigen Augenblicken, während welcher er schweigend und nachsinnend auf und ab gegangen war; »vielleicht war das Ganze nur ein blinder Lärm. Wer sagt uns denn, daß Jacques recht gehört hat? Jedoch umso vorsichtiger müssen wir verfahren; denn man kann ja auch nicht wissen, ob Feodorowna und ihr mutmaßlicher Bruder sich nicht schon seit längerer Zeit verstehen und Sorge getragen haben, ihre Beweise an Orten niederzulegen, die uns unzugänglich sind. Wir könnten in diesem Falle in die bedenklichste Lage geraten. Ja, ich bin entschlossen! Ich werde das ganze Verhältnis morgen nicht kennen. Zwar kam ich mit dem Entschluß, hier sogleich die entschiedensten und unwiderruflichsten Schritte einzuleiten, und ich denke, Gräfin, Sie kennen mich genug, um zu wissen, daß ich vor der Notwendigkeit nicht wie ein Knabe bebe. Noch sind wir nicht so ängstlich und weichherzig in Rußland; ich weiß so gut wie andere in diesem Reiche, daß man einen Felsblock, der uns auf unserer Straße im Wege liegt, sprengen muß. Doch ohne Übereilung! Vielleicht gelingt es mir, einen bessern und sicherern Weg, der daran vorüberführt, zu nehmen. Gute Nacht! Ich werde ruhiger schlafen, als ich glaubte. Noch eins, damit wir uns nicht widersprechen. Meine Ankunft hier war zufällig, hören Sie, Gräfin, zufällig! Übrigens werde ich morgen der erste sein, der Feodorownen begrüßt und sich über die verschlossene Tür wundert.«

Mit diesen Worten nahm er Abschied und ging mit Jacques, der ihn im Vorsaal erwartete, auf sein Zimmer. Doch ließ ihn die Unruhe seines Gemüts nicht schlafen; das lange schlummernde Bewußtsein war mächtig erwacht. Mochte jetzt Täuschung oder Wahrheit im Spiele sein, er lernte, daß der Same der Schuld, möge er noch so tief vergraben, noch so weit vom Sturm der Zeit verweht sein, doch fort und fort keimt, bis seine bittern Früchte reifen. »Tor,« redete er sich selbst an, »was machst du dir für Sorgen? Deine Zwecke sind erreicht, du bist im Besitz, wer will dich vertreiben? – Hm! Wenn aber die Ochalskois erführen, daß eine Täuschung obgewaltet habe? Nur als Vater Feodorownens sind deine Rechte gültig! – Doch wer will sie dir bestreiten? Der einzigen, die reden könnte, ist die Lippe versiegelt. Ruschka schläft. Schreckbilder des leeren Wahns! Hirngespinste!« Dennoch folterten sie ihn, bis der Morgen anbrach.

Indessen waren seine Pläne gereift, und er besaß Gewandtheit und Kraft, sie auszuführen. Sein erster Gang war zu Bernhard und Ludwig hinüber, die er als Gäste des Hauses willkommen hieß. Mit der Übung des Hofmanns spielte er den zuvorkommenden Wirt, fragte nach ihrem Befinden, nach der Art ihrer Aufnahme, ohne auch nur mit einem Wort etwas Böses anzudeuten. Ludwig, der die Welt weniger kannte, und dessen gerades Herz auch den Argwohn nicht so leicht einließ, oder ihn, wenn er auftauchte, mit sittlichem Unwillen verwarf, hätte sich durch dieses Benehmen täuschen lassen. Bernhard dagegen wurde um so besorgter, je argloser der Graf sich stellte; er verlarvte sich daher mit derselben Maske gegen ihn und nahm den Schein eines sorglosen, ja fast leichtsinnigen Zutrauens an, während er sein Innerstes aufs vorsichtigste verbarg. Seiner Gewandtheit gelang es vollkommen, den Unbefangenen zu spielen; er ging sogar so weit darin, daß er dem Grafen sein Londoner Abenteuer mit Bianka offen gestand. »Ich bin Maler,« sprach er, mit der Leichtigkeit des lebensfrohen Künstlers, »und wir betrachten ein schönes Angesicht in einem gewissen Grade als ein Eigentum, das uns niemand versagen darf. Damit müssen Sie, Herr Graf, jene Handlung, die freilich die gewöhnlichen Gesetze der Schicklichkeit nicht zum Richter haben darf, entschuldigen.« – »Wir sind nicht solche Barbaren hier in Rußland,« entgegnete Dolgorow lächelnd, »um den Künstler dergleichen Freiheiten nicht willig zuzugestehen. Aber besitzen Sie das Porträt?«

»Ich besaß es bis vor zwei Tagen; oder vielmehr mein Freund, dem ich es, da es so angenehme und zugleich rätselhafte Erinnerungen in ihm erweckte, zum Geschenk machte. Sein Portefeuille, in dem es sich befand, wurde ihm durch jene Elenden, denen, wie ich höre, furchtbare Vergeltung geworden, abgenommen. In wessen Hände es geraten ist, weiß ich nicht.« – »Mir sind,« erwiderte Dolgorow, »gestern zwei Portefeuilles, die man bei den Gefangenen gefunden hat, überliefert worden; doch ich gestehe, daß ich noch nicht Muße gehabt, sie zu öffnen. Ich bin doch in der Tat begierig zu sehen, ob das Ihrige dabei ist.« Mit diesen Worten eilte er hinüber nach seinem Zimmer und kehrte bald darauf mit zwei Brieftaschen zurück, deren eine er geöffnet in der Hand hielt. Es war Ludwigs. Der Graf hielt Bernhard das Bild entgegen und fragte: »Erkennen Sie das für Ihr Werk?« – »Wie sollte ich nicht?« – »So ist es billig, daß Sie Ihr Eigentum zurücknehmen.« – »Es ist, wie gesagt, nicht mehr das meinige, sondern das meines Freundes.«

Der Graf händigte Ludwig die Brieftasche ein, aus welcher jedoch alle Papiere verschwunden waren. Dolgorow hatte sie erst eben jetzt herausgenommen, weil er Aufschlüsse in denselben zu finden hoffte; er entschuldigte sich damit, daß ihm das Portefeuille in diesem Zustande zugekommen sei, also wahrscheinlich Beaucaire es schon geleert habe. Das zweite Portefeuille war weder Bernhards noch Ludwigs Eigentum; der Graf behielt es also und entfernte sich damit, um Feodorownen den Morgenbesuch zu machen.

»Es ist mir unendlich viel wert, daß dieses Bild wieder in meinen Besitz gekommen ist«, sprach Ludwig. »Überhaupt wird mir so wohl und leicht; alle Gefahr scheint vorüber, und der Graf ist ein Mann, der doch wohl Zutrauen verdient.« – »Wahrhaftig, man möchte lachen,« rief Bernhard, »wenn die Zeit nicht besser zum Fluchen oder Beten taugte; man möchte lustig aufjubeln darüber, daß ein so gescheiter Mensch wie du so ein blinder Tor sein kann. O Ludwig, Ludwig! Du bist zu gut für diese Welt – und ich fürchte, die Schwester ist es auch und läßt sich täuschen. Werdet ihr denn ewig solche Kinder im Leben bleiben, daß ihr euch die Schlange an den Busen legen wollt, weil sie eine glänzende bunte Haut hat? Wollt ihr denn niemals lernen, daß der buntgefleckte Tiger sich schlafend stellt, wenn er am tückischsten lauert? Wer deckt denn eine Fallgrube mit Ottern zu? Rosen streut man darüber! Arsenik muß aussehen wie Zucker, sonst frißt ihn keine Ratte. Ludwig, Ludwig! Diese lächelnde Höflichkeit Dolgorows ist mir bedenklicher, als wenn er mit gezogenem Schwert vor mir stände!« – »Du siehst alles zu finster, Bester«, entgegnete Ludwig. – »Meinst du?« fragte Bernhard fast spöttische »Es bedeutet wohl nichts, daß Bianka eine Gefangene ist? Und diese nächtliche, übereilte Ankunft? Ludwig, stände mir das Tor offen, ich ginge lieber hinaus, wie ich hier vor dir stehe, ehe ich noch eine Stunde länger hier verweilte. Ja, wäre nur die Schwester nicht, du müßtest auf der Stelle mit mir fort!«

Willhofen trat ein und unterbrach ihr Gespräch mit der Frage, ob sie zum Frühstück kommen wollten. Sie gingen. Einige Minuten blieben sie allein im Saale; hierauf trat Dolgorow ein. Er war so höflich wie zuvor, lud ein Platz zu nehmen und servierte selbst die Schokolade. »Unsere Damen,« sprach er, »stehen etwas spät auf. Wir werden sie wohl vor Tische nicht zu sehen bekommen. Die Gräfin war gestern unwohl, das hat auch die Fürstin um das Vergnügen gebracht, die Pflichten der Wirtin gegen Sie zu üben. Ich denke, die Frauen werden heute das Versäumte nachholen.«

Bernhard fragte nach dem Stande der politischen Angelegenheiten. »Darüber sprechen wir am besten gar nicht,« entgegnete der Graf höflich; »ich als Russe würde vielleicht ganz anders denken müssen als Sie, die Sie wenigstens Ihre alten Waffengenossen beim Heere haben. Es hat ein besonderes Interesse für mich,« fuhr er nach einigen Augenblicken fort, »daß ich Ihnen beiden schon anderwärts begegnet bin. Als wir am Fuß des Simplon, über den wir,« hier wandte er sich zu Ludwig, »durch Ihre Hilfe so glücklich gelangten, durch den Zufall getrennt wurden, wandte ich mich durch das Gebirge nach Bern, ging von dort aus nach Tirol und gewann die große Straße nach München. In Deutschland erlebten wir kein Abenteuer weiter, wohl aber in Warschau, wo wir fast verraten worden wären und es uns nur nach einem mehrtägigen Versteck bei verschiedenen Freunden gelang, in der Nacht zu entfliehen.«

»Auch wir waren in Warschau«, sprach Ludwig. Bernhard gab ihm einen verstohlenen Wink, vorsichtig zu sein, und nahm rasch selbst das Wort, um ganz allgemein und unbestimmt über ihren Aufenthalt dort zu sprechen. Der Graf fragte nach diesem und jenem; er sprach von England, erkundigte sich nach Bernhards Reisen, nach seinem frühern Wohnort, kurz, suchte auf geschickte Weise die Lebensverhältnisse beider so genau als möglich zu erforschen. Zwar antwortete Bernhard mit größter Vorsicht, doch ließ sich nicht alles verschweigen, und namentlich waren Ludwigs Verhältnisse sehr bald so weit klar für Dolgorow, daß er nicht mehr zweifeln konnte, Bernhard sei der Bruder Feodorownas, wenn es einer dieser beiden war. Mit Aufmerksamkeit beobachtete er die Gesichtszüge desselben, um aus der Ähnlichkeit seine Vermutungen zu bestätigen; allein hier war ihm der Zufall entgegen, da Bernhard fast durchaus seinem Vater, Bianka ihrer Mutter glich, zwischen beiden aber eher eine auffallende Verschiedenheit der Physiognomie als eine Ähnlichkeit stattfand, wenngleich sich einige übereinstimmende Züge allenfalls auffinden ließen. Wollte man aber danach suchen, so bot Ludwigs Angesicht ungleich mehr Wahrscheinlichkeit für die Verwandtschaft dar. Bernhard hatte überdies mit Geschicklichkeit hinzuwerfen gewußt, daß er aus Dresden gebürtig und der Sohn eines armen Kantors an der Kreuzkirche sei, der ihm, drückte er sich scherzend aus, als er vor drei Jahren verstarb, durch seinen letzten Willen nichts hinterlassen habe als den freien, zu gehen wohin er möge.

So blieb Dolgorow allerdings in peinlicher Ungewißheit, ob sein Geheimnis in der Tat entdeckt sei, oder ob nur zufällige Umstände, halbverstandene Worte oder Äußerungen den Schein einer Entdeckung gegeben hätten. Um nicht durch allzu vielfältiges, ängstliches Fragen Verdacht zu erregen, schlug er den Gästen eine Partie Schach vor. Ludwig, der das Spiel nur sehr wenig kannte, entschuldigte sich; Bernhard nahm den Vorschlag anscheinend sehr gern an. Der Kammerdiener brachte ein Schachbrett, sie setzten sich zum Spiel; Ludwig blieb im Zimmer und machte den Zuschauer.

»Ich habe einen gefährlichen Gegner,« bemerkte der Graf nach den ersten Zügen; »es wird mir Mühe machen, mich zu verteidigen.« – »Ihr Urteil nach so wenigen Zügen, Herr Graf, beweist Ihre Überlegenheit«, antwortete Bernhard höflich. Sie spielten indessen fort und schienen, obwohl beide ihre Gedanken innerlich auf etwas ganz anderes gerichtet hatten, doch mit dem größten Anteil bei dem Spiel zu sein. Bernhard besaß Kraft des Geistes genug, um sich zur Aufmerksamkeit zu zwingen und nicht durch Zerstreutheit zu verraten, daß ihm der Sieg im Spiele in diesem Augenblicke das Gleichgültigste auf der Erde sei.

So vergingen die Vormittagsstunden, die Tafelzeit kam heran. Die Gräfin sowie Bianka sollten bei Tisch erscheinen. Als der Graf am Morgen bei der Tochter gewesen war, hatte er davon als von einer nicht abzuweisenden häuslichen Pflicht gesprochen, die gestern nur durch die Unpäßlichkeit der Gräfin unterbrochen werden durfte. Bianka, welche jedoch die Gewandtheit Dolgorows, sich zu beherrschen und die verschiedensten Formen seines Wesens anzunehmen, schon aus seiner frühern diplomatischen Laufbahn kannte, ließ sich durch sein argloses Benehmen nicht täuschen. Vollends aber als er den Versuch machte, durch die Tür, welche den eigenen Ausgang für ihr Zimmer bildete, zu gehen und sich erstaunt stellte, daß sie verschlossen sei, erhielt sie die völligste Gewißheit, daß er sich verstelle, zumal da er sogleich und mit einem gewissen Eifer, den ein gleichgültiger Umstand nicht hätte erregen können, Jeannetten befahl, den Kammerdiener zu fragen, ob er den Schlüssel habe, und Sorge zu tragen, daß geöffnet würde. Indessen ging er und bald darauf wurde die Tür in der Tat geöffnet. Bianka aber wußte nur zu gut, daß sie dadurch nicht ihre wirkliche Freiheit, sondern nur den Schein derselben zurückerhalten habe, und daß man jetzt ihre Schritte um desto sorgfältiger beobachten werde. Dennoch erschien ihr die Flucht nicht unmöglich, und überdies war es das einzige Mittel, welches ihr übrigblieb. Ihr Herz suchte daher mehr einen Rat als ihr Verstand. Sie mußte alte, heilige Pflichten brechen, neue, unendlich teuere übernehmen; Eltern, Vaterland, selbst den Namen sollte sie plötzlich lassen und in eine ganz andere Welt treten. So mächtig ihr Herz sie dorthin zog, jetzt im Augenblicke der Entscheidung empfand ihre edle Seele erst, mit wie unzähligen, unsichtbaren Fäden das Leben uns umspinnt, die erst dann uns halten und fesseln, wenn wir sie für immer zerreißen sollen. In dieser Bedrängnis schrieb sie an Gregor, ihren väterlichen Freund und Ratgeber, den Mitkundigen ihres Geheimnisses, und bat ihn dringend, sobald es ihm irgend möglich sei, nach dem Jagdschloß zu kommen. Doch war sie so vorsichtig, ihm den Grund ihrer Bitte nicht zu melden. Sie wußte, einer so dringenden Aufforderung folge er doch. Willhofen versprach den Brief durch einen sichern Boten zu besorgen, und meldete eine Stunde danach, daß es ihm gelungen sei.

Jetzt fühlte sie ihr Herz wunderbar erleichtert; ihr Vertrauen zu dem teuern Lehrer war unbegrenzt; sie empfand, daß seine Gegenwart ihr Schutz und Rettung gewähren würde, denn es war seine Pflicht, ihr beides zu bieten, und wo diese ihn aufforderten, wußte sie, war sein Mut unerschüttert. Sie ging mit ihrer Mutter ins Tafelzimmer. Hier sah sie Ludwig und Bernhard nach der jetzt für ihr Herz so langen Trennung wieder. Es pochte in heftiger Wallung, doch gebot sie ihren Gefühlen mit angestrengter Kraft, um sich nicht zu verraten. Freilich, wohlwollend durfte sie ja sein, denn sie war es ja immer, und jetzt konnten dankbare Regungen ihr überdies den gültigsten Vorwand dazu leihen. Die Übung der vornehmen Sitte half ihr die Stunden des Mittagsessens überwinden, ohne durch irgend etwas ihre Stimmung zu verraten. Die Gewandtheit des Bruders, der sich des Gesprächs bemächtigte, es auf Schottland und England, auf seine Reisen daselbst, auf die Kunst im allgemeinen leitete und so auch Ludwig, der über ernste, Nachdenken erfordernde Gegenstände immer mit Einsicht zu sprechen wußte, hineinzog, kam ihr trefflich zu Hilfe. Dolgorow selbst verlor einen Teil seines Argwohns und überließ sich der Hoffnung, daß alle angeregten Besorgnisse auf zufälligen Umständen beruhten. Man stand endlich von der Tafel auf, und die Frauen waren im Begriff sich zurückzuziehen. Da erhaschte Bianka einen, wie sie glaubte unbewachten Augenblick und flüsterte Bernhard die Worte zu: »Sei getrost, ich habe Hoffnung zu einer glücklichen Wendung unsers Schicksals.«

Doch Dolgorow, der eben von Jacques gebrachte Briefe geöffnet hatte und las, warf zufällig einen Blick über das Papier auf einen Spiegel, in dem er Bernhards und Biankas Gestalten ganz erblickte. Er sah ihre vertraute Annäherung, bemerkte ihr Flüstern und die Bewegung, welche die Worte auf Bernhards Angesicht erzeugten. Zwar hatte er keine Silbe vernommen, aber in der Miene beider gewahrte er den Ausdruck einer Vertraulichkeit, welche nur durch das innigste Verhältnis erzeugt werden konnte und um so mehr auffiel, als beide, da sich die Tür unvermutet öffnete, plötzlich den Ausdruck ihrer Züge änderten und die förmliche Haltung der Höflichkeit wieder annahmen.

Was hier vorgegangen war, war zwischen der Fürstin Ochalskoi und einem Fremden ohne Rang und Namen unmöglich. Daher hatte Dolgorow plötzlich den unwidersprechlichsten Beweis für den Grund seines Argwohns in der Hand. Er überraschte ihn, da er fast schon davon zurückgekommen war, so mächtig, daß er, der unter den schwierigsten und gefährlichsten Umständen besonnen und kalt blieb, auf einen Augenblick die Fassung verlor und sich eine heftige Bewegung und einen halberstickten Laut des Erstaunens entschlüpfen ließ. Doch ebenso schnell, wie er die Ruhe verloren hatte, gewann er sie auch wieder, indem er zum Schein den Ausruf wiederholte und heftig auf den Boden stampfte, aber die Miene annahm, als seien es die Nachrichten, die er durch die Briefe empfing, welche ihn bewegten. »Es ist unerhört! unverzeihlich!« rief er aus und drückte den Brief ingrimmig zusammen; »man möchte rasend werden über solch ein Verfahren!« Sogar Bernhard ließ sich durch diese Maske täuschen und ahnte nicht, daß das Geheimnis in diesem Augenblicke enthüllt und verraten war. Geschickt auf die Stimmung des Grafen eingehend, sprach er halb fragend, halb teilnehmend: »Sie erhalten so unangenehme Nachrichten, Herr Graf?«

Dieselbe Frage tat die Gräfin, wiewohl mit größerer Bestimmtheit. »Was kann es sein,« erwiderte Dolgorow, »als neue Ursachen zu den alten Klagen. Durchaus verkehrtes Verfahren, unsinnige Änderungen, widersprechende Bestimmungen, stimmungen, die alles kreuzen und lähmen, was man mit eigener Kraft aus Liebe zum Vaterlande unternimmt! – Verzeihen Sie, aber ich muß einige Zeit allein sein, um den Unwillen in mir austoben zu lassen.« Mit diesen Worten verbeugte er sich und ging auf sein Zimmer, während zugleich die Damen die ihrigen aufsuchten. Bianka nahm indes mit den tröstenden, freundlich gesprochenen Worten Abschied: »Ich hoffe, wir sehen uns beim Tee wieder.«

Kaum war Dolgorow auf seinem Zimmer angelangt, als er dem Kammerdiener schellte, um ihn nochmals über alles das genau zu befragen, worauf er seine Vermutungen gegründet habe. Jacques, der längst merkte, wie wichtig die Angelegenheit dem Grafen sei, verschwieg, teils um das Verdienst der Entdeckung mit niemand zu teilen, teils um sich Jeannettens Gunst zu erhalten, nicht nur, was diese ihm gesagt, sondern daß sie ihm überhaupt das Wichtigste vertraut hatte. Daher waren dem Grafen seine Aussagen völlig ungenügend. Er hieß ihn gehen und blieb sinnend in seinem Zimmer, indem er sich quälte, ein Mittel ausfindig zu machen, um die Wahrheit zu entdecken. Plötzlich leuchtete es ihm hell auf. »Tor!« rief er, »wie kannst du so stumpfsinnig sein und nicht gleich darauf verfallen! Entweder er oder sie müssen irgend Briefe, Dokumente, oder sonst Erkennungszeichen hier haben, weil es sonst unmöglich gewesen wäre, daß sie einander aufgefunden hätten! Das muß mir Licht geben. Zuerst wollen wir das Leichtere versuchen und Feodorownas Zimmer in der Stille untersuchen.« Er schellte. Jacques trat ein. »Ist die Fürstin auf ihrem Zimmer?« – »Nein, Ihre Durchlaucht arbeiten bei der gnädigen Gräfin.« – »Es ist gut! – Ihr könnt gehen.« ;

Sowie der Kammerdiener fort war, zündete Dolgorow eine kleine Blendlaterne an, nahm sie unter den Mantel und eilte auf Biankas Zimmer. Es gelang ihm, unbemerkt einzutreten. Sogleich schloß er die Türen nach beiden Seiten ab und begann die Untersuchung. Er hatte einige Hauptschlüssel zu sich gesteckt, denen so leicht kein Schloß widerstand, und die er von seinem gefährlichen diplomatischen Verhältnis her besaß, wo er die Papiere seiner Untergebenen stets insgeheim aufs sorgfältigste bewachte, um sich ihrer Treue zu versichern. Mit Hilfe dieser Werkzeuge gelang es ihm bald, Biankas verschlossenen Schreibtisch zu öffnen. Nach kurzem Suchen fand er unter ihren Briefen den von Ruschka an sie obenauf liegen, da sie ihn erst vorgestern wieder zurückgelegt hatte. Dieser hob alle Zweifel; und da er vollends das Portefeuille entdeckte und öffnete, in dem die Porträts beider Eltern sich befanden, deren Ähnlichkeit mit den Kindern nicht zu verkennen war, so bedurfte es weiter nicht der mindesten Erklärung oder Nachforschung, um zu wissen, daß Bernhard der aufgefundene Bruder sei. Sorgfältig legte er alles an seinen Ort, schloß die Tür wieder auf und eilte auf sein Zimmer zurück.

Jetzt beschäftigten ihn die Entwürfe, wie er das keimende Unheil am besten zu ersticken vermöge. Sein Plan war bald gefaßt. Er mußte Feodorownas Lippe ebenso versiegeln wie Ruschkas durch Drohungen gegen das, was ihr das Teuerste auf der Erde war. Die Aufgabe war für den Gewissenlosen leicht, nur hatte er die Mittel nicht sogleich in Händen. Bernhard und Ludwig mußten das Los der im Schlosse befindlichen gefangenen Franzosen teilen. Dann sollte ihr Schicksal davon abhängig gemacht werden, ob Feodorowna auf die Hostie schwören wolle, das Geheimnis ihrer Geburt niemals zu verraten. Doch dazu bedurfte es einer stärkern Mannschaft, als man im Schlosse hatte. Außer den Dienern, unter denen die meisten Leibeigene Feodorownas waren, auf die sich Dolgorow in einem entscheidenden Falle nicht unbedingt verlassen konnte, war keine Mannschaft im Schlosse. Bernhard und Ludwig allein vermochten einen so entschlossenen Widerstand zu leisten, daß man wenigstens gezwungen werden konnte, sie zu töten, und alsdann war die Bürgschaft für das Geheimnis verloren. Feodorownas Leben selbst aber durfte Dolgorow nicht gefährden, teils weil ihre Leibeigenen in solcher Tat einen furchtbaren, nicht zu versöhnenden Frevel gesehen hätten, teils weil er voraussah, daß die Gräfin ihre Zustimmung versagen werde, endlich aber auch, weil er selbst hier das innere Maß seines frevelhaften Wollens erschöpft fühlte. Denn jeder, auch der Verderbteste, trägt eine Grenze seines frevelnden Wollens in sich, die er nicht zu überschreiten wagt. Selbst der tiefste Abgrund der Verbrechen erschöpft sich und erreicht einen Punkt, wo das heilige Gebot der Sittlichkeit sich so unbesiegbar geltend macht, daß der Entartetste, und sollte er darüber die Frucht aller seiner frühern Frevel verlieren, sollte er selbst der irdischen Vergeltung anheimfallen, dennoch die Willenskraft zum Bösen gelähmt fühlt und den letzten Streich, der ihn ans Ziel bringen soll, nicht zu führen wagt. So greift der unsichtbare Arm des Allmächtigen selbst in das Getriebe verbrecherischen Tuns und gebietet einen unwiderruflichen Stillstand.

Dolgorows Plan war gefaßt. Er beschloß, eine hinlängliche Mannschaft in die Nähe des Schlosses kommen zu lassen, um jeden Widerstand zu beseitigen. Dann sollten Ludwig und Bernhard ins Freie gelockt, unvermutet überfallen, ergriffen, geknebelt und in möglichster Stille abgeführt werden, so daß niemand im Schlosse dessen gewahr würde. Wenn man so den tiefern Wald erreicht hätte, wollte ihnen Dolgorow erklären, daß ihr und Feodorownas Schicksal von der Bewahrung seines Geheimnisses abhänge, und sie dann mit den übrigen Gefangenen in das Innere des Landes abführen lassen. Erst nachdem alles abgetan sei, solle Feodorowna den Hergang der Dinge erfahren, und alsdann würde es ein leichtes sein, ihr das Gelöbnis des unverbrüchlichen Geheimnisses durch Bedrohung der Gefangenen abzubringen.

Willhofen war ein verdächtiger Zeuge für Dolgorow. Er beschloß daher, sich desselben zu entledigen und zugleich durch ihn seinen Zweck zu fördern, indem er eben ihn zum Boten wählte, um den Befehl zu überbringen, daß die Mannschaften aufs Schloß kommen sollten, zugleich aber dem Förster, der diesen Teil der zum Landsturm versammelten Bauern befehligte, den Auftrag gab, Willhofen nicht mit zurückzusenden, sondern ihn bis auf weitere Bestimmung anderweitig zu beschäftigen.

Dem wohlüberlegten Entschluß folgte die rasche Tat. Er schrieb den Befehl, versiegelte ihn, schellte und ließ, da Jacques eintrat, Willhofen rufen. »Hier ist ein dringender Brief zu bestellen, Solanow«, redete er ihn an. »Du wirst sofort satteln und reiten. Ich mache dich verantwortlich dafür, daß der Befehl binnen drei Stunden spätestens eingehändigt ist.« Der Alte verbeugte sich stumm, nahm den Brief und ging. Jetzt schöpfte Dolgorow Atem. Die Gefahr schien abgeleitet, die drohende Wolke geteilt. Er ahnte nicht, daß sein Plan gescheitert war, noch ehe er zur Ausführung kam.


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