Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Viertes Kapitel.

»Rasinski,« rief Jaromir diesen unvermutet an; »siehst du dort auf der Höhe?« – »Kosaken! Wahrhaftig! Aber meinen Kopf zum Pfande, sie sind nicht allein!« antwortete Rasinski.

Auf der Anhöhe zeigten sich drei Reiter, die indessen nur, um zu kundschaften, vorgeschoben zu sein schienen. Sie wurden bald von allen bemerkt, und die Reihen gerieten in jene unruhige Bewegung, man hörte jenes dumpfe Murmeln durch die Glieder laufen, wodurch sich die Erwartung eines wichtigen Ereignisses anzukündigen pflegt. »Wirf dich aufs Pferd, Jaromir,« befahl Rasinski, »und sprenge dort bis an die Waldecke hinauf, so kannst du die Gegend weit übersehen.«

Jaromir, der das beste Pferd von allen besaß, flog wie ein Pfeil über die Schneefläche, um den Auftrag zu vollführen. Fast noch schneller aber kehrte er zurück und meldete, daß die ganze Höhe mit Kosaken besetzt sei, und auch Infanteriekolonnen aus der Tiefe des Waldes debouchierten. Eben ritt auch Regnard vorüber, der auf Befehl des Marschalls gleichfalls eine Rekognoszierung angestellt hatte. »Es kommt zum Spruch, Rasinski,« rief er im Vorüberreiten; »der Tanz fängt gerade so an wie vorgestern. Der Wald wimmelt von Russen wie ein Ameisenhaufen.«

Die Trommel tönte. Die Truppen traten ins Gewehr. Die ungeordneten Massen der Traineurs, der Kranken, der Waffenlosen rotteten sich auf einen dichten Haufen zusammen. »Für uns kann die Schlacht eine Freude sein,« sprach Rasinski; »aber Boleslaw und die andern Verwundeten trifft ein hartes Los. Wir müssen suchen, es von ihnen abzuwenden. Doch wer kommt da?«

Von den Höhen herab nahte sich ein russischer Offizier, der mit einem weißen Tuche in der Hand schon von fern winkte. »Was Sie wollen, mein Herr,« rief Rasinski stolz für sich, als er ihn erblickte, »ist vergebliche Mühe. Solange wir Waffen führen können, unterhandeln wir nicht.«

Der Marschall war mit Anordnung und Aufstellung der Truppen beschäftigt. Er sprengte durch die Glieder, zeigte sich überall selbst, ordnete, ermutigte, gab Befehle. Rasinski sandte ihm schleunig einen Reiter nach, um ihn zu benachrichtigen, daß ein Parlamentär sich zeige. Doch noch ehe der Marschall zurückkehrte, hatte der russische Offizier die Vorposten erreicht, und da er an der Uniform die Leute Rasinskis für Polen erkannte, rief er ihnen polnisch zu, sich der Übermacht zu ergeben. Doch wie ein ergrimmter Löwe sprengte Rasinski auf ihn zu und rief: »Sie wiegeln unsere Leute auf, Sie suchen sie zum Verrat zu verleiten! Das ist nicht die Rolle der Parlamentärs, mein Herr. Ich erkläre Sie für einen Gefangenen!«

Der Offizier wollte erschrocken das Pferd wenden, doch schon hatte Rasinski die Zügel desselben ergriffen, und seine herbeisprengenden Leute umringten den Russen so rasch, daß weder an Flucht noch an Gegenwehr zu denken war. »Sie werden die unverletzliche Person des Parlamentärs nicht angreifen!« rief der Russe. – »So hätten Sie in gebührender Ferne warten müssen, ob es uns beliebte, Sie als Parlamentär zu empfangen«, entgegnete Rasinski. »Auf diese Weise darf sich niemand einem kampffertigen Heere nahen, das ist wider Kriegsgebrauch.« – »Lassen Sie mich zu Ihrem Befehlshaber führen,« antwortete der Offizier; »er wird meine wohlgemeinten, vernünftigen Ratschläge achten. Das Unmögliche ist selbst dem Tapfersten unmöglich; es bleibt Ihnen kein Ausweg als der der Kapitulation.« – »Wir werden ja sehen«, erwiderte Rasinski, der der Entschließung des Marschalls zu gewiß war. »Dort kommt der Befehlshaber. Sie stehen vor dem Marschall Ney; dies sei Ihnen genug, um zu wissen, daß Ihre Worte vergeblich sein werden.«

Der Marschall kam, Rasinski ritt ihm entgegen und meldete, was er getan. »Sie haben als ein Offizier von Ehre gehandelt,« antwortete der Marschall; »ich würde mich schämen, geringer zu denken als Sie. Doch will ich den Offizier sprechen.« Damit ritt er auf diesen zu und fragte ihn nach seinem Begehr.

»Mich sendet der Marschall Kutusow,« begann der Russe; »er würde einem so berühmten Krieger und Feldherrn nicht den Vorschlag tun, die Waffen zu strecken, wenn noch ein anderer Ausweg offen bliebe. Auf diesen Höhen ringsumher stehen achtzigtausend Mann und hundert Feuerschlünde. Wenn Sie zweifeln, so soll es Ihnen freistehen, einen Offizier zu senden, den ich durch die Reihen der Unserigen führen will, damit er sie zähle.«

»Ich hoffe, Ihren Leuten selbst so nahe zu kommen, daß ich sie zählen kann«, erwiderte der Marschall mit funkelnden Augen. »Sagen Sie dem Fürsten, daß der Marschall Ney noch nie die Waffen übergeben hat, und daß die Weltgeschichte niemals eine solche Handlung von ihm berichten wird. Dort liegt das Ziel, welches Pflicht und Ehre mir gesetzt haben; ich werde mir Bahn dahin mitten durch Ihre Reihen machen, und wenn diese Wälder zu Armeen würden!«

»Sie werden es«, antwortete der Parlamentär; aber noch hatte er das Wort nicht vollendet, als ein furchtbares Krachen von den vorwärts und zur Linken gelegenen Anhöhen ertönte und ein Hagel von Kartätschen auf den Eisspiegel der Felder ringsumher herabprasselte. »Das ist Verrat!« rief der Marschall heftig, indem er aufblickte und die Höhen von allen Seiten mit schwarzen Truppenmassen und Artillerie gekrönt sah. »Unter dem Feuer parlamentiert man nicht! Sie sind mein Gefangener!«

Der bestürzte Offizier, der durch die Unvorsichtigkeit oder Rücksichtslosigkeit der Seinen auf diese Weise preisgegeben wurde, übergab seinen Degen. »Führt ihn zu dem Train!« gebot der Marschall. »General Ricard vorwärts! Sie greifen den Feind mit dem Bajonett an. Ihnen sei die Ehre, uns die Bahn zu brechen.«

Der General mit etwa fünfzehnhundert Mann rückte entschlossen vorwärts. Die kleine Schar verlor sich fast auf dem ungeheuern Raum, der vor ihr lag; das Unternehmen, gegen die dichten Massen des Feindes anzurücken, der gleich drohenden Gewitterwolken sich immer schwärzer und schwärzer auf den Höhen zusammenzog, schien fast ein wahnsinniges zu sein. Doch der Marschall hatte es befohlen, und das Vertrauen der Krieger auf ihn war unbegrenzt; sie wähnten, sein Gebot müsse den Sieg erzwingen. Ohne Bedenken stürzten sie daher vorwärts den steilen Weg in die vorliegende Schlucht hinab, um jenseits die Anhöhe zu stürmen.

Indessen durchfliegt der Feldherr die Reihen der übrigen und ordnet sie zum Kampf. Regnard sprengt zu Rasinski heran und bringt ihm den Befehl, mit seinem bis auf sechzig Mann geschmolzenen Regimente den linken Flügel gegen die schwärmenden Kosaken zu decken. Die Artillerie macht Front gegen den Feind, und ihre sechs kleinen Kanonen unternehmen es, sich gegen die furchtbare Übermacht der russischen Feuerschlünde zu verteidigen. Auf den beschneiten Anhöhen, welche der Feind besetzt, herrscht seit jener ersten Salve, womit er den Angriff begonnen hat, eine gewitterschwere Todesstille. Aber als wüchsen die Scharen, gleich den geharnischten Männern des Kadmus, aus dem Erdboden herauf, wurde das schwärzliche Gewimmel von Roß und Mann auf dem weißen Plane immer dichter und dichter.

Rasinski hatte seinen Posten einige hundert Schritte links vom Wege genommen und hielt an einem Schneehügel, von dem er halb gegen das feindliche Artilleriefeuer gedeckt wurde, und doch das ganze Schlachtfeld übersehen konnte. Seine Haltung war ernst, wie immer in der Schlacht, aber ebenso zutrauensvoll, so besonnen und frei wie drei Monden zuvor, als er bei Mosaisk mit Löwenkühnheit an der Spitze seines Regiments in die feindlichen Reihen eindrang. Während er die Blicke flammend über das Schlachtfeld schweifen ließ, ritt Jaromir zu ihm heran und sprach leise: »Wir werden ehrenvoll fallen, Rasinski; solltest du am Leben bleiben und sie wiedersehen,« – er wagte Lodoiskas Namen nicht auszusprechen – »so berichte ihr meine Reue. Die Vergebung, der der Lebende unwürdig war, wird dem Toten jenseits die Ruhe geben.« – »Was sprichst du, Jaromir,« erwiderte Rasinski bewegt; »denke an das Leben. Hier sind noch viele Auswege,« – »O ich fürchte den Tod nicht,« entgegnete Jaromir rasch und eine edle Röte färbte seine bleichen Wangen, denn er wähnte, Rasinski werfe einen Verdacht der Verzagtheit auf ihn; »doch du siehst wohl selbst, daß hier nur für wenige Heil und Rettung bleiben wird. Es ist freilich ein grausamer Hohn der Glücksgöttin, daß sie den Tapfersten so verrät. Aber sie ist doch einmal eine Delila, die den Simson gebunden überliefert!« – »Erwarten wir's,« sprach Rasinski mit Würde, »ob er seine Bande nicht zerreißen wird.«

Während dieses Gesprächs war Ricard mit seiner Mannschaft durch die Schlucht gegangen und rückte jenseits im Sturmschritt gegen die russischen Batterien auf dem Höhenrande von Katowa heran. Jetzt blitzte es, als beginne ein Gewitter rings am Horizont, und soweit das Auge reichte, wirbelten Rauchsäulen auf allen Höhen empor, als sei die Erde in hundert Vulkanen aufgeborsten. Einen Augenblick später zerriß ein donnerndes Krachen die Lüfte, der Boden zitterte in seinen Tiefen erschüttert, und mit sausendem Geheul und Zischen durchschnitt der Schwarm der Kugeln und Kartätschen wie ein Heer unsichtbarer, fliegender Schlangen die Lüfte. Sie prasselten rings in die starre Eis- und Schneerinde hinein, welche das Feld bedeckte, so daß diese zersplittert in tausend glänzenden Wolken emporstäubte. Ein Blick auf Ricards Tapfere mußte das Herz zerreißen, denn dieser eine Moment hatte die Hälfte derselben zerschmettert auf das starre, winterliche Totenlager hingestreckt. Die eben noch dicht geschlossenen Reihen waren so gelichtet, daß die Lebenden wie vereinzelte Stämme eines ausgehauenen Waldes standen. Doch der Führer ist nicht gefallen; sein Ruf sammelt die Unversehrten, er rückt aufs neue gegen die todspeienden Höhen hinan. Da reißt eine zweite donnernde Lage der Batterien vor ihm, gleich einer heranbrausenden Meerflut, seine Reihen abermals hinweg. Nur wenige bleiben von der verwüstenden Sichel des Todes verschont, und in diesen, da der Sieg Unmöglichkeit ward, gewinnt der Schrecken die Übermacht, und sie stürzen flüchtend zurück, um Heil in den Reihen ihrer Brüder zu suchen.

Schon aber rückt der Marschall Ney selbst an der Spitze des Kerns seiner Mannschaft gegen den Feind heran. Dicht geschlossen, eine wandelnde Mauer, in der Brust ein ehernes unerschütterliches Herz, erfüllt mit grimmigem Schmerz um den Tod ihrer Brüder, entschlossen, den letzten Blutstropfen an Ehre und Rache zu setzen, stürmt diese schwarze Wetterwolke von Helden, den Kühnsten an der Spitze, gegen die Verderben herabschleudernden Vulkane der feindlichen Batterien heran. Jetzt fühlt auch der Feind, der bisher unbeweglich auf den Höhen gestanden und nur aus sicherer Ferne den Tod auf die Gegner herabgesendet hat, seinen Ehrgeiz geweckt. Die erste russische Linie, dreifach an Zahl, von trefflicher Bewaffnung und kraftvollen, unerschöpften Kriegern, rückt den verwegenen Angreifern entgegen, in der stolzen Hoffnung, sie zu umflügeln, zu ersticken, zu zermalmen.

Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo Rasinski handeln muß. Er sprengt mit seiner kleinen Schar vor, durch die Schlucht hindurch, die Anhöhen links hinauf und wirft sich in die rechte Flanke des Feindes. Zugleich führen einige hundert Mann leichter Truppen, es waren Illyrier, dieselbe Bewegung auf der linken Flanke aus. Bei diesem Anblick ergreift Erstaunen den Feind. Als er sieht, daß die Gegner den Sieg für gewiß achten, fängt er an ihn möglich zu finden. Das kühne Vertrauen der Angreifenden erschüttert seine Zuversicht; er stutzt, er wankt. Da bricht Ney mit seiner grimmerfüllten Schar in die wankenden Linien ein, wirft sie nieder und scheucht sie vor sich her wie ein Bergstrom, der, seine Ufer überbrausend, die Wellen auf eine flüchtende Herde rollt. Jubelnd stürmt er auf der gewohnten Bahn des Sieges vorwärts. Aber ach, jetzt verläßt ihn die treulose Göttin! Denn schon ist ein zweites Heer, gleich dem erneuten Haupte der Hydra, dem Boden entwachsen, und reckt ihm aus tausend ehernen Schlünden die roten, blitzenden Zungen entgegen. Der Boden scheint zu bersten, das Firmament zu zerreißen bei dem Krachen der Feuerschlünde, die in diesem Augenblicke eine Flut von Blei und Eisen gegen ihn ausspeien. Alles wankt, nur Ney steht fest in diesem Orkan. Doch welch ein Anblick bietet sich ihm dar. Alle seine Generale liegen verwundet, und ihr edles Blut rötet den Schnee; seine Scharen sind furchtbar gelichtet; der Boden ist schwarz bedeckt mit Gefallenen. Noch einmal ruft er: »Vorwärts!« und versucht es, die Trümmer des Heeres zu sammeln; da entladet sich die furchtbare Donnerwolke zum zweiten Male und schleudert den tausendfachen Tod in die zersprengten Reihen. Jetzt stürmt der unsichtbare Gott des Entsetzens in die Scharen ein, und der Schwarm wirbelt nach allen Seiten gescheucht auseinander. Rasinskis Tapfere sind die letzten, welche flüchten; er selbst befiehlt die Flucht, denn sie allein trägt noch die Möglichkeit des Heils im Schoß. Der Feldherr erkennt den Willen des Geschicks, dem der Sterbliche vergeblich widerstrebt; mit empörtem Schmerz in der Brust gehorcht auch er dem Verhängnis, das den Helden auf die schmachvolle Bahn der Flucht zwingt. Zu den Seinigen zurückgekehrt, hält er mitten unter ihnen.

Kutusow von seinen Höhen wagt es dennoch nicht, diesen Kriegern näher zu rücken, deren geringster ein unbesiegbarer Held ist; aber ununterbrochen sendet er von fernher den Tod in ihre Reihen. Während die Leute sich wieder sammeln und ordnen, überblickt der Marschall das Schlachtfeld mit dem prüfenden Auge des Feldherrn. Sein Antlitz ist ernst, die Stirn düster gefurcht, doch trotzig und entschlossen. Der Blick der Seinigen hängt an seinen Mienen, denn nur von ihm nehmen sie die Entscheidung hin, daß sie ohne Rettung verloren sind; solange er sie nicht ausspricht, hoffen sie noch auf einen glücklichern Erfolg. An seinem ernsten Sinnen erkennen sie, daß er auf einen andern Ausweg denkt. Unverwandt hält er den Feind und seine Bewegungen im Auge; nur dann und wann wirft er einen schmerzlichen Blick auf die Stelle, wo er den flüchtigsten Sieg, aber freilich auch den unvergänglichsten Ruhm, in wenigen Minuten mit dem Leben so vieler teuern Kameraden erkauft hat. Indessen dauert das mörderische Feuer fort und der Raum, den das kleine Heer einnimmt, ist so gering, daß die Kugeln es in seiner ganzen Tiefe und Breite durchdringen. Dasselbe Geschoß, welches in den vordersten Reihen die Krieger niederwirft, schmettert noch in die aufgefahrene Burg der Wagen hinein, wo die Verwundeten, die Kranken, die Frauen und Kinder in hilfloser Ohnmacht dem Verderben preisgegeben sind. Welche Hand soll jetzt erretten?–– Da läßt die heilige Nacht allmählich ihre dämmernden Schleier herab und umhüllt die Bedrängten mit ihrem beschattenden Gespinst. Jetzt scheint der Marschall den Ausweg aus diesem Labyrinth des Todes gefunden zu haben. Er mißt mit den Augen die Entfernung, die Stellung des Feindes; er wirft die Blicke seitwärts, rückwärts; man sieht, daß er die Gestalt des Bodens, auf dem er sich befindet, mit neuen Absichten betrachtet, ihm neue Vorteile abzugewinnen denkt. Nun ist der Gedanke reif; er hat keinen Feldherrenrat gehalten; nur seinen eigenen Mut, seine eigene Einsicht hat er befragt. Er winkt Regnard, Rasinski und die andern Führer heran und erteilt jedem seine Befehle. Diese eilen zu den Ihrigen. »Gewehr auf!« schallt es durch das Heer, und von allen Seiten setzen sich die Kolonnen in Bewegung. Aber wohin? Gegen den Feind? Nein. Aber dennoch dem furchtbarsten Verderben entgegen, denn sie wenden ihre Schritte zurück, in die unermeßlichen Öden Rußlands. Der Feind von seinen Höhen sieht mit Erstaunen diese Bewegungen; er scheint ähnliche Absichten zu vermuten, wie zwei Tage zuvor der Vizekönig von Italien ausgeführt hat. Deshalb verlängert Kutusow die Flanken seines, Heers nach beiden Seiten und dehnt so die Garne weiter aus, in denen er den Löwen zu sahen[? fangen ?] hofft. Er hätte ihn vernichten können, denn nur eines Angriffs würde es bedurft haben, um die wenigen Tapfern durch die Masse ihrer Gegner zu erdrücken; allein der kaltblütige Greis schien einen höhern Wert darauf zu legen, sie gefangen zum Triumphe Rußlands inmitten seines Heeres einzuführen, wenn Hunger, Kälte und Erschöpfung sie gezwungen haben würden, die Waffen zu übergeben. Denn daß abermals eine Möglichkeit sein werde, dieser zehnfachen, unersteiglichen Ringmauer von Gefahren zu entrinnen, das schien dem alten Russen nur im Reiche der Wunder und Träume zu liegen. So hatte er es denn jetzt in der Hand, den berühmtesten Krieger des französischen Heers zu vernichten; aber das genügte seinem Stolze und seiner Rache nicht. Er wollte ihn demütigen und nicht sein Haupt, sondern seinen Degen dem Kaiser Alexander überliefern.

Die französischen Krieger empfangen die Befehle ihrer Führer mit, erschreckendem Erstaunen. Wie, fragt sich jeder, zurück sollen wir, in die starren, grauenvollen Wüsten, denen wir nur mit äußerster Anstrengung zu entrinnen suchten? Wir wenden der Heimat den Rücken zu, dringen wieder ein in das Herz des szythischen Rußland, wo die Sitte rauher, barbarischer ist als selbst die Natur? Mit geheimem Grausen taten sie jeden Schritt rückwärts; indes sie gehorchten, denn ihr Feldherr hatte so geboten, und das Vertrauen auf ihn war die einzige Stütze ihrer Kraft.

Die Nacht schien den Schlag ihrer düstern Schwingen zu beeilen und senkte sich tiefer und tiefer auf das kalte Lager des Schnees herab. Schon verschwanden die mit Feinden gekrönten Höhen in unbestimmtem Dunkel, und nur noch einzeln, sparsam wurden schwere Kugeln in die Masse der Rückwärtsziehenden gesandt, gleichsam ein Zeichen, daß der Feind seine Beute nicht aus dem aufmerksamen Auge verliere.

Schweigend, mit müdem Fuß, düstere Sorgen in Blick und Brust, schritten die Krieger auf ungebahnten Wegen (denn der Marschall zog sich, rechts von der großen Straße, den Wäldern zu) durch den tiefen lockern Schnee dahin. Das Maß ihrer Bedrängnisse war aber noch nicht gefüllt. Denn allgemach, anfangs mit hohlem Geräusche, dann näher und näher heranbrausend, erhob sich der Sturm; diesmal aber nicht jener strenge eisige Hauch des Nordens, sondern ein feuchter Südwest, der Schneegewölk auf der Bahn des Himmels herantrieb und zugleich von dem Boden wirbelnde Flockensäulen aufjagte. Als rege ein feindlicher Dämon diese Strudel von Sturm und Schnee auf, um die Unglücklichen darin wie in den gähnenden Schlünden einer Charybdis zu verschlingen, tobten die Wirbel umher und versetzten der Brust den Atem. Roß und Menschen keuchten, die letzte Kraft drohte zu schwinden. Der Wind zog mit hohlem Geheul über die Steppen; jetzt verfing er sich in den Schluchten, jetzt brach er sich an den Wäldern und kehrte abprallend, sich selbst kreuzend zurück, so daß er, die Ermatteten mochten die Schritte wenden, wohin sie wollten, ihnen stets das Angesicht rauh peitschte. Der Marsch wurde unsicher, er schwankte rechts, er schwankte links. Bald sperrten verwehte Schluchten den Weg, und man mußte ganze Strecken zurückmessen, ungewiß, ob man sich vom Feinde entferne oder ihm nähere. Bald zwangen steile, mit Glatteis bedeckte Abhänge zu einer geänderten Richtung. Die Nacht wurde finster wie das Grab, eine schwarze schwere Wolkenhülle, aus deren Schoß die Schneefluten herabwirbelten, hatte sich über den Himmel gelagert. Nichts blieb dem Auge sichtbar als das gespenstisch schimmernde weiße Leichentuch, womit sich die unermeßliche Totenbahre der Erde bedeckt hatte. Endlich waren die erschöpften Kräfte gebrochen; der erstarrte Fuß vermochte keinen Schritt mehr zu tun, der abgestorbenen Hand entsank die Waffe. Selbst der Feldherr schien die Hoffnung zu verlieren und das edle Haupt dem zerschmetternden Schlage der Vernichtung beugen zu wollen. Es mußte endlich mitten in Eis und Schnee gerastet werden, damit die Ermüdeten wenigstens Atem zu neuen Anstrengungen schöpfen konnten. Der Marschall befand sich an der Spitze des Zuges mitten unter Rasinski und dessen Leuten; Regnard hielt an seiner Seite.

»Wißt ihr noch, Rasinski,« fragte er diesen ganz leise, »wo Süden oder Norden ist, ob der Feind vor oder hinter uns steht, ob wir uns rechts oder links von der Straße befinden? Ein Kompaß wäre hier eine Provinz wert.« – »Vielleicht lassen sich einige Sterne blicken, wenn das Schneegestöber aufhört,« erwiderte Rasinski; »es dauert ja schon drei Stunden, da wird es doch endlich eine Pause machen.« – »Ich glaube an keine Sterne mehr, die uns leuchten«, antwortete Regnard kopfschüttelnd und blickte düster vor sich hin.

Rasinski peinigte sich mit dem Versuche, ein Mittel zu ersinnen, um den Marsch mit Sicherheit zu leiten. Eben hatte er einen rettungbringenden Gedanken gefunden, als der Marschall ihn rasch fragend anredete: »Haben Ihre Leute und Pferde noch einige Kraft übrig, so folgen Sie mir, ich hoffe ein Mittel ersonnen zu haben, die Richtung nach dem Dnjepr selbst durch diese Schneewüste zu finden.« – »Auch ich,« rief Rasinski eilig, weil er sich wenigstens den Ruhm des Einfalls auch für seinen Teil sichern wollte; »wenn man den Lauf des Baches ermitteln könnte, der in der Schlucht strömen muß, an welcher wir vor einer halben Stunde umzukehren gezwungen waren.« – »Wir verstehen uns,« erwiderte der Marschall freudig; »eben das ist auch mein Gedanke. Wir wollen versuchen, die Stelle wiederzufinden; Sie und Ihre Reiter und einige Sappeure sollen mich begleiten.«

Sogleich machte man sich auf. Die noch nicht ganz verschneiten und verwehten Spuren der Kanonen ließen den Weg, den das Heer genommen hatte, erkennen. An einigen zweifelhaften Stellen half Rasinskis scharfer Ortsinn, dem nichts entging, was zur Orientierung dienen konnte, und der die unbedeutendsten Formen des Terrains in unverlöschlichem Gedächtnis festhielt. Nach einer halben Stunde erreichte man die Schlucht. Der Schnee war durch den Sturm mehr als mannshoch darin zusammengeweht. Indessen machten sich die Sappeure mit angestrengtester Kraft daran ihn wegzuräumen, und gelangten wirklich auf einen festen Eisspiegel.

»Wenn der Frost bei diesem seichten Gewässer nur nicht bis auf den Grund gedrungen ist«, sprach der Marschall besorglich, während die Sappeure sich schon bemühten, das Eis zu durchhauen. – »Das fürcht' ich nicht,« entgegnete Rasinski; »alle diese Bäche haben einen warmen, moorigen Grund. Daher frieren sie nur bei der schärfsten Kälte durchweg zu. Wir treffen zuverlässig noch Wasser, zumal da es gestern schon zu tauen angefangen hat.«

Er hatte richtig geurteilt. Denn eben drang die Axt durch die Eishülle, und es trat Wasser in die Lume. Mit wenigen Schlägen war die Öffnung erweitert, und man erkannte jetzt die Richtung des Wasserzuges. Freudig rief der Marschall aus: »So hoffe ich, sind wir geborgen. Dieser Bach muß uns zum Dnjepr geleiten, der nicht fern sein kann. Sind wir über diesen hinaus, so, denke ich, haben wir das Schwerste überwunden und werden uns mit unsern Kameraden vor uns bald vereinigen.«

Sogleich sandte der Feldherr jetzt die Marschbefehle an das Korps, welches sich indessen einigermaßen von der Anstrengung ausgeruht hatte. In einer Stunde gewann man, stets dem Laufe des Baches folgend, einen dichten Wald. Hier war man geschützt vor dem Sturme, und das Schneegestöber hatte überdies aufgehört. Die geringste günstige Wendung des Geschicks belebt in solchen Lagen den Mut auf unglaubliche Weise mit neuen Kräften und Hoffnungen. Daher schritt der Marsch rüstig vorwärts. Das Vertrauen der Krieger wuchs noch durch den glücklichen Zufall, daß Rasinski in den halbeingestürzten Hütten eines zerstörten, elenden Dorfes einen alten lahmen Bauer auftrieb, der in der Gegend genau bekannt war. Dieser sagte aus, der Strom sei ganz in der Nähe, werde aber schwerlich zu passieren sein, indem das Eis noch nicht stark genug gewesen sei, um dem Tauwinde zu widerstehen. Wenn noch ein Übergang möglich sei, so könne dieser nur an einer einzigen Stelle geschehen, wo die Eisschollen sich wegen der starken Krümmung des Flusses zu stopfen und einige Zeit hindurch auch noch dann eine ziemlich feste Decke über denselben zu bilden pflegten, wenn er oberhalb schon ungangbar sei.

Rasinski versprach dem Alten eine reiche Belohnung, wenn er ihn zu der Stelle führe; dagegen drohte er ihm mit dem fürchterlichsten Tode, wenn er Verrat übe. Der Bauer erwiderte: »Habt keine Sorge, ich bin nicht aus Altrußland, sondern von drüben her, wo man euch nicht so übel will als hier. Seid ihr nur erst über dem Flusse, so werdet ihr dort auch Obdach und wohlwollende Leute antreffen, während hier alles verheert und wie ausgestorben ist. Folgt mir denn getrost; ihr werdet bald sehen, daß ich recht habe.« So wurde er der Führer des Heers und brachte es glücklich, bevor eine Stunde verging, an das Ufer des Stroms, der der Retter oder der Verderber dieser tapfern Schar werden sollte.


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