Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Neuntes Kapitel.

Die Stunde war vorüber, da rüttelte er Jaromir auf. »Nun ist's an dir zu wachen; vermagst du's aber auch? Du scheinst krank, denn du lagst nur im unruhigen Halbschlaf, während die andern regungslos von seinen bleiernen Banden gefesselt sind.« Das Gefühl für kriegerische Pflichten hatte Jaromir noch nicht verloren; hier gehorchte er pünktlich und wußte sich aus Gewohnheit der Ehre zusammenzuraffen. Darum antwortete er schnell: »Ich bin wach, lege du dich jetzt nieder, kein Schlaf soll auf meine Augen sinken!«

Rasinski war beruhigt, als er die entschlossene Miene Jaromirs sah, auf den er sich sonst unbedingt verlassen konnte. Er wickelte sich daher fester in den Mantel ein und lehnte sich zurück, um der Ruhe zu genießen. Jaromir nahm einen langen Stab von Fichtenholz und schürte die Flammen. Alles war totenstill umher, kein Fuß rührte sich, kein Laut wurde hörbar. »Es ist doch kalt«, sprach der Einsame vor sich hin und starrte in die Glut. Ein Schauer rüttelte ihn. Im Nacken fühlte er die eisige Hand des Winters, während ihm die Flamme das Angesicht fast versengte. Doch mehr als diese zwiefache Marter peinigten ihn die Nattern in seiner Brust. Noch war die Klarheit seines Geistes nicht entwichen, denn er empfand noch mit ahnungsvollem Grauen, wie sich düstere Wolken des Wahns im wechselnden Vorüberziehen vor die reine Sonne des Bewußtseins wälzten. »Ich weiß nicht,« dachte er, »träume ich mehr im Wachen, oder wache ich mehr im Traume. Ich fühle kaum einen Unterschied zwischen Schlafen und Wachen; es wälzt sich wie ein langsam kreisender Nebel um mich her. Wie ruhig diese alle schlafen.« Seine Blicke weilten auf dem Antlitz der Freunde. »Ja, sie schlafen fest, sie träumen wohl gar süß! Ach! Wer alle Qual so verträumen könnte! Wer nie, nie wieder erwachte!« Es überkam ihn wie ein übermannender Schwindel; er mußte die ganze Gewalt seines Willens, den scharfen Stachel seines Ehrgefühls zu Hilfe nehmen, um nicht betäubt zurückzusinken.

Plötzlich hörte er ganz in der Nähe, aber aus dem unbestimmten Räume des Dunkels, laut auflachen. Als schlüge ein kalter Blitz des Entsetzens in seine Brust, so zuckte er bei diesem Tone zusammen, der in der grausen Umgebung wie die frechste Gotteslästerung klang. »Wer da?« wollte er laut anrufen, aber die Summe erstarb ihm auf der Lippe und sein Auge suchte unstet starrend in der Finsternis den bösen Geist des Abgrundes, der hier lauern mußte. Da trat aus dem Schattenkreis der Nacht eine grausenhafte Gestalt in den Glanz des Feuers. Es war ein riesengroßer Kürassier, in einen zerlumpten Mantel gehüllt, das Haupt unter dem Helm mit einem blutigen Tuche umwunden; er trug einen jungen Fichtenbaum als langen Wanderstab in der Hand. »Guten Abend,« sprach er mit hohler Stimme herüber zu Jaromir, »guten Abend, Kamerad! Hier geht's lustig zu!« – »Was willst du?« rief Jaromir entsetzt, »hebe dich hinweg, du Ungetüm!«

Der Kürassier starrte ihn aus hohlen Augen an, verzerrte den Mund zu einem fürchterlichen Grinsen und fletschte wie ein ergrimmtes Tier die Zähne. »Ha, ha, ha!« lachte er gellend auf. »Schlaft ihr so fest, ihr Faulenzer?« Dabei stampfte er mit dem Fuß auf den Leichnam eines Erstarrten, auf dem er stand. »Wacht auf! Kommt mit mir!«

Einen Augenblick stand er wie lauschend; dann taumelte er mit mühsamen Schritten näher und wankte auf das Feuer zu. »Zurück!« rief Jaromir. »Zurück, oder ich schieße dich nieder.« Er zog die Pistole, hielt sie aber in zitternder Hand und vermochte nicht es zu erheben. Der Wahnwitzige starrte ihn mit stumpfer Gleichgültigkeit an; bald zuckte ein wildes Lachen, bald der Ausdruck des tiefsten Elends über seine eingefallenen Züge. Jaromir – das Entsetzen lähmte ihm jede Muskel – hing sprachlos, bleich, mit unverwandten Blicken an der Gestalt. Sie stand groß aufgerichtet, streckte die hagern Arme unter dem Mantel hervor und machte seltsame Bewegungen. »Was willst du, gräßlicher Unhold?« fragte er endlich mit halbversagender Stimme, schon selbst betäubt und irr.

»Hu, mich friert!« heulte der Rasende und schüttelte sich. Dann griff er wie ein spielendes Kind nach der Flamme und wankte ihr näher und näher, bis er dicht am Kreise der Schlafenden stand, über die er beide Arme weit hinausstreckte. Erst jetzt schien er die Wärme der Glut zu empfinden. Ein leises Wimmern entstieg seiner Brust, dann rief er plötzlich, halb lachend, halb jammernd: »Zu Bett! Ins warme Bett!« warf seinen Fichtenstab weit weg, taumelte vorwärts über die Gelagerten hin und stürzte sich in rasender Verblendung mitten in die Glut.

»Hilfe! Hilfe!« schrie Jaromir, dem das Entsetzen das Haar emporsträubte, laut auf und packte Rasinski, mit krampfhafter Gewalt aufrüttelnd, an. Dieser fuhr empor: »Was gibt's?«–»Da! da!« stammelte Jaromir mühsam, und deutete auf die Flammen, in denen sich der Unglückselige, in gräßlichen Verzückungen laut aufheulend, wälzte.

Rasinski ahnte mehr, als er begriff, was vorging; rasch entschlossen sprang er auf, um den Unglücklichen zu retten. Doch es war zu spät. Schon hatte die Glut ihn erstickt; er lag regungslos, die Flamme leckte gierig um seine Glieder, und ein dichter, verpesteter Qualm dampfte in schweren Gewölken empor. Schaudernd trat Rasinski zurück und wandte sein Antlitz ab, um seine Erschütterung zu verbergen; da sah er, daß rings im Kreise alles im totenähnlichen Schlafe lag. Keiner war erwacht von dem schaudervollen Ereignisse, das in der Mitte so vieler Lebenden vorging.

Doch regte sich eine Gestalt, es war Bianka. Das gräßliche Geheul des Verbrennenden hatte im Schlummer ihr Ohr getroffen und ihre Seele mit einem Ungewissen Grausen erfüllt. In der Ahnung, daß etwas Entsetzliches vorgehe, entrang sie sich mühsam den schweren Fesseln des Schlafs und richtete sich angstvoll umherblickend auf. Da fiel ihr Auge auf Jaromir, der bleich, zitternd, betäubt, noch immer in die Flamme starrte. Mitleidig wandte das schöne Herz sich zu dem Unglücklichen, denn sie ahnte nicht den Zusammenhang, sondern glaubte, der Wahn, dessen unheimliche Vorzeichen ihn seit diesen letzten Tagen schon mehrfach angetreten hatten, habe sich nun ganz seiner bemächtigt. »Lieber Jaromir!« redete sie ihn mit innigstem Tone der Liebe besänftigend an und legte die Hand auf seine Schulter.

Er sah sich befremdet um und schien wie aus einem Traume zu erwachen. »Ach!« seufzte er leise aus tiefster Brust und ein seltsam wehmütiges Lächeln schwebte über seine Lippen. »Es ist nichts, Bianka«, sprach Rasinski rasch hinzutretend; er wollte es vermeiden, daß sie erfahre, was geschehen war. »Schlummere nur weiter, wir wachen schon für dich, Liebe!« – »Ach, Lodoiska! hast du mir endlich vergeben –« rief Jaromir plötzlich, und seine Stimme brach in ein lautes Weinen aus und er drückte das Haupt auf Biankas Hand und überströmte sie mit Tränen. »Heiliger Gott, was ist das!« rief diese bebend, wagte aber nicht, die Hand zurückzuziehen.

»Besinne dich, Jaromir!« redete Rasinski ihn ernst an und wollte ihn aufrichten. »Besinne dich, raffe deine Kraft zusammen und erkenne, wo du bist.«

»Ach, Rasinski, sie vergibt mir,« rief der Jüngling aus und sank dem väterlichen Freunde an das Herz; »sie ist eine Heilige, sie zürnt nicht mehr! Um meines sterbenden Boleslaw willen hat sie mir vergeben? Nicht wahr? O du nimmst es nicht zurück. Ich bin deiner nicht mehr wert – aber ich kann es ja nicht ertragen, ohne dich zu leben. Komm nun wieder an meine Brust!« Er faltete die Hände und sah Bianka mit flehenden Blicken an; große Tränen rollten ihm die bleichen Wangen herab, aber doch überwehte ein leichter, fliegender Rosenschimmer der Freude sein Antlitz.

»Ich bin ja nicht Lodoiska«, erwiderte Bianka mit vergeblich bekämpfter Rührung und suchte die Hände des Unglücklichen sanft zu lösen. – »Du bist es nicht?«'rief er plötzlich mit verstörtem Ausdrucke. »Du willst es nicht sein – du hassest mich, du verachtest mich! Ach, nun ist alles vorbei!« Verzweifelnd warf er sich wieder an Rasinskis Brust und wollte die Arme um seinen Nacken schlingen; doch die Kraft fehlte ihm, er sank bewußtlos zurück.

»Auch das will noch getragen sein«, rief Rasinski aus und beugte sich über den bleichen Jüngling. Bianka wollte in ihrer Angst Bernhard und Ludwig wecken, doch Rasinski hinderte es. »Was können sie uns helfen,« sprach er düster aber fest, »warum sollen noch andere als wir diese Qual ertragen? Es ist vielleicht bald vorüber!« – »O, entsetzlicher Trost«, rief Bianka und rang die Hände. »Nein, nein, das verhängt der Allgütige nicht über uns. Das Maß ist überfüllt, es kann nicht sein, es kann nicht!« – »Bete du zu ihm, reines Herz,« sprach Rasinski düster, »ich kann nur handeln, und dein Flehen ist mehr als mein Tun!«

Bianka gehorchte Rasinskis Worten mit demütiger Ergebung vor dem Allmächtigen. Sie kniete nieder und flehte aus inbrünstigem Herzen um Rettung für den Unglücklichen. Doch ihre Brust wollte sich nicht erleichtern, die Angst blieb lastend auf ihrer Seele. Rasinski hatte dem Ohnmächtigen die Schläfe mit Schnee gerieben. Er schlug endlich das Auge auf, blickte aber unstet und fremd umher. »Was nehmt ihr mich aus dem Grabe?« fragte er dumpf; »es war so still und kühl da unten. Ach, ich sehe, die Sonne geht prächtig auf und funkelt in die Gruft. Sie ist schön!« Er starrte unbeweglich in die Flamme. Plötzlich riß er sich mit überwältigender Kraft aus Rasinskis Arm, sprang auf und rief: »Das ist der brennende Höllenpfuhl! Da stürzen mich die Finstern hinein! Schnell, schnell!« Und mit furchtbarer Miene wollte er vorwärts in die Flamme. Rasinski umschlang ihn mit der Gewalt der Angst, Bianka warf sich ihm zu Füßen und umklammerte seine Knie. »Hilfe, Hilfe, Bruder, Ludwig!« rief sie mit äußerster Anstrengung, da sie beide den Rasenden nicht mehr zu bändigen vermochten. Von dieser Stimme aus dem tiefen Schlaf geweckt, sprang Ludwig empor.

»Himmel, was geschieht?« rief er aus, als er Jaromir im Kampfe mit Rasinski und Bianka sah; zugleich erwachte Bernhard und sprang ebenfalls auf. Es war die höchste Zeit, denn Rasinski vermochte mit seiner vollen Manneskraft den Unglückseligen, der sich mit Gewalt in die Flamme stürzen wollte, nicht mehr zu halten. »Helft, Freunde!« rief er, »helft mir ihn bändigen, sonst ist er verloren.« Ohne zu wissen, was vorging, eilten Bernhard und Ludwig zu Rasinskis Hilfe herbei. Als sie Jaromirs entstellte Züge sahen, ahnten sie freilich, was geschehen sein mochte. »O, ich habe es längst gefürchtet,« seufzte Bernhard aus tiefster Brust, »ihm lag zuviel auf der Seele, er konnte es nicht überdauern.«

Nach der übermäßigen Anspannung der Kräfte folgte eine ebenso rasche Erschlaffung. Die Arme sanken dem Unglücklichen matt herab, die Knie brachen unter ihm zusammen. Da schien es, als ob folternde Schmerzen in ihm wüteten, denn er brach in ein lautes, herzzerreißendes Jammern aus. Diese Töne sowie die Unruhe des ganzen Auftritts hatten endlich alle Schläfer ringsum geweckt. Sie richteten sich auf, blickten anfangs verstört, dann unwillig über die Störung umher; es entstand ein dumpfes Murmeln, das von Minute zu Minute wuchs. Sie fingen an auf den Unglücklichen zu deuten, und eine dunkle Vorstellung, als bringe er ihnen Gefahr oder Verderben, bemächtigte sich ihrer Seele. »Wer ist der Rasende, was will er?« rief endlich ein bärtiger Grenadier voller Ingrimm. »Was raubt er uns die kostbaren Minuten des Schlafs! Werft ihn hinaus aus dem Kreise, er mag erfrieren, wenn er uns stört!« »Werft ihn hinaus, hinaus!« ertönte beistimmend der tobende Ruf der Erwachten, und mehrere sprangen auf, um die grausame Tat sogleich zu vollführen.

Bianka tat einen lauten Schrei des Entsetzens, Ludwig fing die Sinkende in seinem rechten Arme auf und wehrte einen wild Andringenden mit der Linken ab. Rasinski, der die Größe der Gefahr sogleich übersah, ließ Jaromir in Bernhards Armen und sprang mit funkelndem Auge mitten in den Kreis. Schnell entschlossen riß er einen halbbrennenden Ast aus dem Feuer, schwang ihn hoch über dem Haupte und rief mit seiner Löwenstimme, die selbst in den Donnern der Schlacht mächtig herrschte: »Zurück, Elende! Wer einen Schritt vorwärts wagt, dem zerschmettert dieser glühende Stamm das Haupt!«

Die Erbitterten hemmten betroffen und staunend ihre Schritte; die geistige Übermacht Rasinskis hielt sie gefesselt. Nur jener bärtige Krieger riß den Säbel heraus und schrie wütend: »Wie, ihr Memmen, fürchtet ihr euch alle vor einem einzigen? Vorwärts! Nieder mit den polnischen Hunden!« – »Raubtier du!« donnerte Rasinski ihm entgegen und sprang wie ein gereizter Löwe auf den Wütenden zu. »Zu Boden mit dir, entmenschtes Ungeheuer!« Zugleich packte er ihn mit kräftiger Gewandtheit im Gelenk der gehobenen Faust, so daß er seine Waffe nicht zu brauchen vermochte, und schlug ihm mit dem brennenden Ast über den Kopf, daß er zersplitterte und Kohlen und Funken rings umherstoben. Doch der Schlag war durch die dichte Bärmütze entkräftet und hatte nur den Zorn des Erbitterten bis zur schäumenden Wut gesteigert. Gebaut wie ein Athlet, an Größe seinen Gegner um die Hälfte des Hauptes überragend, ließ er den Säbel fallen und warf sich ringend über Rasinski her, um ihn in die Flamme zu werfen. Dieser kämpfte nur einen Augenblick mit ihm; da glitt er aus, schwankte, sank in die Knie. Er war verloren! Ein ruchloses Ungeheuer drohte das edelste Heldenleben mit roher Übermacht zu zerstören! Da sprang Ludwig mit Blitzesschnelle ihm zu Hilfe, umschlang den Wütenden von hinten her und riß ihn zurück, so daß er mit ihm zu Boden stürzte. Rasinski raffte den entfallenen Säbel auf, riß dem Niedergestürzten mit der Linken die Bärmütze vom Haupt und führte mit der Rechten einen Hieb auf seine Stirn, die ihm den Schädel mittenentzwei spaltete. Wie ein König, gebietend, stolz, richtete er sich jetzt empor und trat mit Majestät unter die Staunenden und Erschreckten. »Werft den Leichnam in den Schnee,« gebot er, »lagert euch wieder und schlaft. Es kümmere euch nicht mehr, als ob ich einen Wolf erschlagen hätte.«

Als bedürfe er ihrer nicht, warf er die Waffe verächtlich von sich, nur durch seine erhabenere Seele die Menge beherrschend. Es wagte niemand, sich zu regen; sondern gehorsam packten zwei den blutenden Körper des Gefallenen, trugen ihn einige Schritte weit und warfen ihn auf den Boden. Rasinski ging, denn der Zorn wogte bei ihm noch wie die See nach dem Sturme, einige Augen- blicke auf und nieder, ohne selbst der Freunde zu gewahren. Dann wurde er plötzlich ruhig und milder, reichte dem mit Blut bespritzten Ludwig, der Bianka mit sanften Liebesarmen umfangen hielt, die Hand und sprach: »Du bist mein Retter! Siehst du, das hat der Krieg selbst in dieser grausenden Gestalt noch Schönes vor dem stachen Leben der Alltage voraus, daß er uns jede Stunde Gelegenheit zu größern Diensten der Freundschaft und der Liebe bereitet als ein Menschenalter des schläfrigen Friedens. Du Wackerer! Aber lagert euch wieder, Freunde; es ist nichts als ein Toter mehr unter den Legionen, die um uns erstarrt sind. Ein Krämerhandel gegen den Welthandel des Geschicks!«

Sein Auge wandte sich wieder auf Jaromir; er schien in Ermattung oder Schlummer gesunken und fest mit dem blonden Lockenhaupt an Bernhards Brust gelehnt. In den stillen, bleichen Zügen lag ein namenloser Schmerz, den kein Lächeln mit einem milden Schleier bedeckte. »Laß uns ihn in unsere Mitte nehmen, Bernhard«, sprach Rasinski. »Was ist hier zu tun, als ihn der Gnade des Himmels anheimzustellen? Vielleicht beruhigt der Schlaf sein krankes Haupt.«

Er hatte sich wieder gelagert, nahm Jaromir liebend in seine Arme und drückte ihn innig an die Brust. »Hier ruhe aus; die Schauer des Winters sollen dich nicht finden in meinen Armen. Und kannst du, so erwache zu einem mildern Tage!« Damit lehnte er sich zurück, verhüllte das Haupt und ruhte Herz an Herz mit dem kranken Jünglinge. Bald, so mächtig gebot die allbezwingende Natur, sank er wieder in festen Schlaf. Die Krieger ringsum waren schon längst wieder von seinen betäubenden Banden umschlungen; so entfloh das gräßliche Ereignis schneller als ein flüchtig aufdämmerndes Traumbild.

Bernhard und Ludwig wachten gemeinsam, weil ein einzelner doch vielleicht dem Schlafe zu leicht unterlegen wäre, und teilten die Sorge für die Flamme, mit der das Leben aller zur ewigen Nacht erloschen sein würde. Ein scharfer Nachtwind erhob sich; er streifte ihre Wangen mit eisiger Berührung und bewegte die Wipfel der hohen Tannen, daß der Schnee in leichten Flocken herabgeschüttelt wurde. »Wie uns der Winter im Rücken lauert,« murmelte Bernhard; »es ist mir ordentlich, als fühlte ich die ehernen, starren Tatzen im Genick, mit denen er seine Opfer würgt. Fort, du Raubtier! Hier hat dein Reich ein Ende! Hier brennt die Flamme des Heils, die wir heiliger bewahren wollen als die der Vesta!« – »Wie schmal,« bemerkte Ludwig, »ist der Ring des Lebens, der sich um diese Sonne zieht. Wir liegen zwischen dem Flammentode und dem des Erstarrens auf der fast unteilbaren Grenzlinie.« – »Wenn der Wind uns so scharf anhaucht wie jetzt,« erwiderte Bernhard, indem er die Flamme schürte, »und das Feuer uns so glühende Pfeile ins Auge schießt, so ist es freilich fast, als fühle man beide Martern zugleich. Doch was willst du? Ist es nicht das Bild des Weltalls im kleinen? Unsere Erde, eine Spanne näher der Sonnenflamme, verglüht und zerstäubt in Asche, eine Spanne ferner und alles Leben erstarrt in dem öden, kalten, unermeßlichen Weltraum. Der Mensch ist überall so hilflos, so nichtig als hier. Er verschließt nur sein Auge und blickt nicht hinaus über sein schmales Grenzgebiet im Leben, Wissen und Genießen!«

»Nein, Bernhard, du sprichst nicht wahr, nicht einmal wahrhaftig für dich selbst«, entgegnete Ludwig ernst. »Du denkst so klein nicht vom Leben und mißkennst die Bürgschaft des Ewigen in seiner kurzen Erscheinung nicht. Wer könnte denn dieses Leben nur einen Augenblick ertragen, ohne die Ahnung des Jenseits, die ewig als das Spiegelbild des Himmels unter den bewegten Wellen des irdischen Verkehrens schimmert! Und ist das Schönste, womit sich unser Dasein schmückt, nicht auch ein Abglanz von dort – die Liebe –«

»Aber hab' ich's denn geleugnet«, unterbrach ihn Bernhard, und seine ganze weiche Seele glänzte in seinem Auge. »Sieh' nur diese dort,« er deutete auf Bianka, »sieh' sie schlummern und frage dich dann selbst! Sie macht mich sogar fromm, wie die Leute es gewöhnlich meinen. Denn wenn sie betet und kniet, ist es so schön und wahr, daß ich denke: ›Was kannst denn du Besseres?‹ Nur von ihr lerne ich, daß Demut stärker ist als Stolz; freilich vergesse ich's zu schnell wieder! Gestern, als das Elend uns zu zermalmen drohte, sah ich sie hinter jenem Fichtenstamm knien und beten; und ich tat es auch, aber nur für sie. O, Ludwig, werden wir ihr holdes Leben retten aus diesem Abgrund des Entsetzens, in den wir täglich tiefer und tiefer sinken?« – »Ich hoffe es noch«, sprach der Freund innig bewegt. – »O, jetzt sehe ich's,« erwiderte Bernhard, »wie du besser bist als ich. Ich handle rascher als du, scheine ungebeugter, aber du bist es. Ich fühle, daß mein Hoffen, mein Vertrauen, meine Kraft eine Grenze hat, und ich stehe ihr nahe. Eben zuvor wähnte ich sie erschöpft; bin ich aber erst einmal mutlos, dann werde ich es ganz sein. Du in deiner edlern Ruhe, deiner festen, unerschütterten Männertugend wirst es niemals werden. Ich eile, springe, fliege; so bin ich dir freilich eine Zeitlang voran gewesen. Du gehst festen, ruhigen Schrittes; so wirst du noch aufrecht stehen, wenn ich schon mit gebrochener Kraft am Boden liege! Dann Ludwig – dann beglücke meine Schwester – und grüße die deine! Nein, nein, sprich nichts, ich bitte dich!« rief er heftig, als Ludwig ihm antworten wollte. Er wandte sich ab und hüllte sich dichter ein. Ludwig, der ihn kannte, schwieg; aber seine Seele war voller Liebe.

So saßen sie stumm nebeneinander. Da ließ sich ein leiser singender Ton neben ihnen hören. Es war Jaromir, der schlummerlos mit offenen Augen lag und, unheimlich lächelnd, leise sang. »Er träumt von ihr,« sprach Ludwig, »das ist die Melodie des Liedes, das uns Lodoiska an jenem Abende in Warschau sang. Ich habe die Weise oft von ihm gehört. Also dort weilt seine Seele?« Bernhard betrachtete den Armen mit düstern Blicken. »Dort weilt sie,« wiederholte er langsam, »bei seiner Liebe! Es ist verhängt über uns,« sprach er endlich mit tiefer Stimme, »wir sollen untergehen. Der Abgrund klüftet sich zu tief. Ich kann nicht mehr hinabblicken, sonst stürze auch ich schwindelnd hinunter!« Der Wahnsinnige sang leise fort und blickte dabei mit unendlichem Schmerz zu den Freunden auf. Nach einigen Minuten erstarb der Ton auf seiner Lippe, und er verfiel wieder in stumpfe Bewußtlosigkeit.

»Wäre unsere Zeit vorüber, daß ich schlafen könnte!« rief Bernhard. »Schlafen! Ich bin müde. Das plumpe Tier wälzt sich schwer über meine Seele hin und erstickt ihre letzten glimmenden Funken! Es ist vorbei mit Menschlichkeit, Freundschaft, Liebe und Haß; alles stumpf und öde und tot. Denn wer könnte sonst schlafen bei solchem Elende! Was ist die Uhr?« – »Gleich Mitter- nacht!« – »So sind wir bald erlöst!« Die Minuten schlichen mit schwerem schleppenden Schritt vorüber. Endlich war die Stunde abgelaufen. Sie weckten ihre Nachbarn und legten sich zum Schlaf nieder, um die Bürde aller Qualen, alles Schauders, aller Schmerzen in den öden Raum dumpfer Vergessenheit hinabzusenken.


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