Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Sechstes Kapitel.

Doch die ingrimmige Natur überbot mit ihren Schrecken selbst den tiefsten edelsten Schmerz. Mit der gesunkenen Sonne stieg die Kälte höher und höher. Die Arme erstarrten den Tragenden fast, so kurz der Weg war. Nur die heiligste, unverbrüchlichste Freundschaft vermochte die Pflicht dieses letzten Liebesdienstes aufzulegen; für jeden andern hätte er unvollführt bleiben müssen. Doch in ihrer Liebe fanden die Getreuen die Kraft. Nach unsäglicher Anstrengung erreichten sie ein kleines Haus, welches zur Seite der Hauptstraße, auf der die Massen sich in wildem Gedränge dem Eingange des Fleckens zuwälzten, gelegen war. Unvermutet fanden sie hier noch ein bewohntes Obdach; ein Greis öffnete den Kommenden die Tür und näherte sich mit bittender Gebärde. Rasinski rief ihm zu: »Ist Raum in euerer Hütte?« – »O freilich!« erwiderte der Alte, erfreut, seine Landessprache zu hören; »ich will euch gern beherbergen. Nur stehe ich euch an, treibt mich nicht selbst hinaus in diese furchtbare Mitternacht. Gönnt auch meinem alten Haupte ein Plätzchen!« – »Hältst du uns für entmenschte Barbaren?« fragte Rasinski unwillig schaudernd; »du hast nichts zu fürchten!«

»So segne euch der Herr!« rief der Greis; »aber gestern haben sie meinen Sohn und meine kleinen Enkelinnen hinausgetrieben, und sie sind erstarrt vor meiner verschlossenen Tür! Ach, ich habe ihre Leichen in meiner Hütte!« – »Gott der Barmherzigkeit!« rief Bianka, von einem entsetzenvollen Grauen ergriffen, aus, »war es möglich!«

»Auch wir bringen dir einen Toten,« sprach Rasinski; »seine heiligen Überreste sind uns so teuer wie unser Leben. Willst du bei der Mutter Maria schwören, ihn fromm, christlich zu bestatten, wenn uns die Gewalt des drängenden Kriegs hindert, so verheiße ich dir und deinem Hause Sicherheit, solange wir darin weilen.« – »Bei der gebenedeiten Mutter schwöre ich's, er soll an der Seite der eigenen Kinder ruhen«, rief der Greis und erhob die Hand zum Eide.

So traten sie in die Hütte. »Bringt den Toten hier herein, liebe Herren,« sprach der Alte und öffnete vorleuchtend eine Seitentür, die zu einem Kämmerchen führte. »O, mein Gott!« rief Bianka aus, als sie einen Blick hineinwarf. Auf einem mit weißen Linnentüchern bedeckten Strohlager lag in einem Totenhemd ein Mann, noch in frischen Jahren, doch von kränklichem Ansehen. Neben ihm zwei kleine Mädchen, höchstens sieben bis acht Jahre alt.

Ludwig und Rasinski trugen Boleslaws Leiche hinein und legten sie zur Seite der entschlummerten holden Kleinen nieder. »Seht ihr, liebe Herren, das sind sie«, sprach der Greis, und Tränen erstickten seine Stimme. »Gestern waren die Kinder noch frisch wie die Röschen – der Vater kränkelte zwar seit dem Frühjahr – wo sein Weib, – nein, laßt mich das nicht erzählen! Das nicht! – Gestern stürmten so viele Krieger in mein Haus, daß sie nicht Raum fanden – sie trieben uns hinaus – freilich waren sie elend genug, aber ein Plätzchen hätten sie uns doch gönnen sollen. Wir brachten die Nacht im Freien zu; mein Sohn, den die Krankheit zerstört hat, überdauerte die grimmige Kälte nicht; die Kleinen konnte ich vorm Schlaf nicht schützen – sie erstarrten in meinen Armen. Ich allein blieb übrig. Ich hätte mich gern zu den Toten auf den Schnee gelegt, doch ich habe noch eine Tochter – um ihretwillen lebe ich. Sie ist aber jetzt in Wilna.«

Während der Alte sein Herz klagend eröffnete, hatten die Männer Boleslaws Kleidung und Haar geordnet und ihn mit dem weiten Mantel bedeckt, daß die Spuren der Zerschmetterung und das schon erstarrte Blut verhüllt wurden. Jetzt glich er einem Schlummernden, so ruhig, ernst und edel waren seine Züge. »Laßt ihn hier ruhen«, sprach Rasinski wehmütig. »Sein Bild steht in unsern Herzen, lebend, würdig, freundlich. So laßt es uns bewahren; es ist nicht gut, bei der erstarrten Hülle zu weilen.« Seinem Wunsche folgend traten alle in das Gemach zurück, dessen wohltuende Wärme sie erquickend empfing.

Es war seit langer Zeit das erste sichere Obdach, das sie aufnahm. Ein gastliches Feuer loderte auf dem Herde und erwärmte die innern Räume. Der Schiffer, der nach dem Sturm auf wüstem Meer den Hafen erreicht, wird nicht so von dem Gefühl des Heils und des Dankes gegen den allmächtigen Retter durchdrungen, als dieses Bild der Gastlichkeit und des Schutzes gegen den Ingrimm der Natur die Seele der Müden, von Schmerz und Qual Gebeugten mit neuen Lebenshoffnungen durchströmte. »Ein lenkender Gott der Gnade ist mit uns«, sprach Ludwig, zu Bianka gewandt, die er wiederum als neu gewonnen aus dem Drang der Gefahren und Beschwerden ans Herz schloß. »Wie hart wir geprüft werden, der Schutz des Allmächtigen verläßt uns nicht.«

»Sein holder Engel wandelt ja mitten unter uns,« sprach Rasinski und berührte leise Biankas Locken, die die Wange sanft gegen Ludwigs Brust geneigt hatte; »dieses reine Haupt wendet auch von uns das Verderben ab. Sei getröstet, du schöne Seele – wer eine Vorsehung glaubt, darf in deiner Nähe nichts fürchten.« Bianka errötete und senkte in Demut das Auge. »Solche Worte spricht dein mildes Erbarmen mit der Hilflosen,« erwiderte sie; »ich aber weiß wohl, daß der Arm des Herrn hier Bessere beschützt und vernichtet als mich. Du edler Freund! Ich fühle in Unterwürfigkeit meinen niedern Wert; laß mir den Glauben, daß dein höherer unser aller Schutz ist.«

Rasinski war noch nie so weich gewesen. Der Tod des liebsten Freundes hatte seine männliche Kraft zu so sanft anklingenden Saiten herabgespannt. Schwermütig setzte er sich nieder und stützte sein Haupt nachdenkend in die Hand. Es herrschte eine tiefe Stille ringsumher; nur die flackernde Flamme beleuchtete das ärmliche Gemach. Jaromir saß vor der Glut, blickte mit starren Augen hinein und schürte gedankenlos darin. Mit heimlichem Grauen bemerkte Bernhard die Stumpfheit des Schmerzes, die ihn ergriffen hatte; es erneuten sich die alten Sorgen und Befürchtungen in ihm, die seit den letzten Tagen wieder verschwunden waren, weil sich die Zeichen von der innern Zerrüttung des Unglücklichen, vielleicht durch die Macht der zu gewaltigen Ereignisse zurückgedrängt, verloren hatten. Doch als er ihn jetzt der Flamme gegenübersitzen und mit gleichgültigen Augen hineinstarren sah, tauchte das verscheuchte Gespenst seiner bösen Ahnungen aufs neue aus der Tiefe seines Busens empor.

»Was ist Glück?« unterbrach Rasinski das tiefe Schweigen. »Fühlen wir uns nicht glücklich, beisammen zu sein in dieser sichern Hütte, die uns ein Obdach gewährt? Ja ich dürfte sagen, wir wären glücklich, wenn nicht der liebste Freund in unserm Kreise fehlte! Wäre er bei uns – ja, wir wären glücklich in dieser Stunde!« – »Die Wünsche wachsen mit der Erfüllung,« erwiderte Ludwig; »wem das Schicksal zeigt, was es bedrohen, was es rauben kann, der wird genügsamer und preist sich glücklich, wenn er nur den kleinsten Anteil seiner Hoffnungen aus dem unermeßlichen Reich des Verlorenen rettet. Und des Menschen Seele ist wunderbar gemischt! Sie kann den tiefsten Schmerz neben dem höchsten Glück empfinden – ja so fühlt oft eins nur durch das andere.« – Ein Blick auf Bianka, ein Druck ihrer in der seinen ruhenden Hand sagte der Geliebten, wie er diese Worte verstehe und ihre Wahrheit an sich selbst geprüft habe; denn seine Liebe drang unter den Gefahren, denen er sie entreißen, unter den Schmerzen, in denen sie ihn tröstend erheben mußte, mit immer tiefer greifenden Wurzeln in sein Herz.

»Glück gibt eine zu zarte Haut,« warf Bernhard hin; »ein geknicktes Rosenblatt drückt uns wie den sybaritischen Alcibiades. Das Unglück zieht uns einen schuppigen Harnisch über die Brust, daß die schönsten Pfeile zuletzt matt und stumpf abprallen. Es schlägt dann freilich nicht mehr viel Herz hinter einem solchen Panzer, sondern die Versteinerung dringt bis mitten hinein, und die Wunden bluten nur deshalb nicht, weil sie schon verblutet sind.« Er hielt während dieser Worte sein beobachtendes Auge fest auf Jaromir gespannt, der noch immer in der Glut des Ofens schürte.

»Eine schöne, helle Flamme, nicht wahr, Rasinski?« sprach er, da alle umher schwiegen, mit tonloser Stimme und sah sich mit einem seltsamen Lächeln um. – »Freilich, freilich,« erwiderte der Gefragte halb zerstreut; »der Mensch wird gedemütigt und lernt, daß er aus Erde, aus Staub, aus Asche besteht.« – »Wohl, wohl,« fiel Bernhard ein; »ich weiß, was du eigentlich sagen willst. Man kann ihm das Herz mit einem glühenden Schwert durchbohren und es zur Kohle ausbrennen; falls der Magen unverletzt geblieben ist, wird ein tüchtiger Hunger doch nicht ausbleiben. Mich hungert, beim Himmel. Und ich wünschte,« setzte er leise hinzu, »Jaromir hätte Trank und Speise und ginge schlafen, daß seine stumpf gereizten Nerven ausruhten und wieder neues Gefühl bekämen.«

Erst jetzt warf Rasinski einen forschenden Blick auf den Unglücklichen und entfärbte sich, als er die gleichgültigen Züge desselben scharf ins Auge gefaßt hatte. »Du hast recht,« sprach er hastig leise zu Bernhard; »wir müssen Anstalten treffen.« Entschlossen, tatkräftig wie er war, riß er sich sogleich aus seiner brütenden Schwermut auf und suchte den Wirt auf, der hinausgegangen war. Er fand den Alten willig, herzugeben, was man bedurfte, zumal Rasinski ihm die Versicherung gab, daß er die letzten Feinde beherberge und vom nächsten Morgen an nur Russen nachrücken würden, die mit allem so reichlich versehen wären, daß sie die ausgesogenen, geplünderten Einwohner noch unterstützen könnten. »Freilich haben wir wenig gerettet,« begann der Alte, »doch ist noch Brot da und etwas Honig, auch ein Fäßchen Branntwein. Ich kann euch eine warme Suppe bereiten.« – »Bringt uns, was ihr vermögt – wir wollen euch auch zur Hand gehen.« – »Heilige Mutter Marie!« rief der Alte plötzlich erschreckt und kreuzte die Arme; »da pocht es an der Tür. Wenn ihrer mehrere hier eindringen, sind wir verloren!« – »Laßt mich öffnen,« sprach Rasinski; »wir können, solange Raum ist, nicht so unmenschlich sein, unsere Kameraden der erstarrenden Nacht preiszugeben.« Er schritt gegen die wohlverwahrte Tür und fragte auf französisch: »Wer ist da draußen? Was wollt ihr?«

Indem eilte Bernhard schon heraus und rief: »Es sind von unsern Leuten dabei, ich habe sie erkannt.« Sie öffneten schnell. Fünf halberstarrte Krieger von Rasinskis Regiment umlagerten die Tür. Sie hatten ihren geliebten Führer in der Verwirrung des Gefechts verloren und nun ein Obdach im Flecken gesucht. Doch waren alle Häuser überfüllt, weil der Marschall Victor den Ort schon besetzt hatte, was freilich aus andern Ursachen ein Glück genannt werden mußte, indem seine Truppen die von der Westseite eindringenden Russen zurückgeschlagen hatten. Von Haus zu Haus suchend, überall zurückgewiesen, gab ein Offizier den vor Frost schon fast Umkommenden endlich eine Spur von Rasinski, den er mit Jaromir und den übrigen, als sie den Leichnam Boleslaws trugen, hatte über das Feld gehen sehen. Seiner Weisung folgend, erreichten sie glücklich das kleine Haus, das, wie es oft zu geschehen pflegt, indem alles nur dem Hauptstrom der Massen folgte, ganz Unbemerkt geblieben war.

Die Freude der Rettung strahlte aus den Augen der Unglücklichen, als sie in die erwärmten Räume des Gemaches eintraten, und vollends, da sie ihren Führer, ihre geliebten Offiziere, denn auch Bernhard und Ludwig galten ihnen dafür, erblickten. Diese waren ebenso herzlich froh, einige der verloren Geglaubten aufs neue begrüßen und von dem Verderben retten zu können. Mit stummem Schmerz überblickte Rasinski diese wenigen Getreuen, die ihn umgaben; sie waren alles, was er von seinem stattlichen Regiment heimführte! Und dennoch mußte er dem Schicksal danken, daß es ihm die teuersten Freunde erhalten hatte. Nur einer war heute als das erste Opfer gefallen! Er flehte innerlich zu dem Allmächtigen, daß es das letzte sein möge!


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