Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Drittes Kapitel.

Lodoiska trat wieder ein. Der Wechsel der Angst und der Freude hatte die zarte Gestalt so angegriffen, daß das leichte Rot auf ihren Wangen eher einer krankhaften Spur fieberhafter Bewegungen als einem Zeichen der Gesundheit und innerer Befriedigung glich. Die Gräfin wußte, daß körperliche Bewegung und frische Luft ihr dann am zuträglichsten waren; ihr selbst war ein Spaziergang ins Freie nötig, um die Wallung ihrer Brust zu beruhigen. Sie schlug vor, in den Garten zu gehen; die Saaltür öffnend trat sie gleich selbst hinaus, die andern folgten.

Die Sonne hatte das Grau des Himmels ein wenig geteilt und warf einen Halbschimmer durch die dünnen, weißen Wolkenstreifen, die vor der glänzenden Scheibe dahinzogen. Marie blieb einen Augenblick stehen und sah gegen den Himmel hinauf; sie verlor sich in Betrachtungen. Arnheim, der ihr stets nahe zu bleiben suchte, heftete seine Blicke auf ihr schönes Angesicht. Es war bei weitem mehr sanfte Weiblichkeit als Hoheit in ihren Zügen, doch etwas so Reines, Edles, daß sich jede Liebe zu dieser freundlichen Gestalt mit Ehrfurcht, wenigstens mit der zartesten Scheu paarte. Vielleicht war die Gräfin, die einen scharfen Blick für alle Verhältnisse hatte, nicht ohne Absicht mit Lodoiska weitergegangen, so daß Marie so gut als allein mit Arnheim blieb. Nur sie hatte es nicht bemerkt.

»Und was sucht und bittet das Auge meiner schönen Landsmännin dort oben?« fragte er endlich, ihr stummes Sinnen unterbrechend. – »Ach, ich dachte an unser Vaterland,« sprach sie mit herzlichem Ton und durchaus unbefangen. »Sie haben so schöne Worte des Trostes für mich gesprochen, so teuere Hoffnungen in mir angeregt! Mußte mir nicht dieser Himmel als ein Gleichnis unsers Zustandes erscheinen? Das Licht kämpft mit den trüben Nebeln. Vor einer Stunde lag alles noch in düsteres Grau gehüllt; jetzt bergen nur noch weiße, halbgelichtete Schleier die Sonne. So haben Ihre Worte auch meine Hoffnungen aufgehellt; sie ruhen nicht mehr hinter ganz düsterm Gewölk!«'

»O, es wird sich bald ganz zerteilen«, rief Arnheim lebhaft. »Wir sind allein. Ich muß vorsichtig sein, aber einem Herzen, das selbst in weiblicher Brust so vaterländisch schlägt wie das Ihrige, darf ich wohl ein männliches Geheimnis anvertrauen, das Ihre Hoffnungen wie Morgentau erquicken wird. Der Sinn brüderlicher Eintracht, auf den ich in meinen Worten hindeutete, ist kein schöner Traum, kein frommer Wunsch mehr in unserm Vaterlande. Lebendig ist er erwacht; der eiserne Druck der Zeiten hat die Kraft des Widerstandes hervorgerufen. Wie der Stahl den Funken erst durch seinen heftigen Angriff aus dem kalten Stein lockt, so haben die Schläge des Schicksals in Deutschland edle Funken geweckt, die, zur still genährten Glut verbunden, einst in mächtiger Flamme auflodern werden. Ja, die edelsten Männer reichen einander die Hand; ein längst gestifteter Bund, der äußerlich zwar schon längst wieder gelöst wurde, aber in seinen höhern Zwecken dennoch fortbestand, vereint sie und schlingt sich in geheimer Kette durch unser ganzes Vaterland. Näher und vertrauter als jemals sind diese Edeln jetzt verbunden, und in allen lebt der feste Entschluß, das Unwürdige nicht tatlos duldend zu ertragen. Doch mit dem starken Zügel der Mäßigung halten sie den Ausbruch des tiefen Unwillens zurück, bis die Kräfte dem Willen gewachsen sind. Der günstige Augenblick soll erwartet werden; es ist kein müßiges Harren, denn dem aufmerksamen Auge zeigt sich die Gunst des Schicksals oft. Indessen werden alle Kräfte vorbereitet, genährt, sichere Freunde gewonnen, im stillen der gute Same gestreut. Die geheimen Fäden zum Gewebe großer Ereignisse sind ausgespannt; ein Wink und tausend Hände sind daran geschäftig.« Arnheims Blicke leuchteten begeistert, als er so sprach; auch in Mariens Auge glänzte ein Goldblick der Hoffnung durch den feuchten Tau, der es benetzte.

»O, so soll in dieses Herz doch noch Freude und Hoffnung zurückkehren,« sprach sie; »es sind Empfindungen, von denen es sich seit lange entwöhnt hatte. Wie sehr danke ich Ihnen für diese Nachricht. Wie richten Sie den schon gebrochenen Mut in mir auf! Und Sie gehören zu diesem Bunde?« fragte sie nach einigen Augenblicken. – »Seit zwei Wochen erst, wo würdige Männer in Preußen mich dazu bewährt fanden«, erwiderte Arnheim. – »Nehmen Sie auch mich darin auf, als ein stummes, aber nicht minder treues Mitglied«, sprach Marie und reichte ihm die Hand. »In meinem Herzen gehörte ich einem solchen Bündnis längst an!« Arnheim ergriff Mariens Hand. Er küßte sie nicht, aber drückte sie mit Wärme. Ein wunderbares Gefühl beklemmte ihm die Brust. Marie stand so holdselig vor ihm, ihr blaues Auge blickte ihn so treu und offen an – o sie war schön und gut, und besser als schön! »Wie nennen Sie den schönen Bund, dem ich im stillen angehören will?« sprach sie, als erbebend schwieg; »ich habe aber nur gefragt, wenn Sie mir antworten dürfen.«

»Er führt einen würdigen, vielleicht zu stolzen Namen. Doch ist er nur von dem Wollen, nicht von dem Vollbringen der Bundesbrüder zu verstehen, er heißt der Tugendbund

In diesem Augenblicke zogen die letzten Gewölke vor der Sonne vorüber und ihr heller Strahl fiel rein, glänzend auf die Sprechenden. Zugleich erhob sich ein hehres Rauschen in den herbstlichen Wipfeln, als ob edle Geister auf mächtigen Fittichen vorüberschwebten. Der Wolkenschleier teilte sich weit; das Licht quoll aus dem blauen Raume herab und verbreitete sich, wie eine goldene Welle, über den Rasen und die stolz sich wiegenden Kronen der Bäume. »Das ist die Nähe des Allmächtigen, es ist sein glückverheißender Wink, das Zeichen seiner segnenden Bestätigung!« rief Marie begeistert aus und richtete das verklärte Auge gegen die Wölbung des Himmels hinauf, deren tiefes, reines Blau klar über dem zerfließenden Gewölk stand. »Was mich auch Bitteres treffe, welche Prüfungen du mir sendest, an dieses Zeichen will ich mich halten. Das soll mir glänzen weithin durch dunkle Tage, die dein Wille mich führt.« So sprach sie in der Fülle ihres heiligen Vertrauens.

Arnheim stand mit tiefer Ehrfurcht vor ihr. In seiner Brust regten sich mächtige Gefühle für sie, doch er empfand es ahnend, daß ihr Herz, welches sich so frei, so ganz dem großen vaterländischen Gefühl hingab, nur von dieser höhern Flamme, nicht von der stillern der Liebe erfüllt werde. Schmerzvoll getroffen schwieg er. Das nahe Bild der Geliebten, das er schon zu umfassen wähnte, zerfloß, aber eine höhere, edlere Gestalt schwebte vor ihm und blickte ihn aus lichter Höhe an. Nicht eine Braut wagte er ans Herz zu schließen, zu einer Heiligen erhob sich sein Blick. Denn so stand sie jetzt vor ihm. Mit seiner geadelten Empfindung wuchs der sehnsuchtsvolle Schmerz in seiner Brust, aber zugleich auch die Kraft, ihm zu gebieten. »Wohl,« sprach er männlich gefaßt, »Sie haben recht. Diese große Hoffnung muß uns wie die Flamme des Leuchtturms als festes Ziel mitten in der dunkeln stürmischen Nacht des Lebens leuchten. Auch der Schiffbrüchige darf noch den letzten Blick darauf wenden, und, wenn er edel zu denken weiß, den Trost mitnehmen, daß, durch sie geleitet, andere den Hafen des Glücks, der Freiheit, des Friedens erreichen werden, vor dem er scheiterte.«

»Ich glaube, die Gräfin erwartet uns,« sprach Marie, die ihr weites Zurückbleiben erst jetzt mit einiger Verlegenheit bemerkte; »wir sind wirklich ganz zurückgeblieben.« Mit diesen Worten ging sie schneller vorwärts.

Die Gräfin entdeckte die Bewegung beider sogleich; doch mit wahrhaftem Zartgefühl verriet sie dies auch nicht durch ein Lächeln, nicht durch einen Blick, sondern schien das Zurückbleiben, als rein zufällig, nicht einmal der Bemerkung wert zu achten. »Der Himmel ist gefällig für unsern Spaziergang«, bemerkte sie, wie soeben die Sonne plötzlich durch das Gewölk brach. Es gab einige Augenblicke lang die schönste Beleuchtung des Parks. Die Wolkenschatten flohen überhin und der Strom des Lichts eilte verfolgend nach. »Dieser Wechsel in der Beleuchtung macht mir den Herbst, ich meine die Herbstlandschaften, so lieb.« – »Er gleicht allerdings einem Trauerspiele im vierten Akt«, erwiderte Arnheim, indem er seine Gemütsbewegung durch einen leichten Ton der Unterhaltung zu verbergen suchte. – »Wieso das?« fragte die Gräfin. – »Je nun, dort beginnen die glücklichen Verhältnisse gewöhnlich ins Schwanken zu kommen; der heitere Himmel, den der Dichter als Kontrast des Gewitters, das er heraufbeschwört, anfangs über uns ausspannte, verfinstert sich dann allgemach und wir erblicken den Kampf des Lichts mit der Nacht der tragischen Schickung. Die melodischen Anklänge glücklicher Tage sind noch nicht ganz verhallt, aber schon rollen die dumpfen Töne des Donners in der Ferne. Ähnlich der Herbst, der vielleicht seinen größten Reiz darin hat, daß wir alle Reize der Natur im Entfliehen erblicken. So werden uns die Unsrigen in der Abschiedsstunde erst teuer; dort erkennen wir erst ihren Wert; ja das Gleichgültige steigt hoch im Preise, wenn man sich davon trennen soll!«

»Sie haben recht. Doch möchte ich dem Herbst wohl auch einigen selbständigen Wert zugestehen. Der Beweis scheint mir darin zu liegen, daß ich mich im Sommer schon auf denselben freue; wer aber hoffte der Abschiedsstunde entgegen?«

»Ich will mein Gleichnis nicht verteidigen. Keines ist unverwundbar; an irgendeiner Stelle dringt der Pfeil hindurch. Alle verlieren, am meisten freilich die scherzhaften, wenn man sie beharrlich durchführen will. Mir deucht, es ist auch der größte Mangel an Poesie, dies zu wollen; nur schlechte Dichter tun es. Die Schönheit des Gleichnisses besteht nur in der ahnungsvollen, aber schon tief verständlichen Bedeutung der Wahrheit; man soll sie daraus erkennen, empfinden, aber nicht erweisen noch erklären wollen.«

Die Gräfin hörte den Worten Arnheims aufmerksam zu; ein Gespräch, welches ihren Scharfsinn anregte, war ihr immer das liebste. Marie hatte sich zu Lodoiska gesellt, deren Freude sie jetzt mit einem ähnlich beglückten Herzen teilen konnte.

Plötzlich tönte das feierliche Geläute der Glocken von der nahen Kathedrale in das Rauschen der Bäume, das Wehen des Windes hinein. »Zu dieser ungewöhnlichen Zeit? Was mag das bedeuten?« fragte die Gräfin. Die Glockenstimmen vervielfältigten sich; von nähern und fernern Türmen her drang der Schall durch die Vormittagsstille. »Es wird der Feier des Sieges gelten«, bemerkte der Rittmeister.

»Sie haben recht. Ja, und es ist ein Sieg, für den wir dem Himmel danken müssen! Wie das Herz mir groß wird bei diesen Klängen. Ein Sieg! ein Sieg! Aus den dunkeln Wetterwolken der Schlacht bricht vielleicht die neue Morgenröte für unser Vaterland an! Jetzt verstehe ich den Trieb der Unruhe in meiner Brust; unter das betende, dankende Volk muß ich mich mischen, die glühende Seele im eigenen Gebet zum Himmel senden!« Sogleich wandte sie sich um und ging zurück dem Palaste zu. Ihr Entschluß war ein unwiderstehliches Gebot für die übrigen, auch wenn nicht der eigene Drang der Freude sie vor den Altar des Allmächtigen getrieben hätte.

»Keinen Wagen, keinen Wagen!« rief die Gräfin einem Bedienten zu, der, da er bemerkte, daß man sich zum Ausgehen anschicke, die Frage, ob er den Kutscher bestellen solle, auf der Zunge hatte. »Wir gehen zu Fuß. Wie das ganze Volk in die Kirche strömt, so auch wir. Es ist ein Tag der Demut, nicht des Stolzes. Und doch, wie stolz schlägt mir das Herz!« Indessen hatte sie einen dunkeln Schal übergeworfen; Arnheim bot ihr den Arm. Marie und Lodoiska folgten.

Auf den Gassen war alles in Bewegung. Das Volk strömte über die Plätze den Kirchen zu. Alle Glocken läuteten wie an dem Festtage eines Heiligen. Unter dem Hotel des Gesandten kreuzten sich zwei wallende dreifarbige Fahnen. Die in der Stadt anwesenden Truppen traten zusammen, um in Parade in die Kirche geführt zu werden. Wie durch Zaubermacht war der Alltag in einen hohen Feiertag verwandelt. Das Volk hatte seine Feierkleider angelegt; Männer, Frauen, Mädchen und Kinder, alles eilte in buntem Gemisch dem Altar des Herrn entgegen. Wie glänzten die feurigen, dunkeln Augen der Mädchen und Jünglinge! Jenen wallte unter dem Schleier das lange, schwarzgelockte Haar hervor und bedeckte den weißen Nacken. Diese hatten die hohe, mit Tressen besetzte Mütze, von der reiche Troddeln herabhingen, stolz auf die Stirn gedrückt und sich mit dem Ehrenschmuck des Mannes, dem Säbel, umgürtet. Marien ward fast bang ums Herz, als sie diese allgemeine Volksfreude wahrnahm. Ach, in ihrem Vaterlande hatte sie solch ein Fest noch nicht erlebt. Und wird man dort nicht über diesen Sieg trauern? Ist nicht unser Herz auf der Seite des Feindes, wenngleich unsere Vaterlandsgenossen, durch die Macht der Weltgeschicke bezwungen, gegen ihn ausgezogen sind? Und wird diese Schlacht wirklich so segensreiche Folgen für uns haben, als die Hoffnungen geweckt sind?

In diesen Gefühlen hatte man sich der Kirche genähert, deren weite Pforten geöffnet standen. Die Klänge der Orgel drangen den Eintretenden feierlich entgegen und mischten sich mit dem brausenden Schall der Glocken. Die Kerzen am Hochaltare brannten; vor allen Heiligenbildern waren sie angezündet. Das Volk erfüllte schon fast die geräumigen Hallen, doch noch immer neue Massen drängten heran. Mit Mühe gewann die Gräfin noch ihren geschlossenen Betstuhl, durch dessen Gitter man die ganze Kirche überblickte. Gegenüber auf dem Chor waren die Sitze der französischen Gesandtschaft; links sah man den Hochaltar, rechts die Kanzel. Die Vergitterung des Platzes war Marien angenehm, weil sie diesem Gottesdienste, ohne seine Formen mitzumachen, beiwohnen mußte, also nur als Zuschauerin erschien, während ihr Herz doch so dankbar für die Erhaltung der Ihrigen schlug, das Flehen ihrer Brust um eine segensvolle Wendung der Schicksale ihres Vaterlandes brünstig zu Gott emporstieg. Sie empfand es jetzt, wie die wahre Frömmigkeit, der wahre, feste Glaube keine Sekten, keine Formen des Gebets kennt. Ihr findet den Gott überall da, wo ihr wahrhaft zu ihm betet.

Während die Gräfin und Lodoiska, den Rosenkranz in der Hand, niederknieten, blieb Marie still, aber andächtig auf ihrem zurückgezogenen Sitze.

Arnheim war nicht mit in den Betstuhl der Gräfin getreten, weil die Sitte Männer und Frauen in der Kirche sonderte. Lodoiska betete mit der Glut einer Schwärmerin; ihr Auge heftete sich unverwandt auf ein gegenüberhängendes Marienbild. Leise bewegte sie die zarten Lippen, doch kein Laut wurde hörbar. In ihren Blicken glänzte das reinste Dankgefühl, die heilige Wehmut der Freude. Die Gräfin war ernst; auch kniend behielt sie die Majestät ihrer Haltung, denn die Hoheit leuchtete von ihrer freien Stirn. Das große, dunkle Auge hob sich von Zeit zu Zeit unter den langen Wimpern und blickte mit heiligem Ernst empor.

Das Hochamt war geendet; die Frauen verließen die Kirche. Nahe an der Pforte kreuzten sich die Strömungen der Menge, so daß eine Stockung entstand stand. Von beiden Seiten kamen diejenigen, welche auf dem Chor gesessen hatten, die Treppe herab; von drei Seiten drang der Strom aus dem Schiff der Kirche heran. Arnheim hatte sich nicht wieder an die Frauen anschließen können; sie waren allein und hingen sich fest aneinander. Jetzt kam auch der französische Gesandte mit seiner zahlreichen glänzenden Umgebung die Stiegen herab. Der Strom des Gedränges führte sie dicht mit den Frauen zusammen. Allmählich sah sich Marie ganz von Uniformen umgeben; sie senkte das Haupt, um den mitunter sehr dreisten Blicken dieser Männer auszuweichen. Da hörte sie einige französische Worte von einer Stimme sagen, die ihr bekannt war. Sie wandte das Auge dahin, aber als habe sie auf eine Natter getreten, fuhr sie unwillkürlich scheu zurück und erblaßte, denn sie sah vor sich, das Profil halb gegen sie gewendet, den gefürchteten, verhaßten Beaucaire und zwei Schritte vor ihm auch St.-Luces. Ihre ganze Fassung mußte sie zusammenraffen, um sich nicht durch einen Schrei zu verraten; die Knie zitterten ihr, sie vermochte kaum einen Schritt zu tun. Sicher wäre sie niedergesunken, wenn das Gedränge der herausströmenden Menschen sie nicht gewaltsam aufrecht erhalten hätte. Ihre Empfindung glich der eines Wanderers, welcher plötzlich entdeckt, daß er sich neben einer schlafend im Grase liegenden Schlange zur Ruhe niedergesetzt hat; er weiß nicht, bringt ihm Flucht oder Verweilen Verderben. Wie Beaucaire und St.-Luces in diesem Augenblicke standen, war es unmöglich für sie, Marien zu sehen. Doch das konnte sie nicht wissen, ob sie nicht schon längst von beiden bemerkt worden war. O, was hätte sie jetzt darum gegeben, wenn sie wie Lodoiska und die Gräfin einen Schleier getragen hätte, um ihr Angesicht zu verhüllen! Sie beugte es herab, bedeckte es mit ihrem Tuch, suchte sich zu verbergen, soweit als es möglich war; doch der Strom des Gedränges trieb sie immer näher auf die Gefahr hin, und sie sah den Augenblick herankommen, wo sie Beaucaire berühren, Arm gegen Arm mit ihm stehen werde. Sie würde der Gräfin einen Wink gegeben haben, doch war jedes Wort gefährlich, konnte sie verraten. In Todesangst harrte sie stumm aus und ergab sich in ihr Schicksal. Nur ein stummes Gebet sandte sie zu dem Allmächtigen empor, daß er sie aus dieser Gefahr erretten möge. Da warf sich plötzlich der Strom der Menge seitwärts, weil man eine zweite Tür geöffnet hatte. Diesem Zuge folgte die Gräfin, und so erreichte man nach einigen Minuten das Freie, wo für den Augenblick wenigstens Sicherheit war. Jetzt erst konnte Marie der mütterlichen Freundin die Gefahr entdecken, in der sie schwebte. Diese schlug sogleich einen Umweg durch einige Nebengassen ein, um unbemerkt den Palast zu erreichen. Sie beruhigte Marien durch die Versicherung, daß es in Warschau niemand wagen werde, das Heiligtum der Gastfreundschaft zu stören, selbst wenn man ihren Aufenthalt entdeckt haben möchte. »Indes bezweifle ich es,« fuhr sie fort, »denn hätte einer dieser Männer uns erkannt, so würden sie ihr Auge unverwandt auf uns geheftet haben; doch habe ich nichts derart bemerkt.« Auch Lodoiska trat dieser Meinung bei.

Durch diese Zusicherung einigermaßen beruhigt, schöpfte Marie wieder freien Atem. Hatte die Gräfin recht, so war sie in der Tat einer großen Gefahr aufs glücklichste entgangen. Denn bei dem damaligen Zustande der Dinge hatte sie, in Deutschland wenigstens unbedingt, von der Willkür eines solchen Feindes, wie Beaucaire und mutmaßlich auch St.-Luces, alles zu fürchten. Es gab keine andere Rettung als Flucht oder irgendeinen mächtigen Schutz. Auf diesen hoffte Marie durch das Ansehen der Gräfin; sich selbst überlassen, wäre sie verloren gewesen; denn der geringste Verdacht, in politische Umtriebe verwickelt zu sein, reicht ja hin, selbst gegen Frauen die härtesten Maßregeln zu verfügen, und Marie wußte nur zu gut, daß sie und ihre Mutter denselben nur durch Rasinskis geschickte und tätige Verwendung und durch den glücklichen Umstand der Abreise St.-Luces aus Dresden entgangen waren. Was damals der Bruder für sie getan, das hoffte sie jetzt von der Schwester. Um Gewißheit über die Lage der Dinge zu erhalten, meinte die Gräfin, sei es nötig, Arnheim, wenn auch nicht ganz, doch zum Teil ins Geheimnis zu ziehen; ein Vertrauen, dessen Marie ihn nach dem, was er ihr diesen Morgen eröffnet hatte unbedingt würdig hielt. Man war zwar in der Kirche von ihm getrennt worden, doch zweifelte man keinen Augenblick, daß er sich sehr bald wieder im Hause der Gräfin zeigen werde. Indessen wurde es Mittag und er erschien nicht. Dies erregte einige Besorgnisse in Marien, obwohl sie über ihre eigene Lage schon ruhiger wurde, da sie mit Recht voraussetzte, wenn Beaucaire sie bemerkt hätte und sie verfolgen wolle, so würde sie schon jetzt die Wirkung seiner boshaften Tätigkeit erfahren haben; denn er konnte sie nicht anders als in Gesellschaft der Gräfin und Lodoiskas, die er beide kannte, gesehen haben, und dies reichte hin, ihm ihren Aufenthalt zu entdecken. Endlich gegen Abend ließ sich Arnheim melden. Hätte er gewußt, wie sehnlich man ihn erwartete, so würde er längst dort gewesen sein; allein ihn hielt gerade das Gefühl zurück, welches ihn so mächtig an diesen Ort zog. Denn man scheut sich nicht selten am meisten, da einen Besuch zumachen, wo man so überaus gern ist, weil man das Fehlschlagen der Absicht so fürchtet, daß man nicht selten lieber gar keinen Versuch wagt. Für seinen Abendbesuch aber hatte Arnheim einen gültigen Vorwand, oder vielmehr einen dringenden Grund; denn er sollte noch in der Nacht als Kurier abgehen. Um neun Uhr war er zum Gesandten beschieden, um seine Depeschen zu empfangen. Als er mit dieser Entschuldigung seines Besuchs denselben einleitete, erschien es klar, daß seine Hilfe in der Angelegenheit, die man ihm vertrauen wollte, nicht mehr möglich sei. Doch er kam von selbst darauf, denn im Gespräche äußerte er: »Es scheint, daß Warschau alle Badegäste aus Teplitz versammeln will; soeben traf ich wieder zwei beim Gesandten, die beiden Franzosen, welche auf jener Landpartie nach Aussig zu uns stießen.«

»Haben Sie dieselben gesprochen?« fragte die Gräfin mit etwas zu hastigem Tone, als daß er nicht hätte auffallen sollen. – »Nur ganz flüchtig,« entgegnete Arnheim; »aber weshalb? Wünschen Sie vielleicht –«

»O ja, wir wünschen wirklich etwas, könnten Sie um einen wichtigen, dringenden Dienst bitten«, nahm die Gräfin das Wort und blickte Marien an. – »Mit größter Freude stehe ich Ihnen zu Befehl«, entgegnete Arnheim. – »Es ist die Frage, ob Sie es noch können. Unser Wunsch ist nämlich der, daß diese beiden Franzosen, womöglich, unsere Anwesenheit gar nicht erfahren, denn wir haben dringende Ursachen, sie zu vermeiden. Vielleicht aber haben Sie unser schon erwähnt und dann –«

»Gewiß nicht,« fiel. Arnheim rasch ein; »denn ich erinnere mich aus Teplitz her, daß Ihnen« – hier blickte er Marien an – »diese Herren schon bei der damaligen Begegnung nicht angenehm waren; mir sind sie es in der Tat auch nicht, und wir wechselten daher nur einige unbedeutende Worte miteinander. Auch dürfen Sie ganz unbesorgt sein, denn sie reisen noch heute mit mir in derselben Stunde ab.«

»Gott sei Dank!« rief Marie, die bisher mit angstvoller Spannung zugehört hatte und der nun die freudige Überraschung diesen Ausruf entriß. Arnheim war erstaunt über die Heftigkeit ihrer Empfindung, doch erlaubte ihm seine Bescheidenheit keine Frage. Allein Marie fühlte, daß sie sich zu erklären habe, wenn sie nicht den fremdartigsten Vermutungen preisgegeben sein wollte. »Sie müssen wissen, Herr von Arnheim,« begann sie daher, »daß ich die Ursache bin, weshalb die Frau Gräfin dem Besuch dieser Herren auszuweichen wünscht. Eine Kette von Vorfällen, zu deren Mitteilung ich nicht berechtigt bin, hat bewirkt, daß ich diese beiden Männer vermeiden, ja daß ich sie fliehen muß. Meinen herzlichen Dank würden Sie sich daher erwerben, wenn Sie jetzt und zu keiner Zeit, wo Sie denselben begegnen dürften, von meiner Anwesenheit hier etwas ahnen ließen. Es ist ein Dienst, den im ernstesten Sinne des Worts Ihre Landsmännin von Ihnen erbittet.«

»Ich würde mich für einen Elenden halten,« rief Arnheim lebhaft, »wenn ich Ihrem Willen auch nur mit einer Silbe, einem Blick entgegenhandelte.« – »Ich bin gewiß, daß Sie tun, was Sie vermögen, um mir etwas Unangenehmes zu ersparen,« sprach Marie freundlich und reichte ihm die Hand; »nehmen Sie meinen ganzen Dank im voraus dafür an.«

»Wenn Sie mir nur mehr, nur wirklich etwas, das einem Dienst, einer Tat ähnlich sähe, aufgetragen hätten! Wünschen Sie vielleicht nähere Auskunft über diese beiden Männer?« – »Ich weiß nicht, ob sie mir fruchten würde,« antwortete Marie; »doch sagen Sie uns, was Sie wissen, denn schädlich kann es mir nie sein, die Verhältnisse derjenigen genauer zu kennen, vor denen ich , mich zu hüten habe.«

»Es ist in der Tat wenig. Wie ich aus ihren Geschäften ersah, sind beide in der Zivilverwaltung, die zu der großen Armee gehört, angestellt, und zu diesem Zwecke begeben sie sich jetzt dahin. Ihre Tätigkeit scheint sich gegenwärtig besonders auf die Verpflegungsanstalten zu beziehen, die im Rücken der Armee angelegt sind und noch werden.« –»So würden sie vielleicht nicht zur Armee selbst abgehen?« fragte Marie und ein Schimmer der Hoffnung lebte in ihr auf.

»Ihre nächste Bestimmung ist Wilna; weiter vermag ich nichts anzugeben. Dorthin werden sie aber schon binnen einiger Stunden unterwegs sein.«

»Es ist auch hinreichend und beruhigend genug für uns«, sprach die Gräfin. »Aber Ihre eigene Abreise ist so nahe,« nahm sie mit Leichtigkeit eine andere Wendung, daß wir uns fast fürchten müssen, Ihnen durch die Bitte, den Überrest des Abends bei uns zu verweilen, die Zeit zu Ihren Vorbereitungen zu rauben.«

»Wenn Sie mir nur gestatten wollen, diese wenigen Stunden so glücklich zuzubringen; meine Geschäfte sind beendigt. Um neun Uhr empfange ich meine Abfertigung, um zehn Uhr bin ich zuverlässig schon eine gute Strecke von Warschau entfernt, denn ich habe meinen Wagen vor das Hotel des Gesandten bestellt. Also bis gegen die neunte Stunde –« – »Sind Sie mir der willkommenste Gast«, unterbrach ihn die Gräfin.

Es wurde Licht in den Salon gebracht und der Tee serviert. Das Wetter war wieder rauher geworden; der Wind rauschte herbstlich in den Bäumen und schlug gegen die Fenster. Dies erhöhte nur die Traulichkeit des Zimmers; selbst Arnheim vergaß, daß er dieses Glück nur in so flüchtigem Moment erhaschen sollte, daß er in wenigen Stunden durch die rauhe Hand des Krieges schon wieder von allem heimischen, geselligen Beisammensein, für lange Zeit, getrennt würde. Man sprach von der Schlacht, von den Opfern, die sie gefordert hatte, von den noch Beklagenswertern, die erst nach langer Qual das beruhigende Ziel des Todes erreichen würden. Arnheim schilderte mit Sachkenntnis die dringende Not, welche oft in den Lazaretten herrschte, den Mangel an Gerätschaften, besonders aber an verpflegenden Händen. »Es sollten,« rief Lodoiska, von ihrem Mitgefühl hingerissen, aus, »jedem Heere Frauen und Mädchen folgen, um die Pflege der Verwundeten zu übernehmen.« – »Und hättest du den Mut zu einem solchen Unternehmen?« fragte die Gräfin lächelnd, aber doch ernsthaft. Lodoiska, welche wohl empfand, was ihr den Mut dazu verleihen würde, errötete hoch, erwiderte aber schnell: »Ja gewiß, ich traue ihn mir zu!« – »Ich weiß nicht,« sprach Marie mit zweifelhaftem Ton, »ob diejenigen, welche nahe Angehörige unter den Kriegern haben, nicht eine solche Verpflichtung fühlen sollten. Wir Mädchen müßten uns dessen vielleicht einer falschen Scheu und Behutsamkeit wegen enthalten; allein eine Frau, die ihren Gatten in der Gefahr weiß, sollte ihm wohl so nahe sein, um in der Stunde der Not zu seiner Hilfe herbeieilen zu können.«

»Wenn es nur möglich wäre und gestattet werden könnte,« entgegnete Arnheim nicht ohne Bewegung; »uns Soldaten würde eine so holde Pflege mit doppelter Kühnheit dahin treiben, wo die Wunden zu gewinnen wären, denen wir ein so sanftes Glück zu verdanken hätten.«

»Der Trost für die daheimbleibende Gattin,« bemerkte die Gräfin, »liegt wohl in dem Gefühl, daß der Mann seinen edelsten Beruf erfüllt, daß er für den Ruhm, die Ehre, die Freiheit oder Sicherheit seines Vaterlandes kämpft. Eine wirklich edle, des Mannes würdige Gattin wird so denken müssen und darum auch so fühlen lernen. Sie darf ihm das Opfer, welches nur seiner Persönlichkeit gelten würde, nicht bringen, weil sie gar nicht voraussetzen darf, ohne ihn zu beschämen, daß er es fordert. Der Mann, der den Umfang seiner Pflichten übersieht, weiß auch, daß er, wenn er in den Kampf zieht, dem Vaterlande Mütter und Hausfrauen zurücklassen muß, die die heranwachsende Jugend für künftige Zeiten pflegen, ja, daß Habe und Gut des einzelnen, welches vereinigt das Habe und Gut des Ganzen bildet, zum Besten des Ganzen sorgsam verwaltet werden muß. Durch diese Erwägungen scheinen mir die Pflichten einer Frau vorgezeichnet und erleichtert zu sein.«

Nicht nur Arnheim, sondern auch Marie und selbst Lodoiska mußten bekennen, daß die Gräfin die Pflichten des Weibes in der würdigsten Weise erkenne; sie hörten mit Ehrfurcht zu; denn so ernste Selbstüberwindung sie forderte, dennoch verleugnete sie das sanftere weibliche Gefühl nicht, sie gestattete ihm seine Rechte, nur wollte sie ihm die alleinige Herrschaft nicht gönnen. »Im ganzen ist es gewiß so allein wahr und richtig,« sprach Marie; »doch kommen unstreitig auch Fälle der Ausnahme vor. Wenigstens werden wir sie, wenn sie eintreten, aus der Eigentümlichkeit der Charaktere erklären, oft rechtfertigen, bisweilen auch wohl bewundern können.« – »So ist es«, rief Arnheim lebhaft aus und heftete sein Auge auf das schöne, sanft entschlossene Wesen, das ihm, je näher der Augenblick des Abschieds rückte, teuerer und teuerer wurde. Doch beschloß er, mit männlicher Kraft seinen Gefühlen zu gebieten und Mariens Herz nicht in einem Augenblicke zu einer das ganze Leben umfassenden Entscheidung zu drängen, wo ihr kaum Zeit geblieben wäre, das Ja oder Nein auszusprechen.

Die Stunden waren rascher als Minuten entflohen. Die Glocke der benachbarten Kirche schlug neun Uhr; das strenge Gebot der Pflicht gestattete kein Säumen mehr. Herzliche Wünsche begleiteten den Scheidenden; der Abschied war für alle bewegend; Arnheim mußte ihn beschleunigen, um sich nicht zu verraten.


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