Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Fünftes Kapitel.

Endlich wurde auch Ludwig von der Müdigkeit übermannt; er schloß das Fenster, hüllte sich dicht in den Mantel und warf sich auf das in der Ecke stehende Ruhebett nieder. Die Sorge um Bernhard und Jaromir hielt ihn noch eine Zeitlang wach. Doch mehr und mehr verlor sie sich in dem Nebel des Schlummers, der ihn überschlich; bald klangen ihm die unruhigen Gedanken nur noch wie ein fernes Brausen des Meeres, wie dumpfer, sich verlierender Donner in die Seele; sie verschleierten sich immer tiefer, verloren sich immer mehr in die Leere des weiten dunkeln Raumes. Endlich sanken ihm die Augenlider matt herab, und er lag im tiefsten Schlafe. Doch die Seele arbeitete unruhig fort in dem ermatteten Körper und führte die bunten, gaukelnden Traumbilder auf dem schwarz aufgespannten Hintergrunde der Nacht vorüber. Bald sah sich Ludwig im Getümmel der Schlacht, rings von Feinden bedrängt, zu Boden stürzend. Dann schwebte eine freundliche Gestalt aus der Heimat heran, seine Mutter trat vor ihn und bat ihn, ihr zu folgen. Sie führte ihn in ihr trauliches Wohnzimmer und fragte: Wo bist du nur so lange gewesen? Eine milde Rührung drang in sein Herz; er empfand im Traum die Freude des Wiedersehens, welche die Wirklichkeit ihm grausam geraubt hatte. Er sah sich auf dem Spaziergange nach Pillnitz; seine freundlichen Jugendgespielinnen begleiteten ihn. Plötzlich schreckte er freudig zusammen, denn Marie kam ihm aus einem Laubgang entgegen und ging Arm in Arm mit Bianka, vertraut an ihre Seite gelehnt, als wenn beide Schwestern wären. »So, liebt euch, ihr Geliebtesten, die ich auf der Erde habe«, sprach er im Traume, und ein Lächeln schwebte um seine Lippen. Er wollte ihnen näher treten, ihnen die Hand reichen; doch ein Fremder hielt ihn zurück. Es war Rasinski, der ihn aufforderte rasch zu Pferde zu steigen. Die lieben Gestalten verschwanden, er sah sich wieder mitten in dem unruhigen Verkehr des Feldzugs; lange, unendliche Reihen von Kriegern zogen an ihm vorüber; er schloß sich den Scharen an, aber doch quollen unaufhörlich neue Gestalten neben ihm hervor und schwebten an ihm hin. Verweilen und Vorwärtsdringen geschah zugleich, wie so oft das Doppelte und Widersprechende im Traume. Jetzt glaubte er in Moskau einzuziehen; er ritt mit Bernhard und Rasinski durch die Straßen, die sich in unabsehbarer Ferne vor ihm hinzogen. Die Häuser und Paläste ringsumher verwirrten sich vor seinen Blicken; er sah stets den vor sich, den er bewohnte, doch drängten sich immer neue Gassen dazwischen, ehe er ihn erreichen konnte. Mit jedem Schritt schien der Weg sich zu verlängern. Endlich hielt er mit Rasinski und Bernhard vor dem Tor; sie saßen ab und gingen die Stiegen hinauf. Erschöpft legte er sich im Traum in demselben Zimmer, auf demselben Bett zur Ruhe nieder, wo er eben wirklich schlief. Traum und Wirklichkeit begannen sich verworren zu mischen. Er hörte den Anruf einer Schildwache von der Straße herauf und erwachte dadurch. Da aber sein geöffnetes Auge dieselben Bilder sah wie das schlummernde, nämlich das vom düstern Glanz der Wachtfeuer matt beleuchtete Gemach; da sein wachendes Ohr dieselben Töne vernahm wie sein schlummerndes, so floß ihm in der Betäubung, die noch auf seinen Gliedern lastete, Wahrheit und Schein untrennbar durcheinander. So sah er, halb träumend, halb wachend, die Tür des Gemachs sich langsam öffnen und eine schwarz gekleidete, verschleierte Gestalt, die eine düster brennende Ampel in der Hand trug, eintreten. Sie schwankte geisterhaft, langsam näher; jetzt stand sie dicht an Ludwigs Lager still und schlug mit der Rechten die Hülle zurück, welche das Antlitz verbarg; der Schimmer ihrer Leuchte fiel darauf. Es war Bianka, aber bleich und mit gramvollen Zügen. »Wo ist Marie?« fragte Ludwig das Traumbild, »und weshalb kommst du in Trauerkleidern, Geliebte? Ach, du beweinst wohl auch meine Mutter!« Mit schmerzlichem Verlangen streckte er der Geliebten die Hand entgegen; stumm, bebend stand sie vor ihm. Es schien, als wolle sie sich über ihn neigen; doch plötzlich bebte sie zurück, hielt die Hand abwehrend, wie zum Zeichen, daß er sie nicht berühren dürfe, vor sich hin und bewegte langsam verneinend das edle Haupt.

»Du fliehest schon wieder? Warum höhnt ihr mich so, ihr holden Traumbilder!« sprach Ludwig in dämmernder Verworrenheit des Traums. »Zeigt euch nicht, wenn ihr stets von mir entfliehen wollt.« Er schauerte, wie durch einen Nachtfrost berührt, zusammen und hüllte sich tiefer in den Mantel. Das Gesicht war verschwunden. Doch aus der Dunkelheit der Nacht hörte der Träumende die Worte: »Fliehe, fliehe! Deinem Leben droht Gefahr unter diesem Dache! Nimm dies zum Angedenken!«

Wie leise Geisterberührung streifte es über seine Wangen. Er erwachte; mühsam hob er die zurückgesunkenen Augenlider empor. Doch alle Bilder seines Traumes lagen wie in Nebeldämmerung um ihn her. Biankas Gestalt verschwand wie ein Schatten; der Feuerglanz an der Decke war trübe umnachtet; alle Gegenstände, selbst die beleuchteten Fenster, schienen ihm von einem schwarzen Gespinste bedeckt. Mühsam suchte er die noch ganz verstörten Sinne zu sammeln; da schallte ein Schuß aus dem Nebengemach in sein Ohr. Dieser kriegerische Ton riß ihn gewaltsam aus den Banden des Schlafes auf; er war munter, raffte sich empor. Doch blieben ihm die Gegenstände wie vom Rauche umnebelt, und jetzt war es nicht mehr Täuschung des Traums, sondern sein Auge mußte auf unbegreifliche Weise geblendet sein. Da fühlte er wieder, wie zuvor im Halbschlummer, ein ähnliches geisterhaftes Berühren auf Stirn und Angesicht, als ob ein zarter Flügel darüber hinstreifte. Wie durch Zauberkraft war plötzlich das düstere Gespinst verschwunden, welches ihm alles einzuhüllen schien, und er erblickte die Gegenstände umher wieder in ihrer vollen Schärfe. Noch hatte er sich von seinem Staunen nicht erholt, als er Rasinskis laute Stimme im Nebengemach vernahm, die ihn und Bernhard aufrief; er eilte daher in den Saal, der außer dem Feuerschimmer von der Straße herauf durch eine Nachtlampe matt erhellt war. Rasinski trat ihm schon mit hastigen Schritten entgegen, und fast zu gleicher Zeit stürzten die durch den Schuß geweckten Leute vom Vorsaale herein. »Licht! Mehr Licht!« befahl Rasinski. Sie eilten, den Befehl zu erfüllen. »Was gibt's? Was ist geschehen?« fragte Ludwig.– »Wir sind in unheimlicher Umgebung; hast du nichts gesehen?« – »Nicht das mindeste, jedoch–«

»Durch mein Zimmer ging soeben eine schwarze Gestalt, allem Anschein nach ein Frauenzimmer«, unterbrach ihn Rasinski. – »Wie?« rief Ludwig außer sich, als ob ein Blitzstrahl ihn heiß und kalt zugleich durchzuckte, »eine schwarze, verschleierte Gestalt –« – »Ganz recht!« – »Und diese sahst du wirklich? Es war kein Traumbild?« rief Ludwig und stand wie versteinert vor dem Freunde.

»Nein, beim Himmel, denn ich war so wach wie in diesem Augenblicke«, entgegnete Rasinski, der noch zu sehr mit seinem eigenen Erlebnis beschäftigt war, als daß der Eindruck, den es auf Ludwig machte, ihm hätte auffallen können. »Vor fünf Minuten wußte ich freilich selbst nicht, ob ich geträumt hatte oder wirkliche Dinge sah. Ich glaubte, ein leises Vorüberrauschen an meinem Lager zu hören, und erwachte, denn du weißt, wie leicht mein Schlaf ist. Da sah ich es wie einen Schatten, über die Wand gleiten, und ein trüber Lichtschimmer schien mir aus der offenen Saaltür ins Gemach zu fallen. Doch glaubte ich, es sei der Schein der Feuer von der Straße herauf, die mich täuschten. Indessen war ich wach geworden und lag, noch über die Erscheinung nachsinnend, auf meinem Lager. Eben hatte ich mich wieder eingehüllt und die Augen geschlossen, als ich dasselbe leise Rauschen wie zuvor höre. Ich fahre auf; da schwebt eine schwarze verschleierte Gestalt dicht an meinem Lager vorüber, ›Wer da!‹ ruf' ich sie an; sie schreckt sichtlich zusammen, gibt mir jedoch keine Antwort, sondern eilt mit raschen Schritten durchs Gemach. ›Antwort, oder ich schieße!‹ rufe ich und greife nach meinen Pistolen –«

»Allmächtiger Gott!« rief Ludwig und fiel Rasinski unwillkürlich, als ob er den Schuß verhindern wollte, in den Arm, den dieser in der Lebhaftigkeit der Erzählung ausgestreckt hatte. »Du hast also auf sie geschossen?« – »Allerdings; und gleich darauf hörte ich den Ausruf einer weiblichen Stimme.«

»Sie ist getroffen? Wo?« Mit diesen Worten wollte Ludwig in das Gemach Rasinskis eilen; doch dieser, der erst jetzt die ganz außerordentliche Bewegung des Freundes wahrnahm, hielt ihn zurück und fuhr rasch fort: »Es war nur ein Ausruf des Schreckens. Gleich danach klang es wie eine schnell geöffnete und ins Schloß geworfene Tür; ich hatte mich rasch emporgerafft und war auf die geheimnisvolle Erscheinung zugeeilt. Doch, sei es nun, daß mich der Blitz und Rauch des Schusses geblendet hatte, oder daß das Halbdunkel des Gemachs die Flucht des unbekannten Wesens begünstigte, sie war verschwunden, als ob sie in den Boden versunken wäre. Sogleich sprang ich daher in den Saal und rief dich und die Leute auf. Hier hindurch kann sie nicht geflüchtet sein, denn sie hätte die Tür noch nicht erreichen können, so schnell war ich ihr gefolgt.«

Während dieser Erzählung waren die Diener mit Licht eingetreten, und Rasinski eilte in sein Schlafzimmer, um dasselbe genau zu durchforschen. Ludwig begleitete ihn mit einem unaussprechlichen Gefühl. Doch das Zimmer war leer. Nur zwei Türen befanden sich in demselben: die eine, welche nach dem Saale führte, die andere, durch welche man in die weiter fortlaufende Reihe der Gemächer gelangte. Diese letztere aber war durch zwei Sessel, die noch ganz so standen wie am Abend zuvor, gesperrt; unmöglich konnte jemand dort hinausgegangen sein, ohne die Sessel umzustürzen oder auf die Seite zu schieben. Die Diener beteuerten dagegen, daß niemand durch die Saaltür in den Vorsaal gekommen sei, indem sie quer vor derselben ihre Lagerstätte aufgeschlagen hatten, so daß man nur über sie hinweg hinaus und hinein konnte. An der Stelle, wo Rasinski auf die Gestalt geschossen hatte, befand sich keine Tür; es war diejenige Ecke der Rück- und Seitenwand des Kabinetts, welche nicht an die Seite des Saals, sondern an die der übrigen Gemächer stieß. Aufmerksam beleuchtete Rasinski die Tapeten. »Da sitzt mein Schuß!« rief er und zeigte auf eine verletzte Stelle, wo die Kugel eingedrungen war und noch in der Mauer steckte. »Also habe ich mich nicht getäuscht! Hier muß eine geheime Tür befindlich sein.« Neugierig traten die Leute umher; Ludwigs Herz schlug in sehnsuchtsvoller Erwartung. Da fiel es ihm plötzlich wieder ein, daß nun alles Wahrheit sein konnte, was er zu träumen geglaubt hatte. »Nimm dies zum Andenken!« waren die Worte der Erscheinung gewesen. Schnell ergriff er ein Licht und eilte in sein Gemach zurück. Sein erster Blick fiel auf das Ruhebett; er entdeckte nichts; doch als er sich jetzt auch in den übrigen Teilen des Zimmers umsah, erblickte er am Boden in der Nähe des Fensters ein weißes Tuch. Er hob es empor; es war ein Schleier. Wie das Gewebe leicht über seine Hand hinstreifte, erkannte er plötzlich dieselbe Empfindung wieder, die ihn zuvor so seltsam getroffen hatte; der Schleier mußte sein Antlitz bedeckt haben. Er entfaltete ihn; das Ende war durch eine Art von Ring geschlungen; hastig streifte er das Gewebe los, glänzendes Gold wurde sichtbar, ein grüner Stein schimmerte ihm entgegen. »Gnadenreicher Gott, ist es möglich!« rief er aus, und heiße Tränen stürzten ihm über das Antlitz. Er hielt dasselbe Armband in den Händen, welches die Geliebte am Fuße des St. Bernhard verloren hatte; dasselbe teuere Kleinod, dem er zuerst verdankte, ihr in das holdselige Antlitz zu blicken. Außer sich wollte er eben zu Rasinski hinüberstürzen, als er ein in den Falten des Schleiers festgestecktes Blatt bemerkte. Mit zitternder Hast zog er die goldene Nadel, die es befestigte, heraus und entfaltete es. Unter gewaltsam hervordringenden Tränen las er die Worte: »Sie waren einst mein Retter aus dringender Gefahr! Sie beschirmten mich mit brüderlicher Treue. Wer vermag die wunderbaren Fügungen der Vorsehung zu bezeichnen, die uns damals zusammenführten und trennten, und jetzt wieder nahe bringen und für ewig scheiden! Doch die Minuten drängen. Verlassen Sie dieses Haus, schnell, augenblicklich! Es droht Ihnen die äußerste Gefahr! Der Schlund des Verderbens gähnt unter Ihren Füßen auf, der Boden, auf den Sie treten, ist nur die leichte Decke eines furchtbaren Abgrundes. Ein Augenblick zu spät, und sie bricht ein! – Mehr darf ich nicht enthüllen. – Ach, schon das gilt für ein schweres Verbrechen! Doch ein höheres Gesetz der Dankbarkeit gebot mir, es zu begehen. Die Zukunft ist düster verhüllt, die Wogen meines Lebens in Sturm gehoben. Welches auch mein Schicksal sei, mit schwesterlicher Treue wird mein Herz das Andenken des edeln Freundes bewahren! Bianka.«

Ludwig stand, seiner Sinne kaum noch mächtig, und heftete das Auge auf das Blatt, als Rasinski eintrat. »Wo bleibst du?« fragte er. »Wir haben eine Tür entdeckt; eben lasse ich eine Axt holen, sie zu öffnen, denn wir müssen notwendig Licht in der Sache haben. Ist aber Bernhard noch nicht zurückgekehrt? – – Was hast du? Was ist dir?« fragte er erstaunt, als Ludwig bewegungslos vor ihm stand und ihm nur das Blatt hinreichte. Rasinski durchflog es mit raschen Blicken. »Ich glaube, hier sind höhere Mächte im Spiel,« rief er aus, als er gelesen; »nie ist mir ein wunderbareres Ereignis begegnet. Aber Gefahr? Welche Gefahr droht uns? Wörtlich ist doch die Stelle nicht zu verstehen? Wir müssen der Geheimnisvollen nachdringen. Komm und laß uns das Abenteuer gemeinsam wagen!«

Ludwig ließ sich von Rasinski fortreißen. In seinem Zimmer fanden sich schon die Reitknechte mit einer Axt beschäftigt, die entdeckte Tür zu öffnen. Nach wenigen Schlägen war es geschehen. »Jetzt entschlossen, doch vorsichtig«, sprach Rasinski; er ergriff mit der Linken ein Licht, mit der Rechten ein Pistol und schritt voran. Man befand sich in einem schmalen, niedrigen Korridor, der nur eben Breite und Höhe für einen einzigen Mann hatte. Es schien, als sei derselbe in der Mauer selbst angebracht und laufe parallel mit dem breiten äußern Korridor; doch senkte er sich merklich, ja an einigen Stellen fast steil. »Mir deucht, es riecht hier so brandig und nach Schwefel«, sprach Rasinski, nachdem sie etwa dreißig Schritte vorwärts getan hatten. »Bemerkt ihr nichts?« – »Freilich!« erwiderte der Reitknecht. »Es muß hier notwendig in der Nähe etwas glimmen.«

Sie gingen noch etwa zehn Schritte vor. Da drang ihnen ein dichter, schwefeliger Dampf entgegen, so daß das Licht plötzlich ganz blaurot brannte. »Sollte die Warnung doch vielleicht wörtlich gemeint sein?« fragte Rasinski leise, indem er sich zu Ludwig umwandte. »Ich halte es für bedenklich, hier weiter vorzudringen!«

Ludwig, dessen Herz in der Hoffnung angstvoll schlug, die Spuren der Geliebten aufzufinden, erwiderte: »Noch dürfen wir uns gewiß weiter wagen, denn die Rückkehr ist uns ja nicht verschlossen. Ich will voran.« – »Nein, es ist besser, daß ich der Vordere bin,« erwiderte Rasinski; »dich könnte der Eifer verleiten, die notwendige Vorsicht zu versäumen.« Sie schritten abermals etwa zwanzig Schritte vorwärts; der schwefelige Dampf wurde dichter und ließ sich kaum noch einatmen. Da fuhr ihnen plötzlich ein Windstoß entgegen, als ob eine Tür irgendwo geöffnet worden wäre, und im gleichen Augenblick erloschen die drei Lichter, die sie bei sich trugen. Unmittelbar darauf vernahmen sie einen dumpfen Knall, und das ganze Gebäude bebte erschüttert. »Das war eine Mine!« rief Rasinski; »wir müssen zurück!«

Selbst Ludwig sah ein, daß ein weiteres Vordringen unmöglich sei. Man wandte daher um und suchte sich im Finstern zurückzutappen. Aber schon nach wenigen Augenblicken verhüllte ein entsetzlicher Qualm und eine erstickende Hitze den Raum um sie her, so daß sie fast die Besinnung verloren. »Rasch vorwärts«, rief Rasinski und trieb Ludwig an, während dieser auch die Begleiter drängte. Hastig stürzend, mit beklemmtem Atem, Tücher vor den Mund haltend, suchten sie Rasinskis Zimmer zu gewinnen. Atemlos erreichten sie es endlich; doch war auch dieses schon ganz mit Rauch gefüllt. Rasinski sprang gegen das Fenster an und schlug mit dem umgekehrten Pistol die Scheiben ein, daß sie klirrend in die Straße stürzten. Durch dieses Mittel erhielt man Luft und konnte einige frische Atemzüge tun. Ludwig war durch die Saaltür geeilt; allein kaum hatte er dieselbe geöffnet, als ihm auch schon von dort Rauch und Dampf entgegenschlug, der aus dem Boden zu quellen schien. Doch brannte die Lampe noch und er konnte sein Zimmer erreichen, um in aller Eile Waffen, Mantel und Mantelsack zu ergreifen. Biankas Schleier, Armband und Tuch trug er schon auf der Brust. So eilte er wieder zu Rasinski zurück, der ihm aber schon auf dem Saale entgegentrat. Jetzt erscholl durch die Stille der Nacht plötzlich von außen her der Ruf: »Feuer, Feuer!« und fast zu gleicher Zeit dröhnten die Trommelwirbel aus dem Biwak unten herauf, und gellende Trompetenstöße schmetterten darein. Hastig stürzten Rasinski, Ludwig und die Reitknechte die großen Treppen hinunter auf die Gasse hinaus. In der Hausflur kam ihnen Bernhard in vollem Laufe von der Hinterseite her entgegen. »Gott sei Dank, daß ihr gerettet seid!« rief dieser; »ich fürchtete schon, zu spät zu kommen. Aber macht, daß ihr das Freie erreicht, denn die Flammen schlagen schon von allen Seiten aus dem Erdgeschoß und durch das Dach hinaus. Hier treibt der Teufel sein Spiel!«

Schmerz und Seligkeit der Liebe, Bestürzung, Staunen, Schrecken, dankbare Freude brachen in vollen Strömen zugleich in Ludwigs Herz ein; doch die mächtige Flut der Ereignisse riß alles in ihre fortbrausenden Wogen hinein und gönnte der Brust nicht die Ruhe, sich selbst zu beschauen und zu empfinden. Der Augenblick forderte die Tat; die betäubte Betrachtung wurde gewaltsam von den Gegenständen hinweggerissen, an die sie sich heften wollte.

Jetzt erst konnte man die Gefahr übersehen. Eine schwarze undurchdringliche Wolke lag über dem Palast; nur einzelne rot züngelnde Blitze zuckten hindurch. Der Qualm drang schon fast aus allen Fenstern des Hauses hervor; er wirbelte aus dem Erdgeschoß herauf, er quoll in dichten Strömen aus dem Dachstuhle. Ein einziger Blick reichte hin, um die Überzeugung zu schöpfen, daß das Feuer angelegt, daß der Brandstoff in allen Teilen des Gebäudes ausgebreitet und durch ein plötzliches Mittel überall zugleich in Flammen gesetzt sein mußte. Welcher Art dasselbe gewesen, darüber konnte Rasinski keinen Zweifel mehr hegen.

Mit grausendem Erstaunen erwartete man, wie das majestätische Schauspiel sich entwickeln werde. An Rettung war bei dem gänzlichen Mangel an Hilfsmitteln nicht zu denken. Man hatte genug zu tun gehabt, um so schleunig als möglich einige Vorräte und die Pferde, welche in dem Hofe des Schlosses untergebracht waren, zu retten. Rasinski ließ seine Leute unter Waffen treten und überzählte, ob jemand fehle. Sie waren alle zugegen. »Noch ist es fast windstill,« sprach er; »der Rauch zieht ein wenig abwärts; wenn die Flammen ebenso gejagt werden, dürfen wir ohne Gefahr hier verweilen. Wo nicht, so ziehen wir uns nach der Gegend des Kreml. Einstweilen wollen wir das Ereignis dorthin melden.« Er rief Jaromir hervor und gab ihm den Auftrag, sofort nach dem Kreml zu reiten und die Meldung bei dem Generaladjutanten des Kaisers zu machen. Jaromir sprengte wie ein Pfeil davon.

Mit gespannter Erwartung betrachteten die versammelten Leute jetzt das in Dampf gehüllte Gebäude vor ihnen, jeden Augenblick gewärtig, daß die Flammen durch das Dach brechen sollten. Da fiel unvermutet ein heller Schein über den ganzen Palast, als wenn derselbe durch eine plötzlich aufgehende Sonne beleuchtet würde. Verwundert sah man sich um; da stand der ganze Himmel in dunkelrotem Glanz, als ob er über ein Feuermeer gewölbt sei. Rasinski sprengte die Gasse entlang bis zu der Gartenmauer, wo er einen freien Blick über den Horizont hatte. »Heiliger Gott!« rief er entsetzt aus, als er hier ein zweites, großes Gebäude, das in der Nähe des Kreml liegen mußte, wahrnahm, aus dessen hohem, unförmlichem Dache eben die Flammen mit voller Gewalt herausschlugen, während eine schwarze Rauchwolke sich düster über die Sterne, die noch im Zenit glänzten, hinwegwälzte. »Das ist kein Zufall!« rief er unwillkürlich aus; »hier werden furchtbare Ratschläge ausgeführt.« Er wollte eben zurücksprengen, als ihm Bernhard mit der Nachricht entgegenkam, am Ende der Gasse brenne ein Magazin. Jetzt sah Rasinski deutlich, worauf es abgesehen sei; nunmehr galt es, entschlossen zu handeln. »Woher kommt der Wind?« fragte er und sah sich ringsum. – »Ich glaube, aus Südwest!« erwiderte Bernhard. – »Richtig! Doch er scheint unstet! Indessen wollen wir uns einstweilen zurückziehen, es könnte uns sonst der Weg abgeschnitten werden.«

Von der Flucht Rasinskis aus dem geheimen Gange bis zu diesem Augenblicke waren kaum zehn Minuten verflossen. Bis dahin hatte man in der Stadt auch noch keinen Lärm gehört, sondern die Ausbrüche des Feuers schienen von den übrigen Biwaks noch nicht bemerkt worden zu sein, und es herrschte während des furchtbar schönen Schauspiels die schauerliche Stille der Nacht. Jetzt aber hörte man aus der Ferne von allen Seiten die Trommeln rühren und Signalhörner und Trompeten schmettern. Es entstand ein Getümmel, als ob ein großes Lager überfallen werde. Die Kavallerie saß auf, die Infanterie griff zu den Waffen und trat an. Noch wußte man nicht, ob man nur ein entsetzliches Element, oder vielleicht auch einen verborgenen Feind, der unter dem Schutze desselben seinen Angriff machen wolle, zu bekämpfen habe. Die Ungewißheit vermehrte daher den ersten Schrecken. Indessen gingen von allen Seiten die hohen Gebäude in Flammen auf; der Wind wurde stärker und jagte das Feuer wie ein flutendes Meer über die Stadt hin. Bald war man in ein düsteres Dunkel undurchdringlichen Rauchs gehüllt, der, in die engen Gassen zusammengepreßt, nicht sogleich einen Ausweg fand; bald leuchtete es ringsumher wie am hellen Tage, und in allen Waffen glänzte der Widerschein der Flammen, als wären sie in frisches Feindesblut getaucht.

Rasinski gewann mit den Seinigen eine Straße, wo noch keine Feuersbrunst ausgebrochen war. Die Höhe der Häuser von beiden Seiten hinderte auch den Widerschein der entfernter brennenden Gebäude so blendend einzufallen wie zuvor bisweilen; man befand sich in einem dämmernden Halbdunkel, doch war der Himmel durch ziehende Rauchwolken und Funkenströme bedeckt. Das Ende der Gasse stieß auf eine Brücke, welche jedoch für den Augenblick durch die Artillerie gesperrt war, die ihren eiligen Rückzug nahm, um die Munitionswagen und Protzkasten, die man unvorsichtigerweise in der Stadt aufgefahren hatte, zu retten. Rasinski mußte daher mit den Seinigen hier halten, bis die Bahn frei wurde. »Seht ihr Freunde,« sprach Rasinski zu Bernhard und Ludwig, »meine Ahnungen werden wahr! Jetzt sehe ich des Unheils kein Ende. Ich wünschte, Jaromir stieße wieder zu uns,« sprach er nach einiger Zeit; »am Ende findet er uns nicht auf.« – »Ich will ihn aufsuchen«, rief Bernhard lebhaft, und Ludwig war ebenfalls sogleich dazu bereit. – »Das würde ihm nichts helfen und ich wäre nur auch euretwegen in Besorgnis. Du hast uns so gestern abend Sorge genug durch dein Verschwinden gemacht, Bernhard. Wo stecktest du denn?«

»Im Garten ging ich auf und ab! Es wäre mir unmöglich gewesen zu schlafen. Überdies habe ich daselbst eine Entdeckung gemacht, die uns zwar jetzt schwerlich noch etwas helfen kann, aber doch wohl mit den Feuersbrünsten im Zusammenhange steht.« Man horchte auf, vorzüglich war Ludwig gespannt. »Ich wollte eben ins Schloß zurückkehren,« fuhr Bernhard fort, »denn es hatte bereits Mitternacht geschlagen; als ich aber den großen Laubgang hinuntergehe, der auf das Portal zuführt, sehe ich plötzlich aus dem Seitengebüsch einen Lichtschimmer durch das Laub fallen. Es war eine Gestalt im Mantel mit einer Laterne. Im ersten Augenblick glaubte ich, man suche mich auf; doch hielt ich es für gut, mich hinter einer dicken Kastanie zu verbergen, bis ich wußte, wer mir nahe komme; denn ich hatte im Schlosse schon am Tage gewisse Entdeckungen gemacht.« – »Ich weiß das«, unterbrach Rasinski. – »So lauerte ich denn auf dem Anstande und sah, daß der Gestalt mit der Laterne einige andere folgten. Sie bogen aus dem Seitenpfad in den Hauptgang ein und kamen gerade auf mich zu. Es waren ihrer zehn. Ein Kerl mit der Blendlaterne ging voran; dann folgte ein Mann, dicht in einen Mantel gewickelt, der eine schwarz verschleierte Dame führte.« Ludwig seufzte aus tiefer Brust auf, sprach aber kein Wort. »Die übrigen schienen Diener zu sein; es waren auch zwei Weibsbilder dabei, die eine jung und zierlich, die andere aber, groß, abenteuerlich gekleidet, glich in Tracht und Haltung der wütenden Frau, die wir auf der Mauer des Kreml gesehen hatten; ich möchte schwören, sie wäre es selbst gewesen, wenn ich mehr von ihr gesehen hätte, als ein flüchtiger Schimmer der Blendlaterne, der über sie hinstreifte, während der Führer sich einmal nach seiner Gesellschaft umsah, wahrnehmen ließ. Die letzten vier Kerle trugen etwas auf den Schultern, das ich nicht zu erkennen vermochte; ich würde es für einen eingewickelten Leichnam gehalten haben. Ich stand unschlüssig, ob ich dem verdächtigen Zug in den Weg treten sollte; indessen muß ich gestehen, es waren mir doch zu viele, zumal da ich keine Pistolen bei mir hatte; auch dachte ich, es sind am Ende doch wohl friedliche Leute, die sich bei Nacht vor uns flüchten und froh sind, wenn wir sie nicht aufhalten. So ließ ich sie denn ziehen, und als sie vorbei waren, nahm ich meinen Weg nach dem Schlosse zurück. Auf halbem Wege roch es mir schon so nach Pech und Schwefel. Hm! dachte ich, sollte dies schwarze Gesindel zu Satans Bande gehört haben? Die Witterung wurde immer ärger. Plötzlich schütterte die Erde unter mir, und es scholl wie ein dumpfer, ferner Fall durch die stille Nacht. Jetzt schoß mir's auf! Ich eile wie der Wind durch den Park nach dem Schlosse. Endlich bin ich aus dem Buschwerke heraus und sehe die Gebäude vor mir, zugleich aber auch den Rauch, der von allen Seiten herausquillt, und rote Flammen, die aus den Kellerlöchern hervorlecken wie Drachenzungen. Ich will hinauf, euch zu wecken, da kommt ihr mir die Treppe herab entgegen. Euch muß der Rauch geweckt haben.«

»O Bernhard,« begann Ludwig, »uns war eine wunderbare Hilfe nahe. Ich –«

»Vorwärts!« rief Rasinski und unterbrach Ludwigs Erzählung, denn eben wurde die Passage frei und man mußte eilen, daß sie nicht zum zweitenmal abgeschnitten wurde. Auf der Brücke angelangt, sah man wieder freier um sich. Das Feuer brannte von der Westseite herauf. Der Widerschein spiegelte sich prächtig in dem düstern Fluß. »Der Wind dreht sich!« sprach Rasinski und sah nach dem Zuge des Rauchs und der Flammen. »Seht, wie die Funkengarben nach dem Kreml hinübersprühen! – Wir werden unsere Richtung ändern müssen!«

Ein Adjutant sprengte in Galopp heran und rief mit lauter Stimme: »Die Kavallerie und Artillerie soll sich vor das Tor auf die Straße nach Petersburg ziehen.« Hierauf wandte er sein Pferd, vermutlich um den Befehl irgendeiner andern Truppenabteilung, die er in den Gassen der Stadt umherirrend antreffen würde, zu überbringen. – »Gut, so kennen wir wenigstens unsere Bestimmung,« sprach Rasinski; »ich gestehe, ich wußte nicht, wie ich in diesem außerordentlichen Falle handeln sollte.«

Sie schlugen eine Straße ein, welche nach der angegebenen Richtung führte. Bald aber sahen sie sich in einem dichten Gedränge und Getümmel, denn Infanteriekolonnen, mit den bärtigen Sappeurs an der Spitze, kamen ihnen im Sturmschritt entgegen, weil sie befehligt waren, dem Brande Einhalt zu tun. »Platz! Platz!« schrie der Führer und drängte mit den Leuten vorwärts. So konnte die Kavallerie, auf die rechte Seite der Straße gedrängt, nur Schritt vor Schritt vorrücken. Indessen wuchsen in ihrem Rücken die Flammen; der Rauch wälzte sich, ein Gemisch glühender und schwarzer Wolken, hoch über die Türme und Paläste hin und verbarg den Himmel und seine Gestirne. Doch waren die Straßen nicht verdunkelt, sondern Häuser und Boden glühten, wie von Fackeln der Furien beleuchtet, im blutroten Widerschein. Der Sturm, durch das Flammenmeer gelockt, warf sich heulend, mit grimmiger Lust auf die wogende Flut, riß sie in hohen Wirbeln empor und jagte Funken, Feuerflocken und Asche vor sich hin, die in einem dichten Regen herabströmten.

Das ungeheuere Ereignis stellte sich mit riesenhafter Majestät vor den Menschen in seiner Ohnmacht hin. Jedes vereinzelte Leiden, Sehnen, Hoffen und Fühlen der Brust ging unter in dem eiskalten Anhauch eines starren Grausens, das mitten aus dem Glutmeer hervorbrach und sich in das Herz, auch des Kühnsten, ergoß. Die Stunde des Weltgerichts schien angebrochen, das flammende Verhängnis ereilte Völker und Throne; nicht Wälle, nicht Mauern von Erz hätten dem Verderben mehr gewehrt. Wem jetzt das Los gefallen war, den packten die Arme des glühenden Stroms und rissen ihn brausend fort in das Meer der Vernichtung und gruben ihn in Nacht, Staub und Asche!


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