Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Viertes Kapitel.

Plötzlich vernahm man ein dumpfes, donnerndes Krachen und gleich darauf zerriß ein Schrei des Schreckens die Lüfte. Aller Augen wandten sich nach dem Strom, woher der durchdringende Weheruf erscholl, und ein erstarrendes Grausen fesselte Brust und Lippe, als man die Brücke unter ihrer Last und dem Andrang furchtbarer Eisschollen inmitten des Stromes gebrochen und mehrere Joche hinweggerissen sah. Nur von den nächstliegenden erhöhten Punkten des Ufers konnte man dies bemerken; die bei weitem größere Masse aber, die sich auf der Brücke selbst und am tiefern Ufer befand, ahnte nichts von dem Unfall, sondern drängte mit rasender Verblendung vorwärts und trieb die, welche am Rande des Abgrundes standen, gewaltsam in ihren Untergang. Vergebens klammerten sich die Unglücklichen an die Trümmer der Brücke, vergebens riefen sie mit herzzerreißendem Laut das Erbarmen ihrer Brüder an – es gab keine Wahl mehr, gewaltsam wurden selbst die Mitfühlenden zum grausenvollen Morde ihrer Gefährten gedrängt, um im nächsten Augenblick auf dieselbe Weise unerbittlich in den schwarzen Schlund des Stromes gestürzt zu werden. Die Angst erzeugte Verzweiflung und Wut. Die sich verloren Glaubenden wurden zu rasenden Tigern, denn mit gezogenem Schwert stürmten sie rückwärts in die gedrängten Scharen ihrer Brüder hinein, um sich eine Bahn nach dem Ufer zu brechen. So entstand ein empörender Kampf, ein wahnsinniges Morden unter befreundeten Kameraden; die rückwärts wogende Flut des Ge- dränges kämpfte mit der vorwärts strömenden, und dadurch erzeugte sich ein furchtbares Zusammendrängen gegen die Mitte hin. Die scheuen Pferde bäumten sich empor oder suchten in der Angst seitwärts einen Ausweg und stürzten so samt den Wagen an der Seite der Brücke in den Strom hinunter. Angstruf, Wehgeschrei, Gebrüll der Wut, wildes Getümmel und Getöse von allen Seiten!

Nur wenige Minuten dauerten diese Schreckensszenen, die ein furchtbares Nichtwissen, ein unseliger Irrtum erzeugte; doch jede Minute kostete Hunderten das Leben, die schon den Saum der Rettung berührt hatten. Und in die Brust vieler Tausende tauchte das grause Gespenst des Entsetzens seine kalte Hand, und sie empfanden ahnend, welch ein Geschick die düstern Zukunftsschwestern aus ihnen webten.

Während die Brücke wiederhergestellt wurde, trat eine erwartungsvolle Stille ein. Das Unglück, das bereits geschehen war, hätte, so sollte man glauben, die noch übrigen belehren können; auch geschah, was irgend möglich war, um eine bessere Ordnung des Zuges vorzubereiten. Allein jetzt erschwerte die Nacht noch jede Leitung der unübersehbaren Menge, und nur der kleinste Teil konnte wissen oder vermuten, was geschehen war. Jeder wurde gleichsam mit verbundenen Augen seinem Schicksal entgegengeführt, und erst wenn er mitten auf dem strudelnden Strom des Verderbens trieb, wo es keine Flucht, keine Rückkehr mehr gab, wurde ihm die Binde von den Augen gerissen und er stand schaudernd am Rande des Abgrundes.

Die Zahl derer, die zu Opfern bestimmt waren, wuchs überdies von Minute zu Minute an, da immer noch Nachzügler, Verwundete, Entkräftete von allen Seiten herankamen. Plötzlich wurde das dumpfe, schauerliche Ge- murmel, welches man an den Ufern des verderblichen Stromes hörte, wieder durch lauten Kanonendonner unterbrochen. Die Flammen von Borisow schlugen heller auf; von dorther schien sich der glühende Lavastrom des Kampfes lang- sam heranzuwälzen. Während man gespannt auf die rollenden Donner dieses neuen Ungewitters horchte, öffnete sich der Krater noch auf einer andern Seite und verkündete seinen Ausbruch mit lautem Krachen des Geschützes. Dieser zweite Kampf hatte sich offenbar vor Studianka, vielleicht gar auf den Höhen, wo auch Rasinski lagerte, entsponnen, so nahe vernahm man den Klang der Schlacht. Diese Vermutung wuchs, denn man sah Eilboten von mehreren Seiten an den Kaiser kommen, der noch immer mit Majestät und ruhiger Haltung am Ufer weilte und an der Brücke für die Infanterie den Übergang leitete. Andere Boten wurden eilig zurückgesandt; an allem bemerkte man, daß wichtige Vorfälle sich ereignet haben müßten. An der Herstellung der Brücke arbeitete man bereits mit höchster Anstrengung, doch sandte der Kaiser einen Offizier nach dem andern, um die Vollendung zu beschleunigen. Indessen dauerte der Kanonendonner mit kurzen Zwischenräumen immer fort, ohne sich jedoch zu nähern. Die Dunkelheit der Nacht machte eine Schlacht unmöglich, das gegenseitige Feuern schien daher nur den Zweck zu haben, einander fortwährend in Aufmerksamkeit zu halten.

Mitternacht war vorüber. Die übermäßig angespannten Kräfte des Körpers und der Seele hatten die meisten der am Ufer versammelten Unglücklichen in Schlaf gesenkt; doch Hunger und Kälte, vor allem aber ein scharfer Nordostwind, der sich immer gewaltiger erhob und alles erstarrte, was er berührte, trieben sie an, eine andere Zuflucht zu suchen. Sie verbargen sich unter die Wagen, krochen zwischen die Pferde, um ihre verklammenden Glieder an der tierischen Wärme aufzutauen, lagerten sich in dichte Haufen übereinander hin. Plötzlich beleuchtete eine rötlich glühende Fackel das düstere Nachtstück, und ein blutiger Widerschein glänzte auf dem Strome und auf den beschneiten Anhöhen. Als man sich umwandte, sah man das Dorf Studianka in vollen Flammen. Die Unglücklichen von den Uferhöhen, die noch bis dahin zurückkommen konnten, hatten daselbst eine Zuflucht gesucht; doch die Hütten waren überfüllt und die Kälte der rauhen Nacht wuchs mit dem Sturm. Holz fand sich nicht in der Nähe, daher rissen die Verzweifelnden die elenden Häuser über den Häuptern derer zusammen, die sich hineingeflüchtet hatten, und zündeten die Balken, Dielen und Dachsplinte an, um sich daran zu erwärmen. Der Kaiser war höchst erzürnt über diesen Vorfall, der dem Feinde den Übergangspunkt verraten und das Verderben aller herbeiführen konnte. Indessen war die Tat geschehen, und überdies der Drang der Umstände so gewaltig, daß selbst sein mächtiger Wille nichts mehr dagegen vermochte.

Die ganze Nacht hindurch dauerte das Defilieren der geordneten Truppen über die unversehrte Brücke fort; doch wurde auch sie jetzt für die Artillerie benutzt, solange die zweite gesperrt war. Nach ihrer Herstellung hätte man Hoffnung gehabt, den Übergang regelmäßiger bewerkstelligt zu sehen, da teils die Menge am Ufer sich vermindert hatte, teils die bittern Erfahrungen, die man gemacht, zur Lehre dienen konnten. Da aber ereignet sich ein neues Unheil. Unvermutet kommt eine Reihe von Wagen mit Schwerverwundeten, von Frauen und leichter verwundeten Kriegern zu Fuß begleitet, bei dem Heere an. Es sind Jammerbilder, von Frost, Hunger und Schmerzen gequält. Man staunt, man fragt, woher sie kommen? Von Borisow, wo der Feind die Brigade des Generals Parthouneau in dieser Nacht zum größten Teil gefangen genommen hat. Nur einem Teil ist es gelungen, sich zu retten; er zieht sich vor den nachrückenden Russen zurück, und ihm gehen diese Verwundeten und eine unübersehbare Schar waffenloser, halbverhungerter Nachzügler voran, die hier ihre Rettung suchen. Kaum sind diese ersten Erkundigungen eingezogen, so erblickt man auch schon dichte schwarze Scharen, welche die Höhen und die Uferränder bedecken.

Bei dem falben Schein der verglimmenden Hütten von Studianka, bei der Dämmerung des Schnees und der Gestirne erkennt man, daß es viele Tausende sind, die in ungeordneten Zügen herannahen. Kaum gewahren sie gewaffnete Kameraden, von denen sie sich Schutz versprechen, als sie in wilder Hast, als sei der Feind ihnen schon auf den Fersen, heranstürzen und ihre Reihen bedrängen. Bleich, hohlwangig, die Gier des stachelnden Hungers im Blick, vor Angst und Frost schlotternd, mit leisem Gewimmer, nahen diese Unseligen und flehen mit aufgehobenen Händen um Schutz und Nahrung. Von Mitleid bewegt, will man sie anfangs nicht zurückweisen; doch ihre Massen drängen so gewaltsam nach, daß sie die geordneten Reihen der Krieger durchbrechen; und als sie vollends die Brücke erblicken, stürzen sie in besinnungsloser Eile auf diesen Rettungsweg zu und drohen so das Unheil von gestern zu erneuern. In diesem Augenblicke befiehlt der Kaiser, der neue Nachrichten vom Anrücken der Russen erhalten hat, und dem man zugleich meldet, daß die Brücke für die Wagen wiederhergestellt sei, den Übergang der Garden auf beiden Brücken. Er selbst setzt sich zu Pferde, um an der Spitze derselben das jenseitige Ufer zu gewinnen und sie bei Brilowa mit den bereits übergegangenen Truppen in Schlachtordnung aufzustellen, weil leider auch an jenem Ufer der Feind gefürchtet werden muß. Dieser Befehl zum Aufbruch bringt alles in Bewegung; jeder glaubt, jetzt sei der günstigste Augenblick der Rettung auch für ihn, und so stürzen und drängen alle zugleich, zumal aber die neuen vor Schreck halb betäubten Ankömmlinge, auf die schmalen Zugänge der Brücken ein. Dieser Masse ist kein Widerstand zu leisten; die geordneten Reihen der Alten Garden sind durchbrochen, zwischen ihre Artillerie drängen sich fremde Fuhrwerke ein, jede Ordnung ist aufs neue gestört, alles von der entsetzlichsten Verwirrung bedroht. Selbst das Ansehen des Kaisers reicht nicht mehr hin, ihm Bahn zu machen. Nachzügler, Verwundete, Wagen mit Gepäck, Weiber und Kinder stopften den Eingang zu der ersten Brücke, und die Wogen der Menschen drängen so unaufhaltsam nach, daß ohne Gewalt hier kein Durchgang mehr gewonnen werden kann. Die Notwendigkeit erzeugt den schrecklichsten Entschluß. Kavalleriemassen müssen in die Unglücklichen eindringen und sie mit scharfer Waffe zurücktreiben; schaudernd vollbringen sie den Befehl, der sie zwingt, das Blut hilfloser Kameraden zu vergießen und die Körper der Stürzenden mit den Hufen ihrer Rosse zu zermalmen. Ein lautes Angstgeheul, welches selbst den brausenden Nord übertönt, zerreißt die Lüfte, und um den Schrecken aufs höchste zu treiben, erschallt in diesem Augenblick auch schon wieder der feindliche Kanonendonner. Er führt wenigstens den Beweis, daß das unmenschliche Gebot nur von der dringendsten Notwendigkeit ertrotzt werden konnte. Die Bahn ist nun geöffnet; eine Abteilung Kavallerie rückt hinein; dann folgt der Kaiser, umgeben von seinen Offizieren, und ihm schließen sich die Garden an; doch immer neu, je näher und furchtbarer der Donner des Geschützes auf den Höhen hinter ihnen ertönt, drängen die Scharen der Flüchtigen auf die Truppen ein. Nur ihrer geschlossenen, geordneten Gewalt gelingt es, sie zurückzuwerfen, und es müssen Hunderte von Opfern in diesem widernatürlichen Kampfe fallen.

Als die letzten Kolonnen die Brücke erreichen, beginnt es zu dämmern, und nach und nach heben sich die schwarzen Schleier von dem Gemälde, zu zeigen, was sie in ihrer düstern Hülle verbargen. O, die Nacht war mild gewesen, als sie mit ihren Flügeln diese Schrecknisse bedeckte! Der mitleidlose Tag zeigte die entsetzliche Wahrheit! Zerschmetterte Leichname, Trümmer von Wagen und Geschützen, gefallene Rosse, die sich in ihren letzten Zuckungen über noch blutende menschliche Körper hinwälzen, bedecken die steilen Abhänge, die sich neben der Brücke in den Strom senken. Zwischen den gegen die Uferwände getriebenen Eisschollen gewahrt man halbversunkene Unglückliche, die der Tod und die Kälte in dem Augenblick erstarrt hatten, wo sie die Arme noch hilferufend gegen Himmel und Menschen ausstreckten; doch vergeblich, denn beide waren taub für die Qualen der Angst und Verzweiflung. Wandte sich das Auge schaudernd ab von diesen Bildern des Grauens, so floh es noch scheuer zurück, wenn es sich auf die Lebenden am Ufer richtete; denn es erblickte nur eine zahllose Schar bleicher Gespenster, aus deren hohlen, erloschenen Augen die Verzweiflung starrte, die zitternd, weinend, heulend oder fluchend durcheinander irrten und, von eigenen Qualen zerrissen, die des Bruders nicht mehr empfanden. Nur ein wildes, wahnsinniges Drängen nach Rettung aus diesem Elende leitete, wie ein dunkler tierischer Trieb, alle ihre Bewegungen und Schritte. Viele aber vermochten selbst dazu weder Kraft noch Wunsch mehr zu erheben, sondern saßen regungslos wie Leichen auf der eisumpanzerten Erde und blickten starr auf die Stelle, die ihr Grab werden sollte. Nur der Weheruf der Zerschmetterten, der Zermalmten, derer, die in den Strom stürzten und von seinen Eisschollen hinweggerissen wurden, nur die Flüche und das Toben der Ruchlosesten, die sich über die Leichen ihrer Brüder den Rettungsweg bahnten, mischten in dieses gigantische Bild des Todes die letzten wild grausenvollen Zuckungen des Lebens. Doch es sollte sich noch entsetzlicher gestalten. Zwar das menschliche Maß des Jammers und Entsetzens schien erschöpft, doch die waltenden Rachegötter wußten das Unheil aus neugefüllten Urnen in noch furchtbarern Wogen auszuströmen; denn plötzlich brach es wie der Donner des Jüngsten Gerichts über den Häuptern dieser Verdammten krachend herein. Aufgeschreckt aus der dumpfen Betäubung, fuhren selbst die der Hoffnungslosigkeit willenlos Hingegebenen empor. Da sahen sie die Höhen ringsumher von schwarzen Rauchwolken dampfen; die Schlacht tobte über ihren Häuptern. Als ob ein Dämon des blinden Schreckens plötzlich mitten unter die Scharen stürze und sie in besinnungslose Flucht scheuche, wälzten sie sich jetzt, keine Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit der Rettung mehr erwägend, in dichten schwarzen Wogen auf den Strom und seine Brücken zu. Und als bräche sie aus tausend geöffneten Schlünden hervor, wuchs die Flut durch die Ströme der Flüchtenden, die durch die Schlacht gejagt von den Höhen gegen Studianka und Borisow zu herabkamen. Der Augenblick war da, wo das unaufhaltsame Rad der Vernichtung von den eisigen Höhen herabrollte, um, was da atmete, zu zermalmen.

Bianka, von Angst und Qual fast erschöpft, wandte das Haupt langsam nach jenen donnernden und rauchenden Höhen. »Glaubst du, mein Bruder,« fragte sie Bernhard leise, als ob sie bebe, die Antwort zu vernehmen, »glaubst du, daß der edle Rasinski dort im Kampf ist?« – »Es kann nicht anders sein, Liebe«, antwortete Bernhard. – »So nimmt mein Herz Abschied von ihm«, sprach sie mit sanfter Festigkeit und dem Ton innigster Liebe. – »Warum?« fragte Ludwig bestürzt. – »O mein Teuerster,« entgegnete Bianka sanft, »gewiß vertraue ich fromm auf Gott; doch schon unsere Rettung aus diesem alles verschlingenden Strudel zu hoffen scheint mir Vermessenheit, wie vollends auch die seinige aus jenem tobenden Ungewitter der Schlacht. Ich schließe mit der Erde ab; die ich verehrte und die ich liebte – jenseits werde ich sie ja wiedersehen.«

Dieser einbrechende Schmerz der Schwester stachelte in Bernhards Brust seine ganze Kraft auf und ermannte ihn, sie trotzig dem Geschick entgegenzuwerfen. »Sei ruhig, Schwester; du hast noch nie gewürfelt, wo es eins gegen eins stand; ich habe noch so viel Hoffnung auf Gewinn als auf Verlust. Und unser Spiel steht gut, denn wenigstens haben wir hier einen Anker im Schnee geworfen, der uns festhält gegen die Bergströme, die dort hinunterrollen. Einmal müssen sie sich doch verlaufen, und dann wird Raum für uns.« – »Gewiß, du Holdeste,« setzte Ludwig mit männlicher Festigkeit hinzu; »und denke, welche Wunder der Himmel schon an uns getan; sie sind mir Bürge für die Zukunft, ein fester Schild gegen den sausenden Speer der Todesgöttinnen.« – »Ähnlich sprach der segnende Gregor freilich auch,« antwortete Bianka; »doch wer ergründet des Himmels Ratschläge?« – »So würde doch auch unser Untergang unser Heil sein«, entgegnete Ludwig ernst. »Das sei dein Trost!« – »Er ist es, Geliebter,« antwortete sie fromm und erhob das Auge gen Himmel; »darum aber nehme ich auch Abschied von der Erde.«

»Ich nicht,« sprach Bernhard, »und du sollst es auch nicht, Schwester; aus irdischen Bedrängnissen und Gefahren hat uns die Hand des Schicksals auch für irdisches Glück errettet. Ludwig hat recht; wir haben ein Unterpfand; der Himmel ist nicht so verschwenderisch mit Gnaden und Wundern –« – »O frevle nicht,« unterbrach Bianka ihn erschrocken, da er in seinen alten, rauhen Ton verfallen war, indem er sich die schweren Bedrängnisse trotzig wie ein Löwe abschüttelte, dem ein Insektenschwarm um das Haupt schwirrt; »frevle nicht hier, wo der Allmächtige sein furchtbares Gericht hält!«

»Nein, nein, Schwester,« antwortete Bernhard, »du mißverstehst mich; Ludwig weiß wohl, wie ich's meine; er kennt mich länger!« Dieser drückte ihm bewegt die Hand. »Und der Ewige kennt ihn am besten,« sprach er zu Bianka, »und nie hat er ein treueres, redlicheres Herz in einer menschlichen Brust gesehen.« – »Das mag unerörtert bleiben,« warf Bernhard fast leicht hin; »aber laßt uns nicht schwatzend den Augenblick versäumen, wo wir hier in die Speichen des Schicksalsrades packen müssen, damit es uns dort hinüberrolle auf die andere Seite. Willhofen! hast du noch etwas Futter für die Pferde? sie können uns sonst im Augenblicke der Not im Stich lassen.«

»Vor Tagesanbruch habe ich sie in der Stille abgefüttert,« antwortete dieser leise; »denn man darf hier nicht viel zeigen; für eine Fütterung ist noch Vorrat. Aber seht doch einmal dort hinüber, Herr! Das sieht mir ja fast aus, als sollte es uns gelten?« Er deutete bei diesen Worten nach einem Hügel abwärts von den Brücken, von dem man das ganze Tal übersehen konnte, und auf welchem eben eine Batterie auffuhr. »Sollten das Russen sein?« fragte Bernhard, und fast erstarb jetzt auch ihm das Wort auf der Lippe.

Er hatte es kaum vollendet, als es schon aus der ersten Kanone blitzte und nach wenigen Sekunden das dumpfe Krachen des Knalls rings an den Schneehügeln widerbebte. Gleich darauf schlug eine Kugel mit schmetternder Gewalt in den dichtesten Haufen vor der Brücke, daß er entsetzt nach allen Seiten auseinander stob. Man hatte nicht Zeit, sich zu besinnen und diesen neuen Schrecken zu ermessen, denn gleich darauf folgte ein zweiter Schuß und dann eine volle Lage, die fürchterliche Lücken in diese gedrängten Menschenmassen riß.

In der ersten Sekunde hielt das Entsetzen die Unglücklichen in starre Bildsäulen verwandelt, und selbst die Sprache versagte ihnen; daher trat eine bange Totenstille ein, die der Donner der Batterie desto furchtbarer zerriß. Dann aber machte sich die Angst in einer heulenden Wehklage Luft, alles überstürzte sich in blinder, wahnsinniger Flucht, gleichviel wohin, wenn man nur diesen todspeienden Schlünden entkam. Reiter warfen sich in den Strom und suchten ihn trotz der Eisschollen zu durchschwimmen; die meisten wurden nach wenigen Schritten von den brausenden Wellen hinweggerissen. Andere hieben die Stränge angespannter Pferde vor fremden Wagen durch, schwangen sich hinauf und wollten sich so gleichfalls schwimmend retten, ohne der Unglücklichen zu achten, die sie nun ganz hilflos zurückließen. Der Lohn ihrer Tat traf sie nach wenigen Minuten. Die Massen wogten so gewaltsam gegen das Ufer des Stroms hinan, daß sie jetzt nicht allein nach der Brücke, sondern gerade in die Flut drängten. Vergeblich kämpften die Vordern gegen dieses lastende Übergewicht; wie gestern Hunderte an der gebrochenen Brücke hinabgestürzt wurden, so wurden heute Tausende in den freien Strom gedrängt. Mütter mit ihren Säuglingen auf den Armen sah man in den treibenden Eisschollen, und vergeblich tönte ihr Ruf nach Hilfe, nach dem Gatten, dem sie erst in diesem Augenblick von der Seite gerissen waren, den aber vielleicht die Flut schon verschlungen hatte, wenn er nicht unter den Füßen der Nachdrängenden zertreten wurde. Die Woge schwoll ihnen bis an den Gürtel, bis an die Brust; noch immer hielten sie die Kinder über der Flut; da erreichte diese das Haupt, sie wurden fortgetrieben, versanken, aber noch im Sinken hoben die starren Hände das teuerste Leben über den schwarzen Abgrund der Wellen empor, bis der Strom alles verschlang und begrub.


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