Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Zweites Buch.

Erstes Kapitel.

»Nun, liebe Mutter, ist alles in Ordnung«, sprach Marie mit freudeglänzenden Augen und einem stillen Lächeln in dem sanften Angesicht, indem sie ins Zimmer trat und auf den Tisch, an welchem die Mutter saß und nähte, einen Schlüssel legte. »Jetzt mag er in jeder Minute kommen, er findet uns bereit.«

»Du hast doch auch die Bücher in den Schrank eingeräumt?« fragte die Mutter.

»Ich denke, nicht das Kleinste habe ich vergessen,« entgegnete Marie, »und wenn er noch der alte Bruder ist, wenn seine Neigungen sich nicht ganz geändert haben, so wird sein Zimmer ihm gewiß gefallen. Es hat sich alles gar zu glücklich getroffen. Daß wir gleich eine Wohnung fanden, die für uns alle Raum hat und unserer gemeinsamen Neigung so sehr entspricht! Nun aber kann ich auch die Stunde seiner Ankunft kaum noch erwarten, so sehnt sich mein Herz, wieder an seiner treuen redlichen Brust zu schlagen! Doch du, liebe Mutter, bist mir nicht freudig genug! Haft du eine Sorge? Ein Bedenken?«

Mit diesen Worten beugte sich Marie teilnehmend zu der Mutter hinab und legte den Arm schmeichelnd um ihren Nacken. Diese sah der Tochter gerührt in das holde, von der frohen Hoffnung verschönte Antlitz und drückte sie dann bewegt ans Herz. »Keine, Marie, keine als die, welche das Mutterherz immer hat. Wir haben Ludwig nun zwei Jahre nicht gesehen. Er ist weit in der Welt umhergewesen, hat ihre glänzendsten Seiten kennen gelernt. Wird seinem schon damals so stolzen, feurigen Herzen unsere häusliche Beschränkung genügen? Wird er zufrieden auf die Lebensbahn hinblicken, die vor ihm liegt? Wenn du mich nicht so rein freudig siehst, als du selbst dich fühlst, so suche dies nicht in geringerer Liebe, sondern eben in der größern und darum sorglichern. Weil dein junges unerfahrenes Herz keine andere Welt kennt als unsere häuslich engbegrenzte und die wenigen nähern Freunde unsers Umgangs; weil der ganze Kreis deiner Wünsche sich im nächsten Ringe leicht erreichbarer Gegenstände bewegt, ohne eine Hemmung zu empfinden, glaubst du, daß Ludwig sich hier ebenso befriedigt fühlen werde? Es wird vielleicht mit allen Dingen des Lebens so gehen wie mit seinem Zimmer; weil seine Fenster nach der Elbe hinausliegen und sein Schlafzimmer in das kleine Gärtchen unsers Hauses blickt, so meinst du es reizend gelegen. Vergiß aber nicht, daß er in Heidelberg den Neckar unter seinem Fenster vorbeiströmen und das stolze Schloß gegenüber sich darin spiegeln sah, und erinnere dich, daß er aus der Schweiz, aus Italien zurückkehrt. Wie unsere Gegend ihm dürftig, wie die Lage seiner Wohnung ihm leicht beengt erscheinen mag, so dürften noch viel mehr unsere bürgerlichen, häuslichen, ja fast nur weiblichen Lebensverhältnisse und Beziehungen ihm nicht genügen. Und wie vollends, wenn nun ein Blick auf seine künftige wahrscheinliche Laufbahn ihm zeigt, daß er sich stets in diesen Schranken wird bewegen müssen! Glaubst du, daß er dann glücklich sein wird?«

»O gewiß, beste Mutter,« erwiderte Marie; »er hatte von jeher ein so leicht befriedigtes, wohlwollendes Herz, so viel Anhänglichkeit an die stillen Freuden unsers kleinen Kreises, daß er sich auch jetzt gewiß glücklich und heimisch bei uns fühlen wird. Ich denke, gleich der erste Anblick seines Zimmers soll ihm die alte Behaglichkeit wiedergeben. O käme er nur jetzt gleich zurück und sähe, wie die breite prächtige Elbe zwischen die Rosenstöcke vor dem Fenster hindurchschimmert, wie die Abendsonne über den blauen Höhen am andern Ufer steht und ihr freundliches Gold durch das Blumenlaub in das Gemach wirft! Wenn er seine Bücher schön geordnet im neuen Schranke, über dem Sofa das Bild des Vaters erblickt, und gegenüber das ihm so liebe kleine Fortepiano mit den alten wohlbekannten Notenheften darauf wiederfindet, die so oft den Kreis unserer heitersten Stunden ausfüllen halfen, o gewiß, gute Mutter, dann wird er sich gleich heimisch und wohl bei uns fühlen!«

»Du liebe Törin,« sprach die Mutter lächelnd, »du meinst, weil du deine ganze mädchenhafte Freude an dem zierlich und ordentlich eingerichteten Zimmer hast, die Wünsche eines Mannes würden damit auch befriedigt sein? – Du kennst Männer und Welt noch zuwenig, Marie!«

»Aber ich kenne meinen Bruder, ich kenne Ludwig,« entgegnete sie, und eine Träne der schwesterlichen Rührung perlte in ihrem blauen Auge; »ich denke nicht, daß er sich glücklich fühlen wird, weil sein Zimmer freundlich und wohnlich ist, sondern weil er gleich erkennen wird, daß ihn hier die alte Liebe, die alte Herzlichkeit der Mutter und Schwester erwartet!«

Ein Posthorn ließ sich hören. »Er ist es«, rief Marie und eilte ans Fenster. Auch die Mutter schreckte freudig zusammen, doch plötzlich besann sie sich und sprach: »Wie du dich verleiten lässest, Marie! Meinst du denn, er werde wie ein vornehmer Mann mit Extrapostpferden hier eintreffen? Bedenke doch, daß er nur mit den Mitteln eines Studierenden gereist ist. Vielleicht, so pflegt es bisweilen zu gehen,« setzte sie lächelnd hinzu, »kommt er, weil die Barschaft ihm ausgegangen ist, ganz demütig zu Fuße in seiner Vaterstadt wieder an.«

Marie, die indessen ihre Täuschung wahrgenommen hatte, sprach, sich zur Mutter umwendend: »Ich denke mir jede Art seiner Ankunft als möglich. Wenn er ganz schüchtern und leise an die Tür pochte, so würde ich glauben, er verstellte sich, um uns desto mehr zu überraschen. Wenn eine stattliche Karosse vorführe – je nun, warum sollte er nicht drinnen sitzen, warum nicht in Begleitung eines reichen Freundes oder Reisegefährten eintreffen? Wenn die Haustür auf ihren Angeln kreischt, wenn ein männlicher Fuß sich auf der Treppe hören läßt – ich denke immer an Ludwig, hoffe immer, die Tür sich öffnen und ihn eintreten zu sehen. Gott im Himmel, er ist es,« rief sie plötzlich aus, da in der Tat die Tür des Gemachs sich öffnete; und mit dem Rufe: »Bruder, liebster Bruder!« flog sie dem Eintretenden entgegen und hing in der herzlichsten Umarmung an seinem Halse. Sie küßte, weinte, lachte und ließ sich halb zur Mutter hintragen, die zitternd vom Sofa aufzustehen versuchte, aber, von der heftigen Wallung der Freude überwältigt, wieder zurücksank, bis Ludwig ihre beiden Hände ergriff, sie mit heißen Freudentränen küßte und dann in tiefster Bewegung sein Antlitz an der mütterlichen Brust verbarg.

Diese legte die Hände segnend auf sein Haupt, und den Blick gen Himmel gewendet, dankte sie in sprachloser Freude dem Allmächtigen für das Wiedersehen des teuern, einzigen Sohnes. Marie hatte wenigstens die Hand des Bruders nicht losgelassen; sie hielt diese mit sanftem Druck in ihrer Rechten, während sie den linken Arm um die Mutter legte und ihre Wange leise gegen die Schulter derselben neigte, als wolle sie sich doch einen kleinen Teil von dem Strom der mütterlichen Liebe, die sich in diesem Augenblicke ganz auf den Bruder ergoß, zusichern. Es war aber nur, um den Bruder, als er das Antlitz endlich wieder erhob, gleich von neuem zu herzen und zu küssen, und ihm durch tausend schwesterliche Liebkosungen ihre Freude auszudrücken.

Nachdem die ersten Augenblicke, die in der Freude wie im Schmerz etwas Betäubendes, Überwältigendes haben, vorüber waren, kehrte der unbeschreiblich liebe Zustand in die drei Herzen ein, wo man Ruhe genug hat, sein Glück zu fassen und zu überschauen, und doch noch die ganze Frische des ersten Eindrucks empfindet. Dann erst erfreut man sich des Besitzes, genießt die Gaben, mit denen eine gütige Gottheit uns plötzlich reich überschüttet hat. Nun begannen auch jene heitern Spiele unbefangener Herzlichkeit, jene tausend Fragen nach Kleinigkeiten, Erinnerungen; dieses süße erste Ergießen der vollen Herzen, dieses Mitteilen der neuesten liebsten Eindrücke der Seele, durch deren Austausch man sich gewissermaßen erst wieder einlebt und einweiht, und die kleinen Entfremdungen, die Zeit und Ferne in den vertrautesten Gemütern erzeugen, ausgleicht.

Marie strich ihrem Bruder das Haar aus der Stirn und sprach lächelnd, indem sie ihn liebevoll anblickte: »Du bist ganz unverändert, wenn auch deine Stirn etwas männlich gebräunt ist; sie ist doch noch so frei und schön wie ehemals. Und wenn ich nichts von dir gesehen hätte als diese etwa über eine Hecke hervorragen, hinter der du lauschtest, ich würde dich doch augenblicklich erkannt haben!«

Ludwig sah ihr in das treue freundliche Auge, das ihn mit unaussprechlicher Liebe anblickte. Er erwiderte ihr kindliches Spiel, indem er ihr die eine Hand auf die Stirn legte, mit der andern leicht das Gesicht bedeckte, so daß nur die Augen zwischen beiden hindurchblickten. »Und dich,« sprach er jetzt, »hätte ich in dem entferntesten Sizilien erkannt, wenn du so, wie jetzt zwischen meinen beiden Händen, durch die Spalte grüner Jalousien gesehen hättest. Deine lieben blauen Augen würden dich gleich verraten haben. Und doch kommen sie mir noch reiner vor als sonst; ja du bist überhaupt viel schöner geworden!« – »Geh doch,« sprach Marie, indem sie sich seinen Händen sanft entzog, worauf man erst sah, daß ein leichtes Erröten ihre Wangen höher gefärbt hatte, »geh doch! Wir wollen uns lieber ganz frei und heiter anblicken. Und du mußt mir tausend Dinge erzählen. Doch halt: zuvor sage mir, bist du denn in dem Wagen gekommen, der mit vier Postpferden bespannt soeben hier vorbeifuhr?« »Jawohl, Marie,« antwortete Ludwig; »aber ich wollte euch überraschen, drum war ich schon an der Ecke ausgestiegen und schlich, während der Wagen vorüberrasselte, ins Haus, so daß ihr auch nicht einmal die Tür gehen hörtet.«

»Das war herrlich von dir; und wie ist dir's gelungen!« rief Marie. »Aber wie kommst du nur in den schönen Wagen mit vier Pferden?« Die Mutter schien eine ähnliche Frage auf der Zunge gehabt zu haben. Ludwig erwiderte rasch: »Seltsam genug, liebe Mutter, aber recht angenehm. Ich machte schon in der Schweiz die Bekanntschaft einiger polnischer Offiziere. In Leipzig trafen wir uns wieder. Sie drangen darauf, daß ich mit ihnen fahren sollte, und ich nahm das herzliche Anerbieten gern an, doch von deiner Güte, liebe Mutter, werde ich die Erwiderung dieser Höflichkeit erbitten müssen, denn es möchte sich fast nicht vermeiden lassen, daß ich sie einlade, unser Haus zu besuchen.«

»Wenn sie sich in der beschränkten Häuslichkeit zweier Frauen nicht unangenehm fühlen,« erwiderte die Mutter, »so weißt du, daß deine Freunde mir immer willkommen sind.« – »Aber du kennst ja dein Zimmer noch nicht einmal,« rief Marie lebhaft dazwischen; »o das muß ich dir gleich zeigen! Und wo ist denn dein Gepäck?« – »Das können wir nachher aus dem Hotel de Pologne holen lassen, liebe Schwester. Es war mit dem meiner Freunde so verpackt, daß ich es hier nicht so rasch hätte bekommen können; doch jetzt eilt es ja nicht. Zeige mir nun, wie ich wohne.«

»O gewiß recht traulich, und ich denke, ich habe alles so eingerichtet, daß es dir gefallen kann«, sprach Marie, indem sie mit dem Schlüssel in der Hand fröhlich voranhüpfte.

Als Ludwig in das stille freundliche Gemach eintrat, überkam ihn ein unwiderstehliches Gefühl der tiefsten Wehmut. Es liegt im Menschen, seinen Schmerz tiefer zu empfinden, wenn er einen Schein des Glücks um sich her erblickt. Die Liebe der Mutter und der Schwester hatte ihn so herzlich empfangen, und das Gemach, in welches er trat, wo er alles beisammensah, worauf er jemals seine Neigung geworfen, was ihm glückliche Stunden verschafft hatte, war ein neuer Beweis für diese Liebe. Er würde sich noch vor wenigen Wochen so glücklich in diesem Bewußtsein, so heimisch in dieser traulichen Umgebung gefühlt haben – und jetzt empfand er es so schwer und so unleugbar, daß das alles nur den Schein des Glückes bilde. Was ihm bisher genügte, ihn erfreute, sein Herz ganz erfüllte, hatte plötzlich alle Kraft verloren und blickte ihn nur um so trüber an, je teuerer es ihm zuvor gewesen war.

Marie bemerkte in ihrer arglosen Freude nicht, welch einen Kampf er mit sich bestand; sie hielt die Träne, die in seinem Auge glänzte, für eine der freundlichen Rührung, oder glaubte sie lieben alten Erinnerungen gewidmet, die sie selbst jetzt mit erneuter Kraft ergriffen und auch ihr Tränen ins Auge trieben, aber selige, unbeschreiblich beglückende. »Nicht wahr, Ludwig, wir verstehen uns wohl?« fragte sie und blickte ihn lächelnd an. In seinem Innern rief es laut: Nein, nein! Wir verstehen uns nicht! Doch er öffnete die Lippe nicht, sondern zwang sie nur zu einem schmerzlichen Lächeln und ließ der Schwester die Hand, die sie freundlich ergriffen hatte. »Die schönen Rosenstöcke!« sprach er nach einer Pause; »und voller Knospen!«

»Es waren immer deine liebsten Blumen,« entgegnete Marie, erfreut, daß er den Blick gegen das Fenster wandte; »aber hier sind auch Nelken dazwischen. Und bilden sie nicht einen schönen Vordergrund zu der Landschaft dahinter? Schimmert die Elbe nicht silbern zwischen den Blättern hindurch, und die Abendsonne golden, und der Himmel blau oder gar purpurn, wenn ihn die untergehende Sonne rötet?«

»Purpur, Silber und Gold, und azurnes Blau, und smaragdenes Grün der Blätter – es klingt fast zauberhaft, wenigstens recht südlich italienisch. Aber du hast doch recht, Schwester, es ist gar schön hier«, entgegnete Ludwig in gesuchter Wendung, weil ihm die natürliche Erwiderung versagte.

Marie öffnete noch zwei Fensterflügel, um die mildkühle Maienluft das Zimmer recht durchströmen zu lassen. Ludwig trat, indem er den Arm um die Schwester schlang, mit ihr ans Fenster und blickte über den breiten glänzenden Strom dahin. Er blieb still, Marie gleichfalls; doch war ihr Schweigen das selige des vollen Genügens, der schönsten innern Befriedigung, seines aber das der verstummenden Qual. Hätte sie jetzt das Auge zu ihm emporgewandt, so würde sie es in seinen bleichen Zügen, in seinen düstern Blicken gelesen haben, daß seine Seele in schweren Kämpfen verschlossen ringe und dulde.

»Sprich mir von der Mutter, Marie,« begann er nach einigen stummen Minuten; »sie sieht ein wenig bleich aus, kränkelt sie bedenklich? Leidet sie wirklich an der Brust?« – »Der Arzt gibt uns ja die beste Hoffnung«, entgegnete Marie zutrauensvoll. – »Und wie lebt ihr sonst in dieser unruhigen Zeit? Ist die Mutter besorgt, bist du es?«

»Nun du hier bist, fühle ich mich auch wieder ganz ruhig und geborgen«, erwiderte Marie und schmiegte sich sanft an den Bruder. »Bisher hat das rauhe Kriegsgetümmel, hat sogar die glanzvolle Pracht, die sich jetzt hier entfaltet, mich fast beängstigt. Morgen, sagt man, kommt der Kaiser Napoleon. Viele Fürsten sind schon versammelt, um ihn zu erwarten. Was muß dieser Mann doch für eine Gewalt über die Menschen üben! Wie vermag er es nur, sie zu den furchtbarsten Opfern und Anstrengungen zu bewegen, da fast alle sie doch gewiß mit den widerstrebendsten Herzen bringen. Nur unser König nicht, der ihm in unseliger Verblendung anhängt, der–«

»Sprich nicht weiter, Marie«, unterbrach Ludwig die Schwester ernst. »Verurteile nicht, wo es dem Besonnensten schwer fällt, zu urteilen. Weißt du, was ein Fürst abzuwägen hat? Und begreifst du die unwiderstehliche Kraft, die eine überwiegende Geistesgröße ausübt? Hier verwickeln sich Pflichten und Empfindungen oft so, daß es dem schärfsten Verstande nicht gelingt, sie klar zu scheiden.«

»Wie,« sprach Marie betroffen, »wärest auch du ein Anhänger des Mannes, der unser Vaterland in ein so namenloses Elend gestürzt hat und noch täglich tiefer darein versenkt?«

»Liebe Schwester,« antwortete Ludwig, »du sprichst wie ein Mädchen; aber freilich auch wie viele Männer, die nur das Nächste sehen, nicht die Ketten der Ursachen und Folgen überschauen, welche Deutschlands unseligen Zustand herbeigeführt haben; die nicht mehr urteilen können, weil sie Partei in dem Streit genommen haben. Hältst du mich für einen Feind des Vaterlandes? Wie aber, wenn ein echtes, aufrichtiges, nicht aber ein geheucheltes Anschließen an Frankreich allein das Vaterland retten könnte? Doch laß das; das sind düstere Fragen, die uns ja jetzo eben nicht kümmern, die der weiblichen Brust fernliegen, die uns die ersten Stunden des Wiedersehens nicht verkümmern sollen.« Marie schwieg und senkte den Blick unruhig auf den Boden.

»Sieh mir ins Angesicht,« fuhr Ludwig fort, »ich bin redlich und treu wie immer, bin dein Bruder wie sonst; du darfst mich von Herzen lieben, denn ich habe nichts getan, was meiner unwürdig wäre. Und ob ich das Beste meines Vaterlandes will? Marie, dürftest du daran zweifeln, selbst wenn ich es auf anderm Wege wollte als du, als so viele, die gleich dir denken?«

»O, du bist gewiß gut von ganzem Herzen!« rief Marie; »aber darum würde mich's eben tief bekümmern, wenn wir hier verschieden fühlten und dächten.« – »Wir werden uns schon verstehen und einigen,« erwiderte Ludwig; »laß uns aber jetzt zur Mutter hinüber.« – Sie gingen.

Da Ludwig mit männlicher Gewalt seiner Stimmung Herr wurde und in dem Faden seiner Erzählungen, die er absichtlich ausführlich und systematisch einrichtete, einen Anhalt fand, der ihn verhinderte, sich seinen trüben, geheimen Empfindungen zu überlassen, so verfloß der Abend unter traulichen Gesprächen, verschönt durch die liebevollen häuslichen und schwesterlichen Aufmerksamkeiten Mariens, die alles aufbot, damit es dem Bruder recht wohl im mütterlichen Hause sei, damit er nichts vermissen, und, so dachte sie nach dem Gespräch in seinem Zimmer ganz heimlich, ohne sich es selbst zu gestehen, damit er ganz der Ihrige werden sollte. Denn, ohne es zu berechnen, fühlte sie doch, wie unzerreißbar der Mensch von den kleinen, feinen Fäden des täglichen Lebens und der nächsten Verhältnisse umsponnen wird und wie er, durch diese gehalten, oft einer einzelnen mächtigen Gewalt widersteht, oder leichter eine starke Fessel sprengt, als sich jenen tausend fast unsichtbaren Geweben entwindet.


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