Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Zehntes Kapitel.

Eine Stunde, eine zweite verging; sie harrten vergeblich darauf, daß man sie zum Verhör führen solle. Die Kälte in dem dumpfen Gewölbe schien mit jedem Augenblicke zuzunehmen. Rings waren die Wände mit feinen Eiskristallen bedeckt, und der Boden lag sogar hier und da voll Schnee, wie ihn der Wind in die Fensteröffnung getrieben hatte. Eben erhob er sich draußen aufs neue wieder und heulte schauerlich durch das Gewölbe. Die Müdigkeit zwang die Gefangenen, sich auf dem eiskalten Steinboden zu lagern; doch die Kälte trieb sie bald wieder auf. Nur in der Abwechslung zwischen Gehen und Liegen fanden sie die Möglichkeit, sich vor dem Erstarren zu schützen. Hände und Füße waren ihnen schon verklammt. Es fing an zu dunkeln; der Tag mußte sich neigen. Ludwig wurde von Minute zu Minute unruhiger; Bernhard pfiff sich Grimm und Sorgen weg. »Ich fürchte,« begann endlich Ludwig, »Rasinski weiß nicht, was aus uns geworden ist. Sonst müßten wir schon Nachricht von ihm haben.«

»Die Zeit wird einem lang im Vogelbauer! Wir sind erst ein paar Stunden hier. Wer weiß, was für langweilige Prozeduren nötig sind, ehe er bis zu uns dringen kann. Wär' ich ein Vögelein!« Ludwig schwieg; der Schmerz preßte ihm die Brust zusammen.

»Mir fällt etwas ein«, rief Bernhard plötzlich. »Als die von dem Direktorium zur Deportation in die Wüsten Guianas verdammten Terroristen nach Amerika übergeführt wurden – ich glaube auch Collot d'Herbois, der schlechte Schauspieler, der aber doch die Rolle des Tyrannen leidlich durchgeführt hat –, gab man ihnen, um sie an die schmalen Bissen in der verpesteten Wüste zu gewöhnen, nur schmale Schiffskost. Da fingen die Kerle an, sich aufs Brüllen zu legen, und schrien, bis ihnen die Kehlen vertrockneten: «Mich hungert!» Endlich wurde es der Kapitän überdrüssig und befahl: «Gebt den Hunden zu fressen, damit sie aufhören zu heulen.» So könnten wir's hier auch machen und an die Tür dort donnern, bis sich jemand um uns bekümmerte.« Dabei tat er einen wilden Fußstoß gegen die verschlossene Pforte, daß der Schall dumpf in dem Gewölbe widerhallte. Doch er sank halb taumelnd zurück, so daß Ludwig hinzuspringen mußte, um ihn am Fallen zu hindern. »Verflucht!« rief er, indem er die Zähne zusammenbiß. »Ich dachte nicht an den verteufelten Schmerz in den erstarrten Füßen. Das war eine Empfindung, als ob ich zwischen Hammer und Amboß geraten wäre. Es geschieht mir schon recht. Geduld, Geduld! empfiehlt die Lehre der Liebe, und ich wollte ingrimmig toben gegen mein Schicksal. Du mußt mich schon ein wenig stützen, Bester, denn der Schmerz ist mir bis in das Rückenmark gefahren!« Er lehnte sich mit dem Arme auf Ludwigs Schulter und zog den schmerzenden Fuß krampfhaft an sich.

Da klirrten die Riegel der äußern Pforte und man kam die Stufen hinab. »Nun, geholfen hat es wenigstens!« rief Bernhard; »so soll es mich auch nicht gereuen.« Erwartungsvoll hielten beide ihre Blicke auf die Tür gespannt, die, so hofften sie, sich ihnen zur Freiheit öffnen werde. Der Sergeant trat mit seinen Leuten ein. »Ich habe Befehl, euch zum Verhör abzuführen,« sprach er ernst; »folgt mir.«

Von den Soldaten begleitet, verließen sie den Kerker. Sie wurden über den Hof geführt. »Habt ihr meine Bitte erfüllt?« fragte Ludwig den Sergeanten halblaut. Doch dieser deutete ihm durch ein stummes Zeichen an, daß er schweigen müsse. Jetzt fing Ludwig an zu fürchten, daß seine gerechte Sache doch einen bösen Ausgang nehmen werde. Rasinski konnte nicht benachrichtigt sein, sonst würde er schon Schritte zu ihrer Befreiung getan haben. Der Kaiser war in der Stadt; ohne allen Zweifel wäre er diesen selbst angegangen. Mit diesen Gedanken beschäftigt, folgte Ludwig mechanisch seinem vorangehenden Führer die Treppe im Vorderhause hinauf, wo man ihn und Bernhard in ein großes, gewölbtes Zimmer führte. Auf einem Tische am Ende desselben brannte Licht. Im ersten Augenblick verloren die Eintretenden fast die Besinnung, denn das Zimmer war sehr stark geheizt, und da sie selbst dem Erstarren nahe waren, wirkte die plötzliche Hitze so heftig auf sie. Der Sergeant bemerkte es; er hieß sie, sich auf eine Bank setzen, die in die Wand eingelassen war, und dort bleiben, bis er zurückkehre. Die drei Mann ließ er zur Wache bei ihnen und trat in ein Nebenzimmer.

»Habt ihr nicht einen Bissen Brot, Kameraden?« fragte Bernhard; »wir sinken fast um vor Hunger. Ich will es euch gut bezahlen!« Nach einigem Zögern langte einer der Leute ein Stück schwarzen Brotes aus der Tasche, brach es durch und reichte Bernhard die Hälfte. »Nehmt! aber mehr kann ich euch nicht geben. Dies ist alles, was ich besitze, und wer weiß, ob wir morgen noch etwas geliefert erhalten.« Bernhard wollte ihm ein Goldstück geben. »Ich bin unterm Gewehr,« antwortete der Soldat; »ich darf kein Geld nehmen. Behaltet!« In diesem Augenblick trat der Sergeant wieder ein. Er sah Bernhard, der eben das Brot mit Ludwig teilte, an und fragte: »Von wem habt ihr das Brot?« – »Von mir«, sprach der Soldat fest und trat mit angezogenem Gewehr vor. – »Du bist brav, Cottin, aber du hast unrecht getan. Ich will nichts gesehen haben. Du bleibst als Schildwache draußen vor der Tür stehen; ihr andern tretet ab und geht in die Wachtstube hinunter.« Die Soldaten verließen das Zimmer.

»Ich habe euern Auftrag nicht erfüllen können,« redete der Sergeant jetzt Ludwig an; »denn der Graf Rasinski ist mit seinen polnischen Lanciers befehligt worden, sogleich zum Korps des Marschalls Ney zu stoßen. Er war schon seit zwei Stunden fort, als ich ihn aufsuchte.« Diese Nachricht traf beide wie ein lähmender Schlag. Ludwig erblaßte und sah Bernhard an; selbst dieser hatte die Fassung verloren. Indem schellte es im andern Zimmer. »Ich muß euch hineinführen,« sprach der Sergeant zu Ludwig; »ihr sollt zuerst vernommen werden.«

»Bernhard!« wandte sich dieser zu dem Freunde; »du kannst dich retten; versprich mir, daß du es willst. Werde ich hier ein Opfer der Rache eines Elenden, so bedenke, daß du der Bruder meiner Schwester sein mußt. Ich sterbe ruhig, wenn ich dich gerettet weiß.« – »Kopf über Wasser, Freund!« entgegnete Bernhard, ohne die von Ludwig dargereichte Rechte zu fassen. »Wer will dich verurteilen? Gib ihnen nicht eine Silbe zu.« – »Ich werde die Wahrheit, die volle Wahrheit sprechen,« rief Ludwig fest; »diesen Unwürdigen gegenüber bin ich zu stolz auch zu der kleinsten Lüge. Aber versprich mir –«

»So antworte gar nicht; fordere den Beweis ihrer richterlichen Gewalt.« – »Versprich mir«, unterbrach ihn Ludwig dringend. – »Fort, fort,« rief der Sergeant; »wir dürfen nicht säumen.«

»O, Bernhard!« rief Ludwig schmerzlich, denn er verstand ihn wohl. »O Bernhard! – Nun wohl denn! Mein Leiden hat das höchste Maß erreicht; es ist nichts mehr zu verlieren als Ehre und Männlichkeit, und die soll mir kein Verhängnis rauben.« Mit diesen Worten schritt er, sich rasch und entschlossen losreißend, mit wiedergewonnener voller Kraft durch den Saal.

Bernhard blieb allein. Er hielt das noch unverzehrte Stück Brot in der Hand. »Ärger verdirbt den Appetit«, murmelte er vor sich hin. »Man kann aber noch durch schärfere Säuren geätzt werden; es gibt Dinge, die den Heißhunger verjagen; sie müssen aber bitterer sein als Galle!– Mich hungert jetzt nicht mehr. Aber ich will dich doch verschlucken, hartes Brot des Mitleids! Der Magen könnte am Ende unser Herr werden; aber jetzt müssen es Kopf und Herz sein. Ich bin nicht schläfrig; aber ich will auch schlafen auf dieser Bank, daß nicht Todesmattigkeit mir die Glieder bricht, wo sie fest sein müssen wie Eisen.« So streckte er sich auf die Bank hin, um zu schlafen. Doch hatte er seinem Wollen zuviel zugemutet. Denn schwerer als die Last der Ermattung lag die der Sorgen auf seiner Seele. Zu seinem Glück dauerte die Prüfung nicht lange, denn nach kaum einer Viertelstunde erschien der Sergeant, um auch ihn abzuholen. »Was ist mit meinem Freunde geschehen?« fragte er hastig. – »Ich weiß nicht«, lautete die Antwort, und in der Miene des strengen Soldaten war es zu lesen, daß er nichts geantwortet haben würde, wenn er es auch gewußt hätte.

Mit trotzigem Antlitz trat Bernhard ein. An einem langen Tische saßen St.-Luces und Beaucaire; zwei jüngere Leute waren ihnen gegenüber eifrig mit Schreiben beschäftigt. »Wir sollten uns kennen?« fragte St.-Luces, indem er Bernhard scharf ansah. – »Möglich,« erwiderte dieser; »ich wüßte aber nicht, wie ich zu der Ehre käme.« Der verächtliche Ton, mit dem er die Worte sprach, gab ihnen den umgekehrten Sinn.

»Sollte ich vielleicht so glücklich sein?« fragte Beaucaire mit höhnischem Lächeln. – »Ja, mein Herr! Ich habe euch in Pillnitz und in Dresden gesehen; vielleicht auch schon früher irgendwo, denn ihr habt so gewisse physiognomische Kennzeichen, die einem lange im Gedächtnis bleiben.« – »So? Sehr erfreulich! Vielleicht ist euch auch dieses Gesicht nicht ganz unbekannt«, entgegnete Beaucaire und drehte ein Blatt, das vor ihm lag, um. Es war Biankas Bild, das man in Ludwigs Brieftasche, die ihm abgenommen worden war, gefunden hatte. »Ich habe es gezeichnet«, sprach Bernhard trocken. – »Ich glaube mich dessen recht wohl zu erinnern,« entgegnete Beaucaire; »es wird zu London im Theater gewesen sein.«

Diese Worte fielen wie ein leuchtender Blitzstrahl in Bernhards Brust; er blickte Beaucaire scharf an, und plötzlich hellte sich das Dunkel seiner Erinnerungen auf. Er hatte diesen widerwärtigen Menschen in derselben Loge mit Bianka sitzen sehen. Alle Gefühle und dunkeln Ahnungen seiner Brust wurden plötzlich aufgestört durch die nahe Möglichkeit, etwas Näheres von dem Wesen zu erfahren, das eine so rätselhafte Macht auf sein und Ludwigs Schicksal ausübte. Er vergaß das Verhältnis, in dem er jetzt vor Beaucaire stand, und rief hastig: »Wer ist diese Dame? Sie müssen sie kennen, denn Sie waren in ihrer Nähe! – Ich hätte noch andere Fragen wegen dieses Abends zu tun, jedoch nicht an Sie«, fuhr er stolzer fort, indem er sich des versäumten Duells erinnerte.

Beaucaire lächelte teuflisch. »Sie gestehen, Herr von St.-Luces,« wandte er sich zu diesem, »daß wir mit feinen Leuten zu tun haben. Der Herr spielt die Rolle des Unwissenden mit großer Wahrheit!« – »Mein Herr!« fuhr Bernhard auf. – »Ihr schweigt!« erwiderte Beaucaire, indem er plötzlich den Ton eines Befehlenden annahm. »Meint ihr, wenn es uns nicht zu andern Zwecken dienlich erschienen wäre, wir würden einem Verbrecher wie ihr diesen verwegenen Ton nur einen Augenblick gestatten?«

Bernhards Auge rollte wild; nicht der freche Befehl Beaucaires, sondern der überwallende Zorn raubte ihm für den Augenblick die Sprache. Er warf den Blick im Zimmer umher, ob er nirgends eine Waffe entdecken könne; glücklich für ihn, daß sein Auge auf keinen Gegenstand dieser Art stieß, denn er würde sofort den höhnenden Schurken Beaucaire damit zu Boden gestreckt und sein eigenes Leben dafür eingebüßt haben. Dieser nahm sein Verstummen für Furcht und fuhr fort: »Jetzt gebt Antwort auf die Fragen, die ich euch vorlegen werde. Wie seid ihr zum Dienst bei der Armee gekommen?«

Bernhards erster Grimm hatte sich gelegt; er fühlte, daß er sich verachtend über den Unwürdigen zu erheben habe. Dies vermochte er nicht besser, als wenn er jetzt jenes starre Schweigen beobachtete, das ihm zuvor auferlegt werden sollte.

»Hörtet ihr meine Frage nicht? Wie seid ihr zur Armee gekommen?« Bernhard nahm einen unweit stehenden Sessel, rückte ihn sich heran, setzte sich ohne weiteres darauf und fing an, als sei er ganz allein im Zimmer, einen Kontertanz zu pfeifen. Beaucaire erblaßte vor Grimm. »Sergeant,« rief er nach einigen Augenblicken, »führt den Verhafteten in sein Gefängnis zurück.« Pünktlich im Gehorsam, trat dieser auf Bernhard zu und sagte ihm, nicht ohne den Ausdruck einer gewissen Ehrfurcht, die dessen keckes Benehmen ihm abdrang: »Ich ersuche euch, mir zu folgen!« – »Sehr gern, mein braver Kamerad«, antwortete Bernhard und ging mit ihm hinaus, ohne durch einen Gruß oder sonst irgendein Zeichen zu verraten, daß er von der Anwesenheit der übrigen im Zimmer auch nur die mindeste Kenntnis nähme.

Beaucaire befahl den beiden Schreibern, abzutreten; sie gingen; er blieb mit St.-Luces allein. »Ein verwünschter Prozeß!« rief dieser, indem er aufstand; »ich sehe nicht ein, wie wir bei diesen hartnäckigen Deutschen auch nur den Schein eines Protokolls zustande bringen wollen, worauf sie verurteilt werden könnten. Ihre Leidenschaft, Beaucaire, hat uns in ein Labyrinth der unangenehmsten Verhältnisse gestürzt!«

»Ich getraue mich, den Ausgang daraus zu finden«, entgegnete dieser kalt und nicht ohne einen gewissen Hohn der Überlegenheit seines Verstandes. »Wir haben Zeugen, daß der Gefangene dies Bild als von seiner Hand gezeichnet anerkennt. Dieser Umstand, der mir selbst die evidenteste Überzeugung gibt, daß beide Angeklagte in einer genauen Verbindung mit Dolgorow gestanden haben, wird zu einem Berichte hinreichen, der auch den Generalintendanten überzeugt. Wie? Dem einen sollte das abenteuerliche Märchen von der Art und Weise, wie er den Grafen über die Grenze führte, geglaubt werden? Man sollte seiner Versicherung trauen, daß er denselben zuvor durchaus nicht gekannt und seitdem nicht wiedergesehen habe, wenn er das Bildnis der Tochter bei sich trägt? Und der andere, der mich in Dresden irreleiten wollte, ist geständlich, das Bildnis gezeichnet zu haben? Und dennoch sollten beide so ganz ohne Verbindungen mit dieser russischen Familie sein? Wenn der trotzige Bursche sich nicht schuldig fühlte, weshalb entfloh er denn mit jenem zugleich aus Dresden? Weshalb treffen wir sie beide hier beisammen? Wenn ich daraus nicht einen Bericht zusammenstellen sollte, der bis zur Evidenz dartut, wie eine höchst vertraute, fortgesetzte, vielleicht noch in diesem Augenblicke genährte Verbindung beider mit Dolgorow stattfinden muß, so will ich mich für zu dumm zum Landpfarrer erklären lassen. Sie und ich selbst, die wir in der Stille für uns doch die gegründetsten Ursachen haben müssen, an die mögliche Unschuld beider zu glauben, müssen jetzt anderer Meinung werden; welcher dritte vermöchte es, auch nur mit einigem Schein eine entgegengesetzte Ansicht zu verteidigen? Lassen Sie uns zwei Stunden, und ich bürge Ihnen für die Zustimmung des Generalintendanten.«

»Führen Sie die Sache nur nicht zu weit,« antwortete St.-Luces ein wenig bitter; »von noch fortdauernden Verbindungen wollen wir wenigstens nichts erwähnen. Wer zu viel beweisen will, beweist am Ende nichts.«

»Herr von St.-Luces,« entgegnete Beaucaire empfindlich, »das lassen Sie meine Sache sein. Der Umstand, daß wir die beiden Leute gerade hier treffen, hier in Smolensk, in dessen Nähe ein Teil der Güter Dolgorows liegt, darf doch wohl nicht unerwähnt bleiben.« – »Sie haben mir selbst gesagt,« antwortete St.-Luces, »daß Sie nie auf diesen Gütern gewesen sind, sogar die Namen derselben nicht genau kennen –« – »Es ist wahr,« unterbrach ihn Beaucaire kalt; »aber meine Unkenntnis in dieser Hinsicht wird sich genügend dadurch rechtfertigen, daß ich erst in London in die Dienste Dolgorows trat, also seine heimatlichen Verhältnisse, da ich ihn nur auf Reisen begleitete, am wenigsten kennen lernen konnte. Auch war ich niemals sein Sekretär in Beziehung auf seine Familien- und Vermögensangelegenheiten, weil er diese selbst besorgte. Je unbestimmter meine Kenntnis in dieser Hinsicht ist, je größer wird das Feld der Mutmaßungen. Wüßte ich genau, wo und wie weit von hier Dolgorows Schloß liegt, so dürfte ich nicht darauf hindeuten, daß es ganz in der Nähe gelegen sein kann, daß uns von dort aus möglicherweise Verrat und Überfall durch Einverständnis mit Russen in der Stadt bedrohen kann.«

St.-Luces ging verdrießlich und unruhig auf und nieder. »Ich weiß nicht,« erwiderte er nach einigen Minuten, »was mich in der Sache so anwidert. Ist es eine fatale Ähnlichkeit dieses Herrn von Rosen mit jemand, den ich gekannt habe und an den ich mich ungern erinnere, oder hält mich sonst etwas zurück. Ich fürchte aber einmal einen übeln Ausgang.« Beaucaire lächelte. »Ich stehe für den besten. Der Graf Rasinski kann uns nicht mehr schädlich werden; er ist fort – und ich glaube, wir werden nicht viel von ihm und seinem Regimente wiedersehen.«

»Der Kaiser schätzt ihn! Wenn er klagte–«

»So könnte er dadurch die Gunst des Kaisers verlieren. Oder halten Sie es für eine Empfehlung, daß die beiden Verdächtigen in seinem Regimente dienen? Und bedenken Sie, wie erzürnt der Kaiser auf uns und unsere Kollegen ist, weil er die Magazine nicht so findet, wie er sie erwartete. Ich höre, einen Magazinaufseher in der Oberstadt hat er gestern erschießen lassen wollen. Findet er Zeit, unsere Rechnungen und Bestände genau zu prüfen, so wissen Sie, daß –« St.-Luces biß sich auf die Lippen. »Was kann uns also erwünschter sein, als ihn durch einen Beweis unsers Eifers günstig für uns zu stimmen? – Die Gelegenheit dazu ist gar nicht schicklicher zu treffen, denn der Argwohn des Kaisers gegen die fremden Bundesgenossen wächst mit jedem Tage, und seit den letzten Ereignissen in Paris ist er vollends mißtrauisch geworden. Unsere beiden Gefangenen sind Freunde, sind, was noch mehr ist, Deutsche, und dienen wahrscheinlich unter fremden Namen und auf alle Weise verkappt in einem polnischen Regimente. Das allein ist hinreichend, sie verdächtig zu machen.«

»Nun denn,« rief St.-Luces, »tun Sie, was Sie wollen; aber ich wälze die Folgen ganz auf Sie.« – »Auch in betreff der angenehmen Folgen für uns?« fragte Beaucaire betonend. – »Wahrhaftig auch in dieser Hinsicht, Herr von Beaucaire,« erwiderte St.-Luces stolz, »wenn ich in dieser Sache meinen Namen nicht mit hergeben müßte.«

»Ich war nicht der, der sie einleitete«, sprach Beaucaire kalt: »Sie genehmigen also, daß ich den Bericht für den Generalintendanten aufsetze und ihn ihm zur Vorlegung an den Kaiser einhändige?« – »Tun Sie, was Sie wollen!« – »Und Sie werden ihn mitunterzeichnen?«

»Da ich's nicht vermeiden kann, ja.« – »Sehr wohl.« Mit diesen Worten verbeugte sich Beaucaire und ging.

Bernhard wurde von dem Sergeanten und dem vor der Tür stehenden Soldaten, der ihm das Brot gegeben hatte, nach dem Gefängnis zurückgeführt. Alle drei schwiegen. Als die Tür des Gewölbes sich öffnete und der matte Schimmer der Laterne hineinfiel, sah sich Bernhard vergeblich nach Ludwig um. »Wo ist mein Freund, lieber Kamerad?« sprach er zu dem Sergeanten. – »Ich habe ihn drüben auf dem andern Flügel allein einschließen müssen.« – »Ist sein Gefängnis auch so wohl, so menschlich eingerichtet wie dieses?« fragte Bernhard weiter mit bitterm Tone, dem sich jedoch der Ausdruck eines tiefen Schmerzes beimischte.

»Es ist wahr,« begann der Soldat, der sie begleitete, »dies ist ein Loch für einen Hund zu schlimm, geschweige für einen Menschen.« – »Du unterfängst dich, unter dem Gewehr zu sprechen, Cottin?« wandte sich der Sergeant streng um. – »Vergebt, mein Sergeant,« erwiderte dieser; »ich weiß, ich tue unrecht. Aber Gottes Gebot ist auch ein Gesetz, und das heißt mich reden. Ich bin aus dem Elsaß, ich spreche deutsch; ich habe gehört, daß die beiden armen Teufel Deutsche sind. Einen Landsmann, und wäre es nur ein halber, darf man nicht ganz im Stich lassen.«

»Ich habe dir's oft gesagt, du bist ein guter Kerl, doch du hast keinen Dienst.« – »Aber ich habe recht, mein Sergeant.« – »Ich will's nicht leugnen. Allein was sollen wir machen?« – »Freund,« begann Bernhard, »tut euere Pflicht. Es wäre mir leid, wenn ihr meinethalben bestraft werden solltet. Zwar werde ich in diesem Kerker schwerlich die Nacht überdauern, und wenn ich morgen freigesprochen werde, wird es zu spät sein – aber tut nur, was ihr müßt; doch wenn ihr könnt, so seid barmherzig gegen meinen Freund, der ebenso unschuldig ist als ich.«

Der Sergeant schien sich zu bedenken. »Wir müssen Rat schaffen!« sprach er plötzlich entschlossen. »Ich kann euch auch nicht in dem Gewölbe hier lassen, denn die Kälte ist zu streng und steigt mit jeder Minute. Zum Mörder sollen sie mich doch nicht machen, zumal diese Ritter von der Feder, die niemals Pulver riechen und nicht wissen, was der Soldat alles aushalten muß, während sie in ihren warmen Pelzen und bei den vollen Magazinen sitzen! – Mögt ihr verbrochen haben, was ihr wollt, euch ohne Urteil und Recht hier erfrieren und verhungern zu lassen, das habt ihr nicht verdient. Ihr habt das Ansehen eines braven Kerls, und ich muß euch sagen, es hat mich gefreut, daß ihr euch oben so stolz benahmt. Das ziemt dem Soldaten. Drum will ich etwas für euch wagen. Aber ihr müßt mir euer Wort als Kamerad geben, daß ihr mir gehorcht.« – »Wenn ich's nicht erfüllen kann, so sage ich's euch zuvor und lasse mich hierher zurückbringen«, antwortete Bernhard fest. – »So kommt mit auf die Wachtstube. Doch ihr dürft mit niemand auch nur ein einziges Wort sprechen!« – »Ich werde schweigen wie diese Mauern. Aber mein Freund?«

– »Auch er soll, aber unter derselben Bedingung, die Nacht mit uns zubringen.«

– »Meine Hand hierauf in seinem Namen.« – »So kommt!«

Bernhard faßte unwillkürlich beide Hände des Sergeanten, schüttelte sie mit warmer Heftigkeit, sah ihm ins Gesicht und rief: »Wahrhaftig, ich bin euch Dank schuldig und mehr als mein Leben! – Und euch auch, wackerer Kamerad und Landsmann«, setzte er hinzu und wandte sich zu dem redlichen Cottin. »Ja, es ist ein edler Stand, der des Kriegers. Ich ergriff ihn nur mit innerstem Widerwillen; aber ich habe ihn achten, verehren gelernt. Er erhebt über die niederträchtigen Lumpereien des Lebens und adelt so die Gesinnungen des Geringsten. Unter großen Geschicken wird der Mensch selbst groß. O ihr wißt nicht, wie elend die dort oben sind, die sich so hoch über euch zu stehen dünken! Wahrlich, es tut mir weh, daß dieses verächtliche Gesindel solchen Männern Befehle geben, sie zur Verantwortung ziehen darf.«

Er konnte sich nicht bezwingen; er mußte die beiden Wackern an sein Herz drücken. »Gut, gut, Kamerad,« rief endlich der Sergeant fast unwillig, da er merkte, daß er seine ganze dienstliche Haltung verloren hatte; »nun macht nur fort.« – »Erst sagt mir, wie ihr heißt,« fragte Bernhard dringend; »denn ich möchte den Namen eines Ehrenmannes auch gern jenseits mit hinübernehmen.« –»Ich heiße Ferrand,« antwortete der Sergeant, »wenn ihr's durchaus wissen wollt. Doch laßt uns jetzt eilen.«

»Ich werde euerer ohne Schreibtafel gedenken«, beteuerte Bernhard und nahm nochmals seine Hand. Ferrand drängte vorwärts; sie gingen. In Bernhards Seele kehrte jetzt ein Strahl der Hoffnung zurück. Er hatte sie wirklich schon aufgegeben und war gefaßt auf das Äußerste. Doch dieses günstige Zeichen hielt er für eine gute Vorbedeutung; dem einen, fürchterlichsten Tode war er doch wenigstens entronnen, und noch konnte er sich nicht überreden, daß der Himmel ihn nur deshalb so vielfach in der dringendsten Gefahr beschützt habe, um ihn durch übermütige Willkür zugrunde gehen zu lassen.

So trat er in die unter dem Tore gelegene, finstere Wachtstube; zu andern Zeiten würde sie ihm als ein düsterer Kerker erschienen sein, jetzt gewann sie die Gestalt eines freundlichen, behaglichen Aufenthalts für ihn. »Hier, setzt oder legt euch auf die Bank dort in jener Ecke,« sprach der Sergeant; »aber haltet euer Wort, sprecht mit niemand und verlaßt die Stelle nicht.«

»Ihr sollt mich als einen feigen Schurken mit Füßen zertreten, wenn ich euch nicht so gehorche, als wäre ich mit Ketten angeschlossen. Und könnte ich mich mit einem Schritt, mit einem Wort retten, ich wollte starr und stumm bleiben wie die Gräber draußen im Eis und Schnee.« Mit diesen Worten setzte er sich und hüllte sich, da der Frost ihn noch durchschauerte, dicht in den Mantel ein.

Ferrand ging und kehrte nach einigen Minuten mit Ludwig zurück. Dieser trat mit einem Zug wehmütiger Freude um die Lippen ein und sein Auge suchte den Freund. Freudig winkte Bernhard ihm zu, legte aber den Finger auf den Mund. Ludwig gab ein Zeichen, daß er den Wink verstehe, und nahm in einer andern, ihm angewiesenen Ecke Platz. Der Sergeant ließ hierauf die Soldaten in einen Kreis zusammentreten und redete sie an: »Freunde, ich habe ein Werk der Barmherzigkeit an diesen beiden getan und lasse sie die Nacht hier zubringen, doch ohne daß sie einander sprechen dürfen. Ist einer unter euch, der mir unrecht gibt, so sage er's, und sie sollen sogleich in ihre Gefängnisse zurück, wo sie aber bis morgen vor Hunger und Kälte umkommen müssen. Meint ihr also, daß ich recht getan, so mögen sie hier bleiben, und wir alle sind die Mitschuldigen.« – »Laßt sie hier!« riefen die Leute aus einem Munde; »von uns wird keiner ein Verräter.« Jetzt war das letzte Bedenken gehoben und beiden die ruhige Nacht gesichert.

Eine große Schüssel mit warmer Abendkost für die Soldaten wurde hereingetragen; denn hier, im Magazine selbst, herrschte noch kein Mangel. Ferrand dachte sogleich von selbst daran, den beiden Gefangenen durch den redlichen Cottin einen hinreichenden Anteil von der Speise zu senden, ehe sie durch den Gedanken, man werde sie übergehen, gequält würden; denn noch immer folterte der Hunger ihren erschöpften Körper, zumal da der Duft einer lange entbehrten, wohlbereiteten Speise die ganze heftige Begier desselben aufregen mußte; deshalb wurde beiden diese Labung eine unschätzbare Wohltat.

Denn die allmächtigen Gesetze der Natur überwältigen jeden; der Edelste, der Größeste, den die geläutertste Kraft des Willens durchdringt, muß zuletzt den Bestimmungen gehorchen, von denen sein irdischer Leib abhängt. Es gibt einen Grad, dem niemand widersteht. Was zu andern Zeiten eine leichte Selbstverleugnung, eine geringe Kraft der Entsagung, ein Spiel scheint, das wird in solchen Augenblicken zur unermeßlichen Aufgabe. Darum lächle niemand, den die Verhältnisse noch nie einer strengen Prüfung seiner tierischen Abhängigkeit unterwarfen, darüber, daß selbst in Augenblicken, wo es sich um das ganze Geschick des Lebens handelt, ein Trunk, eine Mahlzeit, ein Nachtlager, die gemeinsten täglichen Bedürfnisse des Körpers zu unwiderstehlichen Mächten werden, die die freiern Seelenkräfte in ihre unzerreißbaren Fesseln schlagen. Nur die stete Erhaltung des Gleichgewichts dieser gewaltigen Triebe läßt sie scheinbar verschwinden. So zermalmt uns selbst die leichte, ätherische Luft durch die Riesenlast ihres Druckes, wenn plötzlich das Gesetz, wonach sie ihrer eigenen Kraft den auf Atome ausgeglichenen Widerstand leistet, aufgehoben wird. Nachdem der grimmige Wolf des Hungers verscheucht war, drang der alles überdeckende, bleierne Strom des Schlafes heran und drückte die Erschöpften in betäubende Erstarrung hinab. Selbst nicht die luftigen Gespinste der Träume ließ er durch seine dichte Hülle dringen, sondern war stumm, bewußtlos wie sein Bruder, der Tod. Völliges Vergessen aber war das beglückendste Geschenk, welches eine gütige Schickung den Freunden jetzt darbieten konnte.


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