Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Dritter Teil.

Neuntes Buch.

Erstes Kapitel.

Der September hatte mit einem ungetrübt heitern Himmel begonnen; die Tage zogen still, sonnig, mild erwärmt vorüber. Zwar fing das Laub schon an sich zu färben, oder gar zu fallen; doch waren die Fluren noch in ein saftiges Grün gekleidet, das sich mit den schönfarbigen Herbstblumen schmückte. Die Gräfin, Lodoiska und Marie hatten in dieser Hinsicht die angenehmste Reise gehabt; was der Landschaft mangelte, ersetzte der Reiz der Jahreszeit, die in ihrer heitern Stille, mit jenem leisen Anflug von Wehmut, den der herbstliche Anblick der Natur erregt, sich der trüben Stimmung der Seele, in der sich besonders die beiden jungen Mädchen befanden, gewissermaßen mit Freundesteilnahme anschloß.

Der Palast der Gräfin war, obgleich die Einrichtung desselben einer glänzenden Lebensweise entsprach, doch jetzt ein stiller, heimischer Aufenthalt, wie ihn Frauen, die in Zurückgezogenheit leben wollten, nur irgend wünschen mochten. Sie hatten die untern Zimmer des linken Seitenflügels bezogen, der gegen den Garten hinaus und zum Teil schon in demselben lag. Die Glastür des gemeinschaftlichen Salons öffnete sich unmittelbar gegen einen von Flieder- und Jasmingebüschen umgebenen, sanft abgesenkten Rasenplatz. Rosenbäume, die im Lenz den lieblichsten Anblick gewährten, standen im Halbrund umhergepflanzt; zwar waren ihre Blüten längst gefallen, doch schimmerte dafür in der Mitte des Platzes ein reiches Medaillon von Herbstblumen, unter denen ein Flor vielfarbiger Astern, die die Kunst des Gärtners besonders pflegte, sich auszeichnete. An der innern Seite des Flügels, die nach dem Hofraum und Garten sah, wohnten Marie und Lodoiska. Sie hatten sich wie Schwestern lieb gewonnen und sich daher auch äußerlich ganz dicht und vertraulich einander angeschlossen. An den Fenstern ihres Schlafzimmers, die dicht an dem Eisengitter lagen, welches sich quer von einem Flügel des Schlosses zum andern über den Hof zog und diesen von dem Garten trennte, rankte sich Weinlaub empor. Zwar reiften die Früchte selten an diesem Spalier; doch war das Gemäuer auf eine freundliche Weise durch das Laub verkleidet, und der Sonnenstrahl wurde durch das grüne bewegliche Gitter angenehm gedämpft, ohne ganz abgehalten zu sein. Von dem Schlafgemach ging man durch ein Bücherzimmer in das Arbeitszimmer, und dieses stieß an den Salon. Auf der andern Seite desselben wohnte die Gräfin in den Zimmern, die mit denen Lodoiskas und Mariens parallel liefen, aber durch einen Korridor davon getrennt waren. Auch diese sahen auf den Garten hinaus, aber nach der Seite der Ringmauer; auch war derselbe hier etwa nur dreißig Schritte breit, und der Raum mit hohem, dunkelm Gebüsch besetzt, welches die an der Seitengasse, wo Françoise Alisette gewohnt hatte, sich entlang ziehende Mauer verdeckte, die in einer Flucht von der Seitenwand des Hauptgebäudes auslief. Eine Reihe hoher Pappeln zunächst dieser Mauer benahm den Bewohnern der Gasse jede Aussicht auf den Garten und die Fenster der Gräfin. So lagen auch diese sehr still und abgeschieden; ja, durch das dunkle, dichte Gebüsch gewann die Wohnung etwas Düsteres, welches sehr wohl zu dem Ernst der Bewohnerin stimmte. Auf diese Weise mitten in der großen geräuschvollen Stadt ganz abgesondert, führten die drei Frauen ein stilles, nur unter weiblichen Beschäftigungen dahinfließendes Leben. Selten, daß sie einen Besuch empfingen, noch seltener, daß sie ihn erwiderten; ihre Einsamkeit wurde ihnen mit jedem Tage lieber, und sie genossen sie mit jedem Tage mehr, wo sie einander näher kennen lernten und inniger lieb gewannen. Kaum konnte unter drei Frauen eine größere Verschiedenheit bei einer so engen Gemeinschaft angetroffen werden. Die Gräfin, an Jahren vor den beiden Jungfrauen ansehnlich voraus, überragte sie ebenso an Kühnheit der Seele wie an Hoheit der Gestalt. Sie besaß zwar einen feinen, weiblichen Sinn und Verstand, doch ohne jene weichmütigen Neigungen, welche dem jungfräulichen Gemüt eigen zu sein pflegen. Unter großen Zeitbewegungen aufgewachsen, war sie früh aus der engen Beschränkung des weiblichen Lebenskreises in die größern Bahnen des Weltlaufs gerissen worden. Sie hatte das Vaterhaus mit dem Vaterlande vertauscht; ihre Seele lebte mit Anteil an allen öffentlichen Geschicken. Sie war mit Begeisterung eine Tochter ihres Volkes. Auch auf Marien hatten die mächtigen Begebenheiten des Tages einen bildenden Einfluß geübt; auch sie glühte für ein in der Unterdrückung schmachtendes Vaterland; doch ganz in anderer Weise. Die Gräfin nahm einen tätigen, geistigen Anteil an dem Öffentlichen; ihr Herz schlug schon aus Gewohnheit dafür und entbehrte den Verlust der häuslich weiblichen Stille des Gemüts nicht mehr. Daher las sie mit Eifer die Zeitungen, die politischen Schriften des Tages; sie war mit der Geschichte der Ereignisse vertraut, verfolgte sie mit Scharfblick, brachte ferne Geschicke mit denen ihres Vaterlandes in denkende Beziehung. Marie hingegen liebte nur ihre Heimat, das Volk, dem sie angehörte, über alles; sie war durch Sprache und Denkweise eine Deutsche. Ihr edler Haß richtete sich nur gegen die Feinde und Unterdrücker ihres Vaterlandes. Die übrigen Weltgeschicke beobachtete sie, nicht gleichgültig, aber aus jener scheuen Ferne, mit jener weiblichen Ehrfurcht, die da bekennt, daß hier ihr Reich ende, daß ihr Blick auf diesem Gebiete keine Grenze erkenne, in dem verworrenen Getümmel keinen Faden entdecke, der sie hindurchleiten könne. Darum kehrte sie gern in ihr häusliches, stilles Heiligtum zurück und war duldend, wo sie nicht handelnd sein konnte. Mit der Befreiung ihres Vaterlandes wäre ihr Anteil am öffentlichen Leben erloschen, oder wenigstens so in die Ferne zurückgetreten wie bei allen Frauen. Sie wollte aus dem Kampfe nur ein stilles Heiligtum deutscher Häuslichkeit gewinnen. Anders die Gräfin, die mit ihren Wünschen stets über die Schwelle des Hauses hinauseilte. Marie wollte nur das Glück, die Ruhe, den Frieden für ihr Vaterland; der Gräfin war es Bedürfnis der Seele, an Glanz, Ruhm und Macht desselben zu denken. Auf dem bewegten Gemälde der Völkerkämpfe behielt Marie nur ihre Landesgenossen und ihre nächsten Freunde als Vertreter derselben im Auge; die Gräfin dagegen hielt den Blick auf die Helden des Tages gerichtet und verfolgte mit banger Spannung das Los der Häupter. Marie sah zwar das Schlachtfeld im Hauptraum ihres Bildes; doch im Vordergrund ihren Bruder, Bernhard und, wie sie sich scheu gestand, Rasinski. Die Gräfin stand mitten in der Schlacht; ihr Blick verfolgte die Fahnen, die Feldherren, selbst in dem Bruder sah sie am Tage der Entscheidung zuerst den Führer. Lodoiska dagegen, ganz Jungfrau, ganz Liebe, hörte die dumpfen Donner der Schlacht nur aus der Ferne; aber der blutende, erblassende Geliebte sank ewig sterbend vor sie hin. Die Liebe hatte ihr schönes Herz so ganz erfüllt, daß für nichts anderes Raum blieb. Selbst die schwärmerische Frömmigkeit, mit der sie jeden Tag die Messe besuchte, war nur eine andere Form ihrer liebenden Angst; denn ihr Gebet stieg ja für den Freund ihrer Seele empor. Wie es aber unter edeln Gemütern zu geschehen pflegt, so hielt jede der Frauen die andere für die bessere, vollkommnere, nur weil jene besaß, was dieser fehlte. So betrachtete Lodoiska ihre mütterliche Beschützerin mit der tiefsten Ehrfurcht und ordnete sich Marien mit Demut unter, weil sie in beiden die Kraft anstaunte, ihr Herz mächtig zu bezwingen. Die Gräfin und Marie dagegen verehrten die heilige Gewalt der Liebe in Lodoiskas Brust, die aus ihrer reinen Flamme alles Fremde ausschied und das ganze Herz des Mädchens allein erfüllte und durchdrang. Und Marie sah staunend zu der Heldin empor, unter deren Schutz sie sich scheu flüchtend begeben hatte.

Auf dem Tische der Gräfin lag eine Landkarte von Rußland ausgebreitet; sie verfolgte genau nach den Zeitungsnachrichten jeden Marsch, jede Bewegung des Korps, und bezeichnete dieselbe mit Stecknadeln, deren Köpfe sie mit sinnreichen Kennzeichen versehen hatte, um nicht nur Feind und Freund, sondern auch den Stand der einzelnen Korps mit schnellem Überblicke zu unterscheiden. Für Rasinskis Regiment hatte Lodoiska eine goldene Nadel aus ihrem Haar genommen; der glänzende Knopf derselben zeigte ihrem Auge jeden Tag, wo ihr Herz den Geliebten suchen solle.

Die letzten Nachrichten hatte sie nach der Einnahme von Smolensk erhalten. Mit Lebhaftigkeit sprach die Gräfin über dieses Ereignis und knüpfte daran die frohesten Hoffnungen für den Ausgang des Kampfes.

»Schon wir,« sprach Marie, »die wir hier in weiter Ferne sitzen und nach vollendetem Kampfe die Nachricht empfangen, daß unsere Teuersten noch unversehrt unter den Lebenden wandeln – schon wir verfolgen die Berichte von der Schlacht mit ängstlich klopfendem Herzen. Wie müßte uns erst zumute sein, wenn das Verderben uns so nahe wäre als jenen Bewohnern von Smolensk; wenn wir, wie diese, unsere Brüder, Väter, Gatten vor den Toren wüßten, im Kampf auf Leben und Tod, um Freiheit, Vaterland und Herd, um unser Leben, unsere Ehre!«

»Mich würde das gequälte Herz auf die Mauern treiben,« rief die Gräfin, indem sie, wie sie in der Lebhaftigkeit immer pflegte, rasch auf und nieder durch das Zimmer schritt; »ich müßte mit meinen Augen dem Lose des Kampfes folgen.«

»Das vermöchte ich nicht,« erwiderte Marie mit sanfter Miene; »doch glaube ich,« setzte sie mit dem ungewissen Tone der Bescheidenheit hinzu, »ich würde Standhaftigkeit genug bewahren, um die Verwundeten zu pflegen.«

»Ach, und ich,« rief Lodoiska seufzend aus, »ich vermöchte gewiß nichts, als vor dem Bilde der heiligen Mutter Gottes Schutz für das teuere Haupt des Geliebten zu erflehen.« Auch sie stand auf, aber um ihre hervordringenden Tränen zu verbergen. Die Frauen hatten sich wahrhaft, ohne Hehl ausgesprochen; nur Lodoiska verkannte sich; denn sie hielt für Schwäche, was Stärke war. Im Augenblicke der Gefahr würde sie mit dem Heldenmut einer Heiligen die hilfreiche Pflege mitten in die Schlacht getragen, den Geliebten unter den drohenden Blitzen des Todes aufgesucht und gerettet haben.

Um ihre wallende Brust zu beruhigen, war sie hinaus in den Garten getreten. Die Mittagssonne strahlte hell durch die Wipfel der hohen Bäume; ein leichter Wind rauschte in den Zweigen. Zarte Wolken schwebten durch den lichten, blauen Raum dahin. Marie, deren fein verstehender Sinn die Freundin schnell begriffen hatte, ging ihr nach, um sie zu beruhigen; denn beim traulichen Gespräch in der Stunde vor dem Einschlummern hatte Lodoiska ihr oft das Herz geöffnet und sich selbst ihrer Überwältigung durch die Liebe angeklagt, ohne Mariens Trost annehmen zu wollen, die wahrhaft eine hohe, seltene Kraft des Gemüts in dieser Stärke der Leidenschaft erkannte. Als Lodoiska aber den Springbrunnen erreicht hatte, wo sich ihr Bund mit Jaromir geschlossen, trat Marie an sie heran, legte den Arm um ihren Nacken, küßte sie auf die Wange und sprach: »O, ich wollte, du hättest meinen Namen, Liebe!« – »Ich wollte, ich hätte dein sanftes, starkes, beherrschtes Herz, Teuerste«, entgegnete Lodoiska und trocknete sich die Tränen ab. »Aber weshalb wünschest du mir deinen Namen?« – »Um dir sagen zu können, Maria hat das bessere Teil erwählt.« – »Ja, ja, das hat sie«, rief Lodoiska heftig aus, und neue Tränen brachen aus ihren dunkeln Augen hervor. »O, ich fühle es nur zu gut, ich bin liebeskrank, und mein Glück wird eine Qual, wird ein Vergehen!«

»Nein, nein, wahrlich nicht«, erwiderte Marie. »Für das Edle darf man ganz entbrennen; ich bewundere dich, die du es ganz vermagst. Glaube mir, unsere Ruhe liegt nicht in unserer großen Stärke, sondern in der geringern Kraft unserer Liebe. In meinem Herzen konnte ich Mutterliebe, Bruderliebe, Vaterlandsliebe rein abwägen, bis – –« Hier schwieg sie; denn von ihrer bekämpften Leidenschaft zu Rasinski hatte sie mit der Freundin noch niemals gesprochen, weil das Geheimnis ihr nicht allein gehörte, und weil sie empfand, daß sie sich eines sittlichen Sieges nicht rühmen durfte, ohne ihn zu verlieren. Und war sie denn Siegerin? Erneuten sich die Kämpfe in ihrer Brust nicht oftmals in einsamen Stunden der Nacht? Und flossen dem verlorenen Glück nicht noch immer ihre Tränen?

»Bis?« fragte Lodoiska, als Marie innehielt. – »Nun ja denn,« sprach diese verwirrt, »auch ich habe geliebt. Einen Augenblick lang! – Die junge Pflanze wurde durch den rauhen Sturm der Zeit schnell entwurzelt; sie konnte nicht die Blüte entfalten, weder eine volle Krone, noch tiefe Wurzeln treiben. Doch selbst dieser flüchtige Augenblick, kürzer als ein Traum, brach fast die Kraft der ältern, heiligen Bande der Liebe und Pflicht. Und dennoch fühlte ich mich größer, edler, besser durch die Liebe. Wahrlich, es ist ein Großes, wenn man es vermag, alles in ihr und durch sie zu sein. Darum kümmere es dich nicht, Beste, daß du geringere Kräfte und Pflichten durch diese höhern in dir aufgelöst und vernichtet fühlst. Wenn wir festern Widerstand leisten, wer sagt dir, daß deshalb eine größere Stärke in uns wohnt? Wir widerstehen wohl nur, weil wir nicht so mächtig erschüttert werden. Kleine Seelen können ein hohes Maß der Liebe nicht fassen. Darum schätze du deine Seele nach der Kraft deines Liebens!«

»Du tröstest so holdselig,« erwiderte Lodoiska bewegt; »du willst wie ein duftendes Veilchen in stillen Schatten zurücktreten, wo du glänzen dürftest! Meine Liebe ist stärker als ich selbst! das ist mein Vergehen, und oft ahnt mir, als werde sich's fürchterlich strafen. Steht denn nicht die Pflicht höher als die Liebe?«

»Aber welche hättest du verletzt?« – »Ich fühle, daß ich jede verletzen würde.« – »Dies Gefühl täuscht dich; nur jede niedere würde dir gegen diese eine, höhere, verschwinden.« – »Nein, mir verschwindet der Blick, die höhere zu erkennen!« – »Du wirst sie gewiß klar vor dir sehen, wenn ihre Erfüllung von dir gefordert wird, und wenn es höhere Pflichten für dich gibt! Die Welt kann sie vielleicht verlangen; aber ist es nicht ein Eigennutz der Welt? Muß dein Handeln denn das Gesetz für alle sein? Besondere Kräfte geben besondere Pflichten. Ich habe jenen Römer stets verehren müssen, der es frei vor den Richtern aussprach: Das Kapitol würde ich angezündet haben, wenn es mein Freund gefordert hätte. Wenn ich nicht selbst so handeln würde, so fragt es sich doch, ob es mein Verdienst oder meine Schuld zu nennen wäre. Ist Liebe, ist Freundschaft wirklich so groß, wer darf es ihr zum Vorwurf machen? – Das Verbrechen, das sie auf sich ladet, ist dann keins mehr! Hier, Liebe, waltet kein kaltes, für alle gleiches Gesetz, sondern jeder handelt nach dem Gefühle seiner Brust, und nach diesem richtet uns der Ewige, der allein das Maß der widerstreitenden Kräfte in uns abzuwägen vermag.«

In ihrem Eifer für die Freundin hatte Marie die Besonderheit derselben zu verteidigen gewußt, ohne selbst die innere Klarheit des Gefühls zu verlieren, die ihr in ihrem Handeln und Empfinden den richtigen Weg zeigte. Sie hatte mit Lebhaftigkeit sich in die schöne Seite des Charakters ihrer Freundin hineingefühlt. Lodoiska war ein reines Kind der Natur, in den Träumen ihrer Jugend dunkel aufgewachsen, nur den Gefühlen ihres Herzens hingegeben, die, rein und edel an sich, sie fast bewußtlos zum Guten und Schönen drängten. Marie hatte ihre Brust durch den klaren Born eines verwickeltern Bewußtseins gereinigt; Ludwigs Ernst, sein scharfes Denken waren, da er sich viel mit der Bildung der Schwester beschäftigte, nicht ohne Einfluß geblieben. Sie hatte das empfangene geistige Gut in ihr Eigentum verwandelt; auf dem Boden des weiblichen Herzens wuchs die edle Saat vielleicht nicht mehr so stolz und hoch, blühte aber zarter. Sie fühlte mit Bewußtsein; Urteil und Neigung verschmolzen sich in ihr, ohne daß sie es wollte und forderte. So empfand sie auch, ohne es sich zur klaren Erkenntnis gebracht zu haben, daß in der sittlich bewußten Seele die Leidenschaft gar nicht so wild emporwachsen kann, und daß mit ihr, wenn sie das Herz mit edler Flamme durchdringt, auch alle andern edeln Kräfte, die das Gleichgewicht herstellen müssen, gehoben werden.

Lodoiska hätte ohne das Beispiel der festen, entschlossenen Gräfin, der sanft gefaßten Freundin, sich selbst gewiß nicht mit so bangen Blicken beobachtet. Sie erkannte sich erst richtiger durch die Vergleichung und lernte das Bedürfnis einer Macht kennen, die ihr fehlte, deren Macht sie unter andern Umständen aber vielleicht niemals geahnt hätte. Dazu schlummerte ein unheimlicher Gedanke in ihrer tiefsten Seele; sie wagte nicht, ihn vor sich selbst klar werden zu lassen, viel weniger hatte sie eine fremde Brust zur Vertrauten desselben gemacht. Von dem Augenblick an, wo Jaromir ihr teuer wurde, betrachtete sie – und sie erinnerte sich dessen nur zu wohl – Françoise Alisettes verführerische Reize mit ängstlichen Blicken. Das Mädchen schien ihr unwiderstehlich; der Vorfall beim Abmarsch des Regiments, den sie mit angesehen, so sehr er nur einer leichten Galanterie ähnlich sah, war ihr unvergeßlich geblieben. Er hatte einen Funken der Eifersucht – dies harte Wort möchte man nicht gern dafür gebrauchen –, oder doch der Beängstigung in ihre Seele geworfen, der, wie oft sie ihn durch ernsten Unwillen gegen sich selbst zu ersticken suchte, immer neu aufglimmte und sich in dem empfänglichen Stoff ihres Herzens langsam weiterschlich. Bisweilen wähnte sie ihn erloschen, aber plötzlich brach er bei irgendeinem Anlaß wieder neu hervor und schien sich nur tiefer in die innersten Falten ihrer Seele eingenistet zu haben. Dies war eigentlich die Ursache ihres bangen Grams, ihrer schwärmerischen Trauer. Nicht daß das Gespenst des Argwohns sie so verfolgt hätte; allein sie betrachtete bei dem Gefühl ihrer unverbrüchlichen Treue gegen den Geliebten einen Verdacht gegen die seinige als das schwärzeste Verbrechen. So litt sie die zwiefache Qual der Angst und der Reue über ihre eigene Schuld; nur in der heißesten Liebe, in der hingebendsten Aufopferung glaubte sie ihre sträflichen Gedanken abbüßen zu können, und daher wuchs ihre krankhafte, schwärmerische Leidenschaft im doppelten Verhältnis zu der beängstigenden Qual, die sie stumm in ihrem Innern trug. Konnte sie also durch ihre Liebe und allein in ihr glücklich sein? Nur in den berauschten Augenblicken des gänzlichen Vergessens war es möglich, wenn sie Briefe von Jaromir empfing, wenn sie ihm schrieb und im Schreiben sich glühender und glühender entflammte; wenn sie von seiner Nähe, seiner Umarmung träumte. Doch bald hing wieder schwarzes Gewölk an dem Himmel ihrer Hoffnungen, und Giftpflanzen sproßten rings um die reine Blüte ihrer Liebe empor. Mit dieser nagenden Qual verband sich eine tiefe Anlage zur Schwermut, die von Jugend auf in ihrer Seele wohnte; diese schuf düstere, schreckende Bilder, welche ihr, da sie oft in unruhigen Träumen wiederkehrten, bald wie unfehlbare Ahnungen erschienen. Oder woben die fieberhafte Leidenschaft, der krankhaft angeregte Reiz ihrer Nerven vielleicht ein unsichtbares Band zwischen ihr und der Zukunft? Gibt es warnende, wahrsagende Stimmen für ein leiser horchendes Ohr? Überhören wir sie nur in dem rauschenden Getümmel einer äußerlichen Welt, der wir uns nur zu sehr entgegenneigen? –

Ach, Lodoiska vernahm sie wie das ferne, schauerliche Grollen heranziehender Gewitter, wie bange Klagelaute im Nachtgeräusch des Windes, unter dem angstvollen Pochen ihrer Brust. Dann flüchtete sie in die Kapelle; nur im Gebet fand ihre schöne Seele die Ruhe wieder. Denn dort schwiegen die Stürme des Lebens, der Leidenschaft; die aufgeregten Wogen beschwichtigten sich, die trüben, fremden Stoffe sanken auf den Boden hinab, und der Himmel spiegelte sich klar und tief in der beruhigten Flut.


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