Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Zweites Kapitel.

Bei Korithnia ereilte die Nacht das Heer; man bezog das Biwak, oder richtete sich in den Trümmern des elenden Örtchens ein. Rasinski hatte, wie immer, durch unermüdliche Sorgfalt, durch sein Ansehen, seine Gewandtheit noch so viel für die Seinigen gewonnen, daß sie für die Umstände ein glückliches Los zogen. Aber kaum hatten sie sich an den Lagerfeuern eingerichtet, als ein donnerndes Getöse ganz in der Nähe erschallte und plötzlich eine Masse von Kugeln sausend über ihre Häupter dahinfuhr. »Wir sind angegriffen,« rief Rasinski und sprang auf; »zu den Waffen, Freunde, schnell zu Pferde!« Im Augenblick saß er selbst zu Roß und fing schon an, seine Leute zu ordnen, als der Marschall Ney im vollen Galopp heransprengte und ihn anrief: »Oberst, rekognoszieren Sie mit Ihren Leuten die linke Flanke des Lagers und melden Sie mir sofort, wenn Sie auf den Feind stoßen.«

Der Marschall ritt weiter, mitten in das Lager hinein, und ordnete und sammelte die bestürzten Leute. Rasinski, an der Spitze seiner kleinen, aber entschlossenen Mannschaft, ritt in die düstere Nacht hinaus, um den Feind, der sich so furchtbar angekündigt hatte, aufzusuchen. Es befremdete zwar, daß seine Artillerie nur eine Salve gegeben hatte und nun so plötzlich schwieg, doch war der Kampf bei diesem Rückzuge, der in Nacht, Wald und unwegsamen Schneeeinöden geführt wurde, so reich an seltsamen Ereignissen, daß man jeden Tag etwas bisher in der Geschichte des Kriegs Unerhörtes erfuhr.

Auf eine Anhöhe dicht am Lager gelangt, glaubte Rasinski auf dem weißen Schneegrunde einige schwarze Massen zu erblicken. »Ist das Waldgebüsch oder sind es Leute?« fragte er zu Jaromir gewandt. – »Noch läßt sich nichts unterscheiden«, erwiderte dieser. – »Darauflos denn, in Gottes Namen«, befahl Rasinski und ritt näher. Bald aber senkte der Boden sich in eine Schlucht hinab, deren steilen Rand man nicht hinunterreiten konnte, man mußte also dem Laufe derselben folgen. Da brausten plötzlich wie ein aufgescheuchtes Geflügel etwa fünfzehn bis zwanzig Kosaken aus einer Windung der Schlucht herauf und sprengten mit ihren kleinen behenden Pferden jenseit die minder steile Höhe hinan. Mehr um sie zu schrecken, als weil man ihnen Schaden tun konnte, ließ Rasinski Feuer auf sie geben; sie flogen flüchtig über das Feld und verschwanden im Dunkel. Wenige Minuten später gerieten auch jene schwarzen Massen auf dem Schneefelde in Bewegung, und man erkannte, daß es wahrscheinlich eine größere Abteilung von Kosaken war, die sich auf die Nachricht, die jene Versprengten ihnen von dem Anrücken des Feindes gaben, zurückzog.

Mit Vorsicht führte Rasinski die Seinigen jetzt an einer minder gefährlichen Stelle hinab. Hier entdeckte er bald die Ursache des Getöses, welches man für einen Artillerieangriff gehalten hatte. Man fand nämlich eine Anzahl Kanonen und Protzkasten vor mit Munition, jedoch vernagelt, die aus Mangel an Fortschaffungsmitteln stehengeblieben waren. Etwas weiterhin entdeckte man die Trümmer aufgesprengter Geschütze und Pulverkarren. Wahrscheinlich hatten die eben geflüchteten Kosaken mehrere dieser Karren angezündet und waren bei dem Versuche, die übrigen aufzusprengen, nur durch Rasinskis Ankunft gestört worden. Rasinski war froh, die wahre Ursache des blinden Lärmens entdeckt zu haben, und wollte daher eilig mit seinen Leuten zurück, um dem Marschall die Meldung zu machen. Doch indem er in der Schlucht entlang ritt, sah er, etwa dreißig Schritt vor sich, einen Mann in vollem Lauf oben auf der Höhe ihres Randes dahineilen. In der Meinung, es sei ein Russe, rief er ihn in der Landessprache an und befahl ihm zu stehen. Der Flüchtige stutzte, wandte sich jedoch rasch wieder zur Flucht um; allein da die Schlucht an dieser Stelle leicht hinanzureiten war, sprengten Rasinski und Jaromir sofort hinauf, und zwei Reiter folgten ihm, um den Russen, der vielleicht über die Stärke und Nähe des Feindes wichtige Auskunft geben konnte, nicht entschlüpfen zu lassen. Er floh in voller Hast, doch nach wenigen Schritten sank er in den tiefen Schnee ermattet nieder und wurde von den Verfolgern ergriffen. Zum großen Erstaunen Rasinskis rief der Gefangene, indem er sich ergab, aus: »Spricht jemand französisch unter euch?« – »Der Teufel, diese Stimme sollte ich kennen,« entgegnete Rasinski französisch; »wer seid ihr?« – »Rasinski, ihr selbst? Ist's möglich?« rief der Gefangene und streckte ihm freudig die Arme entgegen; »ich bin Regnard, erkennt ihr mich nicht?«

»Regnard! Wie in aller Welt kommt ihr hierher?« fragte Rasinski mit freudigem Erstaunen.

»Die Geschichte ist kurz und faßlich, aber nicht erbaulich,« erwiderte Regnard, »und ihr sollt sie ausführlicher hören, als euch freuen wird; doch rate ich euch, nicht hier zu verweilen, sondern einen sicherern Ort aufzusuchen, wenn es einen gibt. Denn im Vertrauen gesagt, es sind mehr Russen hier in der Nähe als Bäume in diesen Fichtenwäldern. Aber wie kommt ihr hierher?« – »Mit dem Marschall Ney aus Smolensk,« antwortete Rasinski; »unser Biwak ist keine fünfhundert Schritte von hier.« – »So laßt uns eilen, es zu erreichen. Im Gehen werde ich erzählen.«

Jaromir bot dem Obersten sein Pferd an, doch dieser lehnte es ab und schritt zwischen ihm und Rasinski rasch vorwärts dem Biwak zu. »Ihr wißt,« begann er, »daß ich mit dem Vizekönig von Italien aus Smolensk ausrückte. Gestern wurden wir drei Stunden von hier von den Russen angegriffen, und ich geriet in Gefangenschaft. Die Kosaken trieben mich mit der Knute vor sich hin, bis ich einen russischen General antraf, dem ich auf französisch zurief, er möge mich von dieser infamen Mißhandlung befreien. Die Bestie aber lachte hell auf und meinte, die Knute der Kosaken mache sowenig Unterschied zwischen Rang und Stand des Soldaten wie die Kanonenkugeln; ich möchte mich daher in mein Schicksal ergeben.« – Rasinski knirschte vor Zorn mit den Zähnen. »Diese Henkersknechte,« rief er ingrimmig aus; »freilich sie, die selbst unter dem Gesetz der Peitschenhiebe und der Fußstöße stehen, können die Ehre eines tapfern Gegners nicht achten. Weiter, weiter!« – »Man hätte mich wohl gern auf den Schub gebracht, nach Tobolsk oder Irkutsk hin, allein zum Glück oder Unglück waren zuwenig Gefangene gemacht worden, um den Transport zu lohnen; so wurde ich von den Kosaken, denen ich in die Hände gefallen war, mit herumgeschleppt. Vor zehn Minuten hatte ein Rudel dieser Kerle hier eine von uns im Stich gelassene Batterie aufgesprengt, muß aber dabei von euch oder andern gestört worden sein; denn die Helden kamen, was ihre kleinen Katzen nur durch den Schnee laufen wollten, bei dem Polk, welcher droben am Walde hält, an und meldeten, der Feind sei da und ziehe heran. Der Kosak ist aber nur tapfer gegen einen flüchtigen, ermatteten, wehrlosen Feind. Zeigt man ihm das Angesicht, so flüchtet er in größter Schnelligkeit. Das taten auch die Leute dort oben, und so benutzte ich einen Augenblick der Verwirrung, um mich zu ranzionieren. Da fiel ich euch in die Hände. Nun, euer Gefangener, Rasinski, bleibe ich; ihr dürft nicht bange sein, daß ich euch entwische.«

»Aber ihr erwähntet eines Gefechts, das der Vizekönig bestanden. Wie verhielt es sich damit?« fragte Rasinski besorgt.

»Ich ritt,« begann Regnard ernster, »an der Seite des Prinzen; wir überließen uns unsern düstern Gedanken, die durch die traurige Umgebung ringsher immer neu erweckt wurden. Etwa zwei Stunden vor Krasnoe stutzen plötzlich die zerstreuten, aber zahlreichen Soldaten, die außer Reih' und Glied, ihrer Willkür überlassen, um uns her marschieren. Sie drängen sich aufeinander, sie bilden eine Masse. Jetzt werden wir aufmerksam. Da krönen sich plötzlich die Höhen vor uns mit schwarzen Massen, und mit Schrecken sehen wir ungleich überlegene Streitkräfte zwischen uns und der Heimat sich aufstellen, die uns mit ehernen Riegeln den Ausweg aus den Schneewüsten Rußlands zu versperren drohen. Doch was jedes Soldatenherz noch mehr erschüttern mußte, diese unübersteigliche Mauer türmte sich zwischen uns und unserm großen Kaiser, für den Vizekönig zwischen Vater und Sohn auf. Jetzt erst bemerkten wir, daß der raschere Schritt unserer Pferde uns unserm Korps um eine Stunde vorausgeführt hat, und die Straße nur von abgezehrten, kraftlosen, unbewaffneten Flüchtlingen ringsumher wimmelt. In demselben Augenblick reitet ein russischer Parlamentär heran und fordert uns auf, uns zu ergeben. ›Zwanzigtausend Russen sperren euch den Weg‹, ruft er; ›fünfzig Kanonen sind bereit, euch zu zerschmettern; der Kaiser mit seiner Garde ist gänzlich geschlagen, vielleicht in diesem Augenblick schon gefangen.‹ – Ich sehe den Unwillen des Vizekönigs, dem die Sprache zu einer Antwort auf diesen Antrag versagt. Daher rufe ich heftig: ›Fort mit euch! Habt ihr zwanzigtausmd Mann, so haben wir achtzigtausend. Ein französischer Feldherr ergibt sich nicht vor der Schlacht.‹ – Der Russe reitet zurück. Es vergehen nicht zwei Minuten, so sind die Höhen vorwärts und zur Seite mit Batterien gekrönt. Plötzlich blitzt es und eine düstere Dampfwolke steigt über dem weißen Schnee auf, als wenn rings die Schlünde des beeisten Hekla gähnten; ein Hagel von Kartätschen und Granaten schmettert auf uns nieder. Die waffenlosen Flüchtlinge drängen sich zusammen wie eine scheue Herde, in die der Wolf bricht. Der Vizekönig ist außer sich, von seinem Korps getrennt zu sein; er fühlt, daß er sich an die Spitze desselben stellen müsse, und kann sich doch nicht entschließen, die hilflose Schar um uns her zu verlassen.

»Doch sein Generalstabschef, General Guilleminot, treibt ihn an, zurückzueilen, indessen wir die entmutigten Leute um uns her auffordern, sich zu sammeln und Widerstand zu leisten. Unter den Zerstreuten waren eine Menge Offiziere, Obersten, ja selbst Generale, die alle zu Fuß gingen. Sie übernehmen rasch das Kommando der im Augenblick gebildeten Kompagnien; der General wird Kapitän, der Oberst sein Leutnant, der Offizier tritt als Gemeiner in Reih' und Glied. Jeder behilft sich mit der Waffe, die ihm geblieben ist; wenige haben Gewehre, die meisten nur noch das Seitengewehr zum Holzspalten im Biwak, viele gar nur einen Knüttel, an dem sie eben noch ihren abgematteten Körper mühsam fortschleppten. Aber der Mut, das entflammte Ehrgefühl ersetzt alles. So rücken wir, während der Vizekönig zurückeilt, entschlossen gegen den Feind an.

»Eine Stunde ertragen wir sein zerschmetterndes Kartätschenfeuer; vergeblich harren wir darauf, daß der Vizekönig sich mit den Seinigen bis zu uns durchschlagen und uns Bahn nach Krasnoe brechen soll. Er mußte gleichfalls von mächtigen Feinden angegriffen sein, denn wir hörten hinter uns und weit vor uns den Donner der Kanonen. Von Smolensk bis Krasnoe schien der Weg ein Schlachtfeld zu sein. Da endlich, als wir vorwärts kein Heil mehr für uns sehen, beschließen wir, uns rückwärts zu dem Vizekönig Bahn zu machen, von dem dichte Kolonnen uns schon abzuschneiden begannen. Wir rotten uns in Massen zusammen und nehmen unsern Weg zurück wieder in die Öde des furchtbaren Altrußland hinein. Der dicht an den großen Weg herangerückte Feind begreift anfangs das Unternehmen nicht; er stutzt und läßt uns halb vorüber, ruft uns, da wir an seinen Linien vorbeieilen, zu, uns zu ergeben. Wir hören nicht; denen, die uns nahen, antworten nur Flintenschüsse und Bajonettstöße. Da bricht die Wut der Feinde grimmig aus. In gleichem Augenblick geben zehntausend Mann und dreißig Kanonen Feuer auf uns, und die Hälfte unserer Tapfern liegt zerschmettert und rötet den Schnee mit ihrem Blute. Die andern aber rücken unaufhaltsam, geschlossen vorwärts; kaum ein Blick sagt den gefallenen Kameraden Lebewohl. Die Donner des Feindes krachen hinter uns her, seine Kugeln rissen ganze Reihen fort. Dennoch gelangt eine kleine Schar endlich bis zu den Freunden, die sie mit offenen Armen empfangen. Auch ich glaubte das Ziel glücklich gewonnen zu haben; da führt der Teufel einen Polk Kosaken hinter uns drein, die sich jetzt erst heranwagen und die einzelnen Nachbleibenden zu Gefangenen machen. So geriet auch ich in ihre Gewalt und – das übrige wißt ihr.«

»Wir freuen uns, es von euch selbst gehört zu haben«, sprach Rasinski und reichte ihm die Hand. »Aber der Vizekönig? Sein Schicksal kennt ihr nicht?«

»Doch, doch, Rasinski; wäre er verunglückt, ich würde nicht von mir zuerst gesprochen haben. Er schlug sich den Tag über wie ein Löwe – nun ihr werdet vielleicht die Spuren sehen. Endlich nahm ihn die Nacht in ihren Schutz. Sei es, daß die Russen ihn heute schonen wollten, denn bei Gott! wir verkauften unser Leben nicht wohlfeil; sei es, daß sie ihres Triumphs zu gewiß zu sein glaubten, allein sie machten keinen entscheidenden Angriff, um die Sache zum Schluß zu führen, sondern begnügten sich, alle Stellungen und Ausgänge besetzt zu halten. Aber am Morgen war das Nest dennoch leer, und die Sonne ging gerade zeitig genug auf, um den Russen zu zeigen, wie die tapfere Schar, schon außer der Möglichkeit, erreicht zu werden, auf Krasnoe anrückte. Ich selbst sah ihre Bajonette im Morgensonnenglanz leuchten und – lacht mich nur aus ins Teufels Namen – aber ich sprach wahrhaftig ein Dankgebet, wie ich's seit meinen Knabenjahren nicht getan.«

»Doch wie war der Marsch möglich?« fragten Rasinski und Jaromir aus einem Munde. – »Diesmal danken wir's euch, den Polen,« antwortete Regnard bewegt; »und wenn Frankreich ein Gedächtnis hat, so wird es sich, solange es Franzosen und Polen gibt, daran erinnern, daß es euch die Köpfe eines ganzen Armeekorps schuldet, und überdies den des tapfersten und menschlichsten Feldherrn, der jemals französische Soldaten ins Feuer geführt hat.« Rasinski war aufs äußerste gespannt. »Hört zu! Es ist Wahrheit, denn mir hat es ein sterbender Landsmann gesagt, der leider nur den halben Weg der Rettung zurücklegen konnte. Es war Nacht geworden. Der Vizekönig gab sich verloren. Doch wollte er noch den verzweifelten Versuch machen, den Feind zu umgehen. Da dieser durch des Prinzen Demonstrationen bewogen, seine größte Kraft auf die linke Seite des Wegs konzentriert hatte, beschloß der Feldherr, ihn auf seinem linken Flügel, nämlich auf der rechten Seite der Straße, zu umgehen. Leise bricht er mitten in der Nacht auf, läßt aber seine Feuer zurück. Mit angehaltenem Atem und behutsamem Schritt zieht er sich durch die Schneefelder an der langen russischen Linie dahin. Da tritt der Mond, als ob in diesem Lande uns alle Kräfte der Natur feindlich gesinnt wären, urplötzlich hinter schwarzen düstern Wolken hervor und beleuchtet die Schneefläche mit vollem Glanze. Die Unserigen sehen die Russen so deutlich vor sich, daß sie auch von diesen so klar wie am hellen Tage bemerkt werden müssen. Selbst dem Tapfersten fällt hier der Mut. Eine russische Schildwache ahnt, was vorgeht; sie ruft an. Und jetzt war Frankreichs edelster Feldherr, der Stolz des Heeres, jetzt waren die tapfersten Krieger unwiederbringlich verloren, wenn nicht ein Pole sie rettete. Oberst Kliski–«

»Ha! wackerer Landsmann!« unterbrach Rasinski den Erzähler mit leuchtenden Augen, denn er ahnte bereits den Zusammenhang.

»Oberst Kliski sprengt, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, vor und ruft dem Russen mit gedämpfter Stimme zu: ›Wahnsinniger! Wirst du schweigen! Siehst du nicht, daß wir von Uwarows Korps sind und uns dem Feinde in den Rücken schleichen?‹ Der Soldat, der seine Landessprache hört, steht gefesselt still. Mehrere Kameraden, auch einige Offiziere, die die Worte gehört haben, treten näher und bieten einen guten Abend. Kliski hält still, spricht mit ihnen leise, aber freundschaftlich, ersucht sie, die Kosaken zurückzuhalten, damit ihr Vorwitz kein Unheil anrichte, und wartet so, mitten unter den Feinden, bis er sieht, daß die Unserigen freie Bahn gewonnen haben. Jetzt sprengt er ihnen nach, und in der nächsten Stunde ist die Rettung vollendet.«

Rasinski hatte männliche Tränen der Freude im Auge, als er die Tat des Landsmanns hörte. »Braver Kliski,« sprach er nochmals, »du warst von jeher der Stolz Polens! du wirst es auch für fernere Jahrhunderte bleiben!«

»Ja, Frankreich schuldet euch einen großen Dank, ihr Polen,« fuhr Regnard fort; » es wäre der Verachtung wert, wenn es dessen nicht ewig gedenken, und euch vergelten wollte, wenn's die Zeit herbeiführt.« – »Von wem habt ihr aber den Bericht?« fragte Rasinski. – »Vom Kapitän Lebrun,« erwiderte dieser, »vom vierzigsten Regiment; ein braver Junge, dem es hätte besser ergehen sollen.«

»Ich kenne ihn,« sprach Jaromir nicht ohne Bewegung; »er biwakierte in Moskau dicht an unserm Quartier, wir machten noch am ersten Abende einen Spaziergang zusammen durch die Stadt. Und er ist geblieben?«

»Er war am Tage verwundet worden,« fuhr Regnard nicht ohne Bewegung fort; »doch strengte er sich aufs äußerste an, um den Rettungsmarsch zu vollenden. Das Heer war schon in Sicherheit, als ihn die Kräfte verließen, er blieb zurück und wurde von schwärmenden Kosaken aufgehoben. Der Zufall führte uns zusammen; er erzählte mir, was geschehen war. Die hündische Behandlung, die er erfuhr – denn gefüttert hat man uns auch nicht – der Blutverlust – kurz, es wurde ihm zuviel. Nun liegt er still auf dem kalten Schnee, wie so viel Tausende von uns. Einer mehr – wer fragt danach! Aber – es war doch ein braver Junge!«

So sehr Regnard sich bemühte, den trockenen, kurzen Ton seiner Redeweise beizubehalten, so mußten doch diejenigen die ihn näher kannten, die Beimischung von Rührung, der er sich nicht erwehren konnte, auffallend genug bemerken. Aber die Zeit war danach, auch die Härtesten zu erweichen und dem Kältesten heiße Tränen zu erpressen.

Indessen hatte man das Biwak wieder erreicht. Jaromir in tiefen, düstern Gedanken, denn die Erinnerung an Lebrun rief ihm alle Ereignisse jenes Tages, der so verhängnisvoll für ihn wurde, wieder mit erneuter Lebhaftigkeit vor die Seele zurück. Selbst die grausenvollen Gemälde des Entsetzens, die er jetzt täglich rings um sich her sah, hatten nur bleiche Farben gegen jene Bilder der glühenden Erinnerung. So ist alles Leiden und alles Glück des Menschen im Innersten seiner Seele gegründet, und kein äußeres Ereignis vermag sich so tief in seine Brust zu prägen, als die selbstbereiteten Qualen oder Freuden darin eindringen. Alisettens Schicksal kannte er indessen noch nicht, denn der schonende Boleslaw hatte es ihm verschwiegen, weil er wußte, wie es ihn erschüttern mußte.

Rasinski und Regnard begaben sich zum Marschall Ney, um diesem Bericht abzustatten. Der Feldherr hörte mit äußerster Spannung, was ihm Regnard von den Ereignissen des vorigen Tages berichtete. Er forschte genau nach der Stärke und den mutmaßlichen Absichten des Feindes; die Antworten konnten nicht beruhigend ausfallen. »Ich sehe einen heißen Tag vor uns; aber es wird ein Tag der Ehre sein,« sprach er mit dem entschlossenen, ruhigen Tone des Helden; »doch gönnen wir dem Krieger heute seine Ruhe; er wird es morgen zeitig genug erfahren, daß er nicht nur mit allen Schrecken der Natur, sondern auch mit einem überlegenen Feinde zu kämpfen hat. Ich hoffe, wir werden beide besiegen. Zwei Stunden nach Mitternacht wollen wir fort.« So entließ der Marschall Rasinski und Regnard.

Am Wachtfeuer fanden sie Jaromir und Boleslaw, die einzigen noch übrigen Offiziere des Regiments. Regnard fragte nach Ludwig und Bernhard. Ein düsterer Blick Rasinskis ließ ihn nicht an ihrem Schicksal zweifeln. »Also auch tot!« sprach er und schüttelte das Haupt. »Dieser mit Eis gepanzerte Boden ist blutgieriger als ein Vampir!«

Jaromir versuchte, indem er erzählte, was man von den beiden Verschwundenen wußte, noch einmal die Hoffnung für sie rege zu machen; doch Rasinski, sonst immer noch voller Mut und Vertrauen, wo andere schon längst alles verloren gaben, wies jeden Trost dieser Art zurück. »Hier hoffe ich nichts für mich,« sprach er; »dafür fürchte ich auch dort,« er deutete mit der Hand nach der Richtung, die das Heer zu nehmen hatte, »was mich betrifft, um so weniger. So gleichen sich die Dinge aus.«

»Mir liegt noch eine Sorge auf dem Herzen«, nahm Regnard das Wort nach einer Pause. »Mein junger Freund dort wird mir vergeben, wenn ich damit vielleicht alte verdrießliche Erinnerungen berühre. Aber die jetzige eiserne Zeit hat ja wohl die leichten Spuren voriger, achtlos hingelebter Tage genug verwischt, um alles, was von dort herstammt, ins Meer der Vergessenheit zu versenken. Weiß niemand von euch, was aus Alisette geworden ist?« Jaromir heftete den Blick finster auf den Boden und hüllte sich, zusammenschauernd, dichter in den Mantel ein. Boleslaw war unschlüssig, ob er antworten sollte. »Ich hatte mich,« fuhr Regnard fort, der in dieser Beziehung mit der den meisten Männern gewöhnlichen Gleichgültigkeit über das Unsittliche seines Verhältnisses zu dem Mädchen dachte, und es daher auch ohne Bedenken völlig entschleierte; »ich hatte mich seit jenem Ereignis in Moskau von ihr getrennt. Daß sie leichtsinnig sei, wußte ich zwar, allein auf solche Weise durfte ich's nicht wissen. Die Auflösung unsers Verhältnisses mochte ihr auch selbst lieb sein. Jetzt aber nehme ich doch Anteil an ihrem Schicksale, und mehr noch an dem unsers Kindes. Denn, warum sollte ich's Hehl haben, daß ich der Vater bin? Ich werde es niemals verleugnen. Schon jetzt hätte ich Alisetten die Sorge dafür abgenommen – denn das kleine Wesen muß anders erzogen werden, als seine Mutter es vermag –, wenn es nicht, solange der Feldzug dauert, am besten in ihrer Obhut geblieben wäre. Einer weiblichen Pflege bedurfte es doch, und so war die Mutter immer die Nächste. Ich verschaffte ihr daher in Moskau Wagen und Pferde und gab ihr reichliches Reisegeld. Jetzt aber wird dergleichen freilich alles unzureichend; seit den ersten Tagen des Ausmarsches ist sie mir nicht zu Gesichte gekommen; es mag ihr am Ende übel gehen. In der Gefangenschaft drüben hatte ich so meine eigenen Gedanken darüber, die man freilich, bevor die Not des Lebens kommt, zumal hier in dem Kriegsgetümmel nur zu leicht vergißt. Jetzt soll es aber mein erstes sein, mich um sie und um das Kind zu kümmern, denn ich bin insofern verantwortlich dafür, als ich sie bestimmt habe, mir nach Rußland zu folgen. Ihr, meine Freunde, werdet mir gewiß euern Beistand dabei nicht versagen.«

Boleslaw schwieg in peinlicher Verlegenheit, denn er empfand es zu tief, wie Jaromir durch die Erzählung der Wahrheit erschüttert werden würde; doch das Kind war am Leben, war sogar in der Nähe, und dies mußte der Vater, der die Sorge dafür übernehmen wollte, erfahren. Es war ihm daher sehr willkommen, daß Jaromir, durch das Gespräch von seinen schon vorher mächtig geweckten Erinnerungen zu heftig bewegt, aufstand und mit hastigen Schritten den Platz verließ, um seine Erschütterung zu verbergen. »Hm! das tut mir leid,« sprach Regnard, der die Ursache erriet; »ich kann aber nicht begreifen, wie ein Mann so reizbar sein kann.« – »Lassen Sie es uns lieb sein, Oberst,« nahm Boleslaw das Wort, »daß wir allein sind. Ich kann Ihnen leider Nachrichten von der Unglücklichen geben.«

Er erzählte hierauf den Vorfall, von dem er diesen Morgen Zeuge geworden war, und der ihm jetzt erst, da er erfahren hatte, daß Alisette wirklich die Mutter des schuldlosen kleinen Wesens war, das Innerste mit Schauder über diese an Wahnsinn streifende Entartung der Natur erfüllte. Nur die Betäubung, in die das furchtbare, entsetzliche Elend ringsumher ein Gemüt stürzen mußte, das niemals gewohnt war, sich an etwas Höheres, als dieses irdische Dasein bietet, zu wenden, gab ihm eine halbe Erklärung und Entschuldigung des Verbrechens. »Die Unnatürliche!« rief Regnard empört, als er die Tat vernahm. »Wo ist aber das Kind, ist es gerettet? Sagen Sie mir alles.«

»Es wird wenige Schritte von hier wohl schon des süßesten Schlummers genießen,« sprach Boleslaw; »ich will Sie dahin führen.« Er ging mit ihm zu dem Biwak, wo der verwundete Chasseur, der mit der kranken Witwe eines Tambours die Sorge um das Kind teilte, gelagert war. Mit Ehrfurcht stand der alte Soldat auf, als sich Regnard ihm näherte. »Kamerad,« sprach dieser heftig bewegt, »ich bin dir mehr als mein Leben schuldig geworden, denn du hast mein Kind gerettet.« – »So viel hätte die Mutter nicht dafür gegeben!« antwortete der Chasseur. »Aber nun ist es gut aufgehoben, mein Oberst! Seht nur her, dort liegt es und schläft wie eine kleine Prinzessin.«

Es war eine Art von Korb, warm in Heu und Moos gepackt und mit einem leichten Tuche überdeckt. Die Witwe des bei Wiazma gebliebenen Tambours saß daneben und behütete es. Regnard betrachtete es gerührt. Er küßte es leicht auf die Stirn, nahm sich aber in acht, es zu erwecken. Dann wandte er sich zu der Frau und dem Chasseur: »Freunde, wenn Gott uns nach Frankreich zurückführt, will ich euch vergelten, wie ich vermag. Jetzt bin ich arm und bloß wie ihr, denn ich komme aus russischer Gefangenschaft. Aber haltet euch zu mir; wir wollen Leid und Freude und Sorge um das kleine Engelchen teilen. Für den Augenblick aber vermag ich euch nichts zu bieten als diesen Handschlag zum Dank!«

»Wahrhaftig, das ist auch das Beste, mein Oberst«, rief der Chasseur, indem er kräftig einschlug. »So eine Hand, auf die man sich verlassen kann, ist jetzt mehr als ein Haufen Gold. Gelt, ihr zieht mich doch aus dem Schnee, wenn ich irgendwo steckenbleibe? Ich habe in den letzten Tagen manchen gekannt, der wohl noch mit uns marschierte, wenn sein Kamerad nicht zu müde und verzweifelt gewesen wäre, um sich drei Minuten bei ihm aufzuhalten und ihm aus einem Schneeloche zu helfen, in welches man als Bube hundertmal in einem Tage zum Scherz gefallen und wieder herausgesprungen wäre! Auf solch eine Hand, mein Oberst, da zählen wir. Aber Gold? Das hat hier keinen sonderlichen Kurs. Als wir vor vier Tagen in Smolensk einrückten, saß ein Artillerist vor dem Tore am Wege und hatte euch einen Klumpen reinen Silbers wie ein Kindskopf groß auf den Knien; es mag wohl aus einem moskowitischen Taufbecken zusammengeschmolzen gewesen sein und die Reise als Kanonenkugel im Protzkasten mitgemacht haben. Aber einerlei, was geht das mich an? Nun, das Stück Silber bot er feil um ein Brot und eine Flasche Branntwein. Aber glaubt ihr, daß er es vom Morgen bis zum Abend losgeworden war, obwohl Tausende an ihm vorbeikamen. Er war endlich glücklich genug, als ihm ein italienischer Oberst ein Stückchen Brot, so groß wie eine Hand, und einen kleinen Schluck aus seiner Feldflasche dafür bot, zusammen nicht für einen Sous an Wert. Ja, so ändern sich die Dinge, mein Kolonel; allein ein französisches Soldatenherz soll sich nicht ändern. So denke ich, mein Oberst! Topp, ich schlage ein! Hand gegen Hand! Mit meinen Wunden, denke ich, wird es bald besser gehen, und dann können wir einander vielleicht aushelfen.«

Der Alte hätte wohl noch eine Viertelstunde geschwatzt, wenn ihn Regnard nicht unterbrochen und gefragt hätte, wie er heiße und bei welchem Regiment er stehe – denn die Uniformszeichen waren nicht mehr ganz kenntlich, und manches fremde Kleidungsstück hatte die Tracht abenteuerlich genug verändert. »Und ihr bleibt auf einem Wagen mit der guten Frau dort?« fragte Regnard. – »Ja freilich, solange unsere Pferde laufen wollen; wenn aber das Futter nicht besser ist als hier, so wird es so gar weit nicht mehr sein.« – »Und wie heißt ihr?« – »Jacques Désiré Pallier, mein Oberst! und diese Frau ist die Witwe Réné.« – »Gut, Pallier! Gut, Frau Réné! Wir wollen uns schon wiederfinden. Für heute gute Nacht, und haltet mir ja das Töchterchen warm.«

Sie kehrten hierauf zum Biwak zurück, wo die Ermüdung sie bald in tiefen Schlaf versenkte.


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