Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Viertes Kapitel.

Die Angriffe auf Smolensk wurden den ganzen Tag über unablässig erneuert. Die Russen verteidigten sich kaltblütig, aber furchtbar. Tausende von Kriegern sanken auf dem Felde des Todes, und noch immer war der Preis dieser Opfer nicht gewonnen, als schon die Sonne sich zu neigen begann und hinter grauen Gewölken verschwand.

Jetzt war die günstige Zeit für Rasinskis Pläne gekommen. Er ließ aufsitzen und zog mit dem Regimente den Dnjepr entlang, jedoch so weit von dem Ufer desselben entfernt, daß man ihn von jenseit nicht entdecken konnte. Nachdem man eine Stunde geritten war, wurde diese Vorsicht unnötig, denn es war völlig dunkel geworden. »Jeder beobachte die tiefste Stille! Keiner darf rauchen oder Feuer schlagen!« lautete der Befehl, den Rasinski von Glied zu Glied laufen ließ. Er hatte einen jungen Menschen aus der Gegend bei sich, der ihm als Führer diente; mit diesem unterhielt er sich in russischer Sprache, so, daß von seiner übrigen Umgebung niemand verstehen konnte, was er mit ihm sprach. Der ganze Zug wurde als ein Geheimnis behandelt. Man befand sich in einem ziemlich dichten Gehölz, als Rasinski haltmachen ließ. Er selbst ritt, nur von seinem Boten begleitet, weiter vorwärts und hieß das Regiment seine Rückkehr abwarten.

Es herrschte eine erwartungsvolle Spannung. Ringsum leises Schweigen; der Donner der Schlacht, den man noch lange in der Ferne gehört hatte, war verstummt. Die hereinbrechende Nacht hatte dem blutigen Spiel ein Ende gemacht. Nur der Wind rauschte in den Wipfeln der Birken und Tannen, und von Zeit zu Zeit hörte man den Ruf des Auerhahns. Eine halbe Stunde brachte man auf diese Weise zu. Da kam Rasinski zurück und gebot vorzurücken. Es geschah im Schritt. Man mußte einige abschüssige Hügel, die mit Gebüsch und Farnkräutern bedeckt waren, hinauf und hinab; dann stand man unvermutet an einem steilen Abhange, unter dem der Dnjepr rauschte, in dessen Wellen sich der schwarze Nachthimmel düster abspiegelte. »Zu zweien abgebrochen und mir gefolgt!« sprach Rasinski leise, doch so, daß er von den Nächsten gehört werden konnte; murmelnd lief der Befehl weiter. Er ließ hierauf sein Pferd vorsichtig den Abhang hinabklettern, und ritt dann durch den hier kaum drei Fuß tiefen Fluß; ihm folgte zunächst Boleslaw mit seiner Schwadron. Die andern mußten, da der Übergang nur langsam zu bewerkstelligen war, eine ganze Zeit auf der Höhe halten.

Bernhard, der sich immer aufs genaueste zu orientieren suchte, stieß Ludwig leise an und sprach, indem er mit dem Finger nach der Gegend jenseit des Flusses deutete: »Sind das da drüben nicht matterleuchtete Fenster? Mir deucht, ich müßte mich sehr irren, wenn wir uns nicht ganz in der Nähe des Schlosses befänden, das uns heute früh schon auffiel.« – »Möglich!« entgegnete Ludwigs »Aber sieh nur den hellen Schein dort hinter uns! Was mag das bedeuten? Über der Waldspitze ist der Himmel ganz gerötet.« – »Es wird der aufgehende Mond sein«, sprach Jaromir, der hinzugekommen war.– »Das kann nicht sein,« entgegnete Bernhard, »denn der kommt erst um Mitternacht.« Da zuckte plötzlich ein roter Blitz durch den Nachthimmel, und ein blutiger Widerschein wurde in den Wellen des Stromes sichtbar. »Das ist Feuer!« rief Jaromir. »Seht, seht! Jetzt bricht es aus, die Flammen schlagen mächtig empor. Es ist Smolensk, das in Brand steht.«

Man konnte nicht mehr daran zweifeln, denn die düstere Glut, von hellern Feuerstreifen durchzuckt, wuchs jetzt mit jedem Augenblick gewaltiger am Horizont empor und fing an, ihren leuchtenden Glanz bis auf den Ort zu verbreiten, wo die Reiter hielten. Jetzt wurden auch die schwarzen Turmzinnen der Stadtmauer auf dem rotglühenden Hintergrunde sichtbar, und die Waldspitzen in der Nähe erschienen wie von der späten Abenddämmerung rötlich beleuchtet. Das schöne, aber furchtbare Schauspiel erfüllte jede Brust mit einem seltsamen Schauer. »Siehst du, daß ich recht hatte,« fing Bernhard jetzt wieder zu Ludwig an, indem er nach dem jenseitigen Ufer zeigte; »erkennst du nun das Schloß in dem roten Widerscheine der Flammen? Horch! die Glocke aus dem Dorfe. Ich glaube, man läutet Sturm!«

In der Tat lag das altertümliche Gebäude ganz deutlich, und kaum eine Viertelstunde entfernt, vor ihren Augen da. Eine wunderbare Empfindung regte sich in Ludwigs Brust. Sollte die halb im Scherz gesprochene Prophezeiung wahr werden? Sollten Mord und Brand auch hier wüten? Doch es blieb ihm keine Zeit zu diesen Betrachtungen, denn eben setzte sich auch der Zug, zu dem er gehörte, in Bewegung, um durch den Fluß zu reiten. Bernhard schloß sich dicht an ihn an; als ihre Pferde den Fuß in die Wellen setzten, sprach er halb im Scherz, halb schauernd: »Reiten wir durch den Phlegethon, durch den Styx oder Kokytos? Man weiß wahrlich nicht, ob es ein schwarzer oder ein feuriger Höllenstrom ist!« Der blutige Widerschein der Flammen, der sich brechend weit über die Wellen hinstreckte, veranlaßte ihn zu diesem Gleichnis. »Mindestens,« fuhr er fort, »ist es für uns der Rubikon, den wir passieren. Jacta est alea! Wir wissen kaum, ob wir hinüberkommen, geschweige, ob wir diesen Weg zurückreiten werden. Ich mache hiermit jedenfalls mein Testament, Bruder, hörst du? Sollten mich die Fische im Dnjepr, oder die Raben von Altrußland fressen, du bist mein Universalerbe. Aber mein Herz – ich verlange nicht, daß du mir den fühllosen Fleischklumpen aus der Brust schneidest – bringe deiner Schwester Marie mit zurück und teilt euch darein.«

»Wie kommst du jetzt auf die Schwester?« fragte Ludwig bewegt.

»Sie ist ein Goldmädchen, ein prächtiges, braves Kind, und verdiente einen bessern Bruder als du bist! Warum sie aber eben in dieser Minute vor meiner Seele steht, als hätte ich sie so treu wie ihr Spiegelbild porträtiert, weiß ich nicht; denn wir sehen wohl die Gedanken blühen, wissen aber nicht, wo sie gesät sind. Genug, obwohl meine Gedanken täglich zwanzig- bis dreißigmal nach Dresden und Teplitz reisen, so haben sie doch in dieser Minute einen ganz eigenen, mächtigen Flug dahin genommen, sie ziehen wie Schwalben nach der Heimat. Es muß seine Ursache haben, denn alles in der Schöpfung hat seine guten Gründe; ich will mir's aber merken, daß ich am 17. August genau abends zehn Uhr an Marien gedacht habe, und daß sie mir gerade in dieser Minute noch zehnmal lieber geworden ist als sonst.«

Ludwig drückte dem Freunde warm die Hand. Schon oft hatte er zu entdecken geglaubt und sich im stillen darüber gefreut, daß in Bernhards Brust eine leise, warme Liebe für die Schwester wohne, doch der eigentümliche Mensch ließ selbst den Freund fast niemals anders als durch die verzerrenden, gefärbten Gläser scherzenden Humors in das Innere seiner Brust schauen. Und überdies hatte Ludwig stets das Gefühl, als wenn Bernhards Seele von so vielfachen, größern Empfindungen und wildern, tiefern Leidenschaften, selbst solchen, unter denen sich eine weibliche Gestalt verschleierte, bewegt würde, daß die stille Blume einer Liebe zu der sanften, freundlichen Marie in diesem stürmenden Chaos unmöglich Wurzel schlagen konnte. Es lag etwas in seiner Natur, das zu sagen schien: ich möchte wohl unter dem Schatten dieser Bäume weilen, diese Frucht brechen, in dieser Hütte traulich wohnen; aber ich kann nicht, ich darf nicht, denn eine unbekannte, übermächtige Gewalt treibt mich wider meinen Willen vorwärts. Gleich dem Strome muß ich an den freundlichen Ufern vorüber, und spiegele ich auch bisweilen den blauen, lächelnden Himmel ab, rasch brausen die wilden, schäumenden Wogen nach und verzerren das sanfte Bild wieder. So sehr sich diese Brust nach einem fremden Herzen sehnt, ich darf keins zu mir heranziehen, denn ich müßte es in den tobenden Strudel meines Geschicks hinabreißen. Eine zarte Blüte würde ich, wenn ich sie an diese glühende Brust risse, nur versengen, daß sie schnell verdorrt herabsänke – ich würde sie vernichten, und wäre sie mir teuerer als mein Leben. Semele stirbt an der Brust des Zeus, selbst der Vater der Götter vermag ihr Geschick nicht zu wenden, so tief die Wunde in sein eigenes unsterbliches Herz dringt. – Doch diese eine warme Äußerung, welche Bernhard soeben getan, verscheuchte plötzlich alle diese Empfindungen bis auf die Erinnerung daran; mit herzlichem Tone erwiderte Ludwig daher: »Es ist wohl natürlich, daß du an sie denkst. In ernsten, tiefaufregenden Augenblicken unsers Lebens treten die Gestalten unserer Lieben um so lichter hervor, je düsterer der Grund ist, auf dem sie sich abmalen. Auch ich–«

»Ja, ja, du hast recht,« sprach Bernhard, halb ablenkend, halb scherzend, »das Bild hier ist verteufelt schwarz grundiert; aber es kommt schon Licht hinein, denn die Pechfackeln da unten am Himmel brennen immer loher auf. Man wird bald die Mäuse auf dem Felde laufen sehen. Aber ich finde, der Dnjepr ist verwünscht kalt, und dein Gaul hat mir noch dazu ein ganzes Maul voll Wasser über die Lende gespien. Wenn du ein guter Kamerad sein willst, so mußt du besser auf dein Pferd aufpassen. Gott sei Dank! Land! Ich habe nie viel von den Seereisen gehalten.« Unter diesen Worten ritten sie das jenseitige, fast noch steilere Ufer hinauf.

Als das Regiment versammelt war, rückte Rasinski, dem der Bote fortwährend zur Seite blieb, in möglichster Stille gegen das gerade vor ihnen liegende Schloß heran. Sie waren jetzt nur noch einige hundert Schritte davon entfernt. Rasinski ließ halten. »Freunde,« sprach er, »wir sind am Ziele. Dort im Schlosse sind, wie ich mit Sicherheit weiß, viele russische Generale, und Vornehme zu einem Hochzeitsfest beisammen. Sie aufzuheben ist die Absicht unserer gewagten Unternehmung. Jetzt laßt uns leise heran, bis wir den Boden eben vor uns sehen, daß kein Hindernis mehr uns aufhalten kann. Dann aber wie die Windsbraut drüber hin! Nun vorwärts, Freunde, haltet euch wacker, seid schnell, kühn, doch behutsam! Vorwärts!« Sie rückten vor bis an einen sanften Abhang. Jetzt ließ Rasinski zum Angriff blasen, und im vollen Laufe der schnaubenden Rosse sprengte die Schar den Weg zu Schloß und Dorf hinan.


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