Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Sechstes Kapitel.

Mitternacht war vorüber. An einem größern Feuer, unter einer breitästigen Eiche, in den Reitermantel gehüllt, lag Rasinski und schlief auf dem schlichten Lagerstroh, ohne das Obdach einer Hütte oder eines Zeltes über sich zu haben; Boleslaw, Jaromir, Bernhard und mehrere jüngere Offiziere waren um ihn gelagert.

Eine Ordonnanz trat in den Kreis und fragte Ludwig, der eben die Feuerwache hatte, nach Rasinski. Noch ehe er antworten konnte, fuhr dieser, dessen leiser Schlummer seine Wachsamkeit kaum unterbrach, bei dem Klange seines Namens auf.

»Was gibt's?« fragte er, sich aufrichtend.

Die Ordonnanz überreichte ihm einen versiegelten Zettel, den Rasinskt bei dem Schimmer des Biwakfeuers las. »Sehr wohl, Kamerad! Ich werde pünktlich sein«, sprach er, nachdem er den Inhalt gelesen hatte.

Die Ordonnanz entfernte sich wieder. Rasinski rief nach seinem Reitknecht. »Sattle sogleich meinen Rappen,« gebot er diesem; »und auch ihr, Freunde,« wandte er sich zu Ludwig und dem gleichfalls erwachten Bernhard, »sattelt euere Pferde, denn wir müssen sogleich fort.«

Schnell sprangen beide auf und eilten nach ihren Pferden; denn sie hatten sich's zum Gesetz gemacht, alle Arbeiten des Soldaten selbst zu verrichten, um weder weichlich zu erscheinen, noch Neid zu erregen. In wenigen Minuten kehrten sie zu Pferde zurück. Rasinski war schon aufgesessen. Die übrigen Offiziere, welche am Feuer gelegen hatten, waren erwacht und aufgestanden. »Ich bin wahrscheinlich vor Tagesanbruch zurück,« sprach Rasinski; »sollte indessen während meiner Abwesenheit etwas vorfallen, so haben Sie sich an den Rittmeister Negolinski, als den ältesten des Regiments, zu wenden. Er ist bereits benachrichtigt. Auf Wiedersehen!«

Sie ritten im Schritte hinweg, den Hügel herab durch das Gebüsch gerade auf das Zelt des Kaisers zu.

»Wie spät ist's?« fragte Rasinski.

»Halb zwei Uhr«, erwiderte Bernhard.

»So kommen wir noch fast zu früh. Um zwei Uhr, im ersten Dämmerschein will der Kaiser den Niemen rekognoszieren; ich bin befehligt, mich seinem Gefolge anzuschließen, weil ich die Gegend genau kenne. Ich empfehle euch möglichste Stille, lieben Freunde, denn in so wichtigen Zeitpunkten, wo der Kaiser seine ungeheuern Entwürfe abwägt, haßt er jedes müßige Geräusch.«

Beide junge Männer wurden durch diese Worte in eine feierliche Spannung versetzt. Zum ersten Male sollten sie jetzt Zeugen eines jener großen Augenblicke sein, wo der Beherrscher Europas die ersten Fäden zu einem kühnen, riesenhaften Gewebe aufspannte. Sie wurden gewissermaßen in die Werkstätte der Weltgeschichte geführt, sollten dem unscheinbaren Quell der Ereignisse nahen, der, zum Strom, zum Ozean anwachsend, die Geschicke ganzer Nationen auf seinen brausenden Fluten zu wiegen bestimmt war.

Stumm ritten sie, dem gleichfalls ernst schweigenden Führer folgend, durch Nacht und Wald dahin, zwischen den rechts und links düster glimmenden Feuern des Lagers hindurch, auf das Zelt des Kaisers zu. Sie fanden dort schon mehrere Generale und Offiziere versammelt. Einige Minuten später trat der Kaiser aus dem Zelt und schwang sich aufs Pferd. Es begann schon zu dämmern; doch war die ganze Landschaft noch in einen grauen Schleier, welchen hier und da die Morgennebel verdichteten, gehüllt. In weniger als einer Viertelstunde hatte man die Waldhöhen, welche den Lauf des Niemen begleiten, erreicht. Der schöne Strom schimmerte blaß glänzend, halb erlöschende Sterne widerspiegelnd, zwischen den dunkeln Ufern. Jenseit beginnt das russische Gebiet.

Der Kaiser hielt auf der Anhöhe still und sah sich einige Zeit aufmerksam nach allen Seiten um. Dann sprengte er im kurzen Galopp die Höhe hinunter nach dem Flusse zu. Als sein Pferd die feuchte Sandfläche des Ufers erreichte, sank es plötzlich mit den Vorderfüßen ein, stürzte und schleuderte den Reiter über sich hinweg auf den Boden.

Einen Augenblick fühlte sich jeder durch dieses Ereignis, welches einem unheilvollen Vorzeichen zu ähnlich sah, betroffen; Rasinski war so überrascht daß er unwillkürlich halblaut ausrief: »Ein Römer würde umkehren.« Das rings herrschende tiefe Schweigen und die Morgenstille, welche den Schall so weit fortpflanzt, bewirkte, daß die Worte von allen gehört wurden. Selbst der Kaiser, der rasch aufgesprungen war, mußte sie vernommen haben, denn er sah sich aufhorchend um, sagte jedoch nichts. Ruhig bestieg er sein Pferd wieder und setzte die Rekognoszierung fort. Er rief Rasinski in seine Nähe und sprach öfters lebhaft mit ihm. Eine gute Stunde lang ritt er, am Ufer entlang, dann wandte er um, sprengte einen Hügel hinab, winkte den Marschall Berthier zu sich und befahl, indem er mit der Hand auf den Strom deutete, daß mit der einbrechenden Abenddämmerung an drei Punkten des Ufers, die er bestimmt angab, Brücken geschlagen werden sollten. Hierauf kehrte er nach seinem Zelte zurück, und Rasinski ritt mit seinen beiden Begleitern der Stelle seines Biwaks wieder zu.

Der Tag verging in einer erwartungsvollen Unruhe. Das Zelt Napoleons wurde abgebrochen. Er begab sich in ein unfern gelegenes Bauernhaus, das er von Zeit zu Zeit verließ, um einen Ritt durch das Lager zu machen und den Mut der Truppen durch seine Gegenwart zu beleben. Mit der steigenden Sonne wurde es schwül und schwüler. Die drückende Hitze der langen Sommertage des Nordens drohte alles zu ersticken; die Sonne schoß glühende Pfeile herab. Die Truppen hielten sich still im Lager; die Sorge für die Pferde und Waffen war die einzige Beschäftigung, welche man vornahm; doch selbst diese ermüdete in der durchglühten Luft. Jedes schattige Fleckchen wurde aufgesucht und benutzt; ein frischer Trunk war das einzige Labsal, wonach man strebte. In Ägypten, in Syrien, nicht in dem nordischen Rußland glaubte man Krieg zu führen.

Endlich wuchsen die Schatten wieder, die Sonne neigte sich. Gegen acht Uhr abends brachen einige Pionierabteilungen nach dem Strome auf, um die Brücken zu schlagen. Mit der näher und näher rückenden Minute der Entscheidung stieg die Spannung. Schon deswegen würde der Schlaf die erwartungsvollen Krieger geflohen haben, wenn sie auch nicht in der ermattenden Hitze des Tages der Ruhe gepflegt hätten. Endlich um Mitternacht kam der Befehl zum Aufbruch. In größter Stille sollte man ausrücken; kein Laut durfte gehört, kein Funke gesehen werden.

Rasinski ließ aufsitzen und rückte in dicht geschlossenen Kolonnen auf einem breiten Wege vor, der nach dem Strome führte. Nach einer halben Stunde machte man halt auf einem mit tauigem Getreide bewachsenen Hügel. Die hungerigen Pferde rupften das junge Korn ab; die Leute lagerten sich auf dem feuchten Boden. Mit Ungeduld erwartete man den Anbruch des Tages. Düstere Nachtnebelwolken verzögerten ihn. Endlich erhob sich ein frischer Wind, zerstreute die Dünste und enthüllte das erste, zarte Morgenrot, welches aus dem tiefen Rußland herüberglänzte. Jetzt vermochte der Blick über die jenseitigen Ufer hinzuschweifen, denn man überblickte sie weithin von den Hügeln, auf denen man stand. Welch ein düstere Ahnungen weckender Anblick! Nur über unermeßliche Wälder und wüste Sandsteppen schweifte das Auge hin. Wie? Zog man deshalb aus, um mit so vielen tausend Opfern, mit Strömen Blutes ein so ödes, unwirtbares Land, das nur einem unermeßlichen Gefängnis glich, erobern zu wollen? Eine trübe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich der Seele des Kriegers. Da tönte ein schmetterndes Trompetensignal; die Sonne stieg blutig, aber glänzend über dem schwarzen Fichtenwalde empor, und ein frisches Wehen der Morgenlüfte erfüllte die Brust wieder mit Freude und Kraft. Aller Augen wandten sich zurück nach der Gegend, woher das kriegerische Zeichen des Aufbruchs erklang. Es war am Gezelt des Kaisers, welches man in der Nacht auf der höchsten Uferhöhe aufgeschlagen hatte. Die Sonne beleuchtete es strahlend; prächtig schimmerten die weißen, blauen und roten Felder der dreifarbigen Fahnen, die es schmückten. Ein glänzendes Gefolge von Marschällen und Generalen hielt vor dem Zelt. Der Kaiser trat heraus, grüßte militärisch und schwang sich auf seinen arabischen Schimmel. Jetzt brachen wie auf einen Wink die Kolonnen aus dem Saume des Waldes hervor. In wenigen Minuten bedeckten sich alle Hügel mit den schwarzen strömenden Massen, aus deren hellen Waffen die glühende Morgensonne zurückblitzte. Das ganze Gefilde wogte und leuchtete; das Herz wuchs bei dem Anblick dieser ungeheuern Kräfte. In drei breiten Strömen ergoß sich die schwarze Flut schlängelnd durch die Strandebenen gegen die drei Brücken zu, welche die Ufer des Stroms verbanden, dessen Spiegel bald die Scharen verdoppelte. Jetzt brach auch der Kaiser auf und ritt mit seinem Gefolge an den Kolonnen hinunter, der mittlern Brücke zu und hinüber. Nicht zagend, nicht bedenklich, betrat er das feindliche Ufer; ungestüm, feurig sprengte er hinüber. Jenseit hielt er an und ließ die Scharen an sich vorüberziehen; der Blick seines dunkeln Auges entzündete ein unerlöschliches Feuer des Mutes in der Brust der Krieger. Sie begrüßten ihn mit lautem Jubel, daß das ganze Gefilde erdröhnte und die stummen Waldwüsten das brausende Getöse staunend zu vernehmen schienen.

Erst gegen die zehnte Vormittagsstunde rückte Rasinski mit seinem Regiment über die Brücke; der Kaiser sah ihn wohlwollend an und grüßte freundlich, als die Polen in ihrer Sprache den Jubelruf: »Es lebe der Kaiser!« erhoben. Dann wandte er plötzlich sein Roß und jagte pfeilschnell die sandige Landstraße hinunter, tief in den Wald hinein, so daß er den Blicken seiner Krieger völlig verschwand. Ein Gefühl seltsamer Unruhe bemächtigte sich sogleich ihrer Brust, als sie den, der sie in diese Öden des Nordens geführt hatte, plötzlich allein in denselben verschwinden sahen, als würde er von der Wüste verschlungen. Doch bald kehrte er mit verhängtem Zügel zurück. Er sah unruhig, mißmutig aus; es schien ihn zu verdrießen, daß er den Feind, den sein kampfbegieriges, sieggewisses Herz herbeigewünscht, nicht antraf.

Langsam zogen die Heermassen den Strom aufwärts. Jetzt hörte man in der Ferne Kanonendonner. Man lauschte; es dröhnte abermals dumpf, wie fernes Krachen des Geschützes.

In aller Zügen las man die unruhige, erwartungsvolle Spannung; die Reihen schlossen sich dichter, ordneten sich strenger. Adjutanten sprengten hin und wieder; Generale jagten die Uferhöhen hinauf. Man durfte vermuten, daß eines der Seitenkorps unter dem Könige von Westfalen oder dem Vizekönige von Italien den Kampf angenommen habe. Da tönte das dumpfe Rollen stärker, aber es war nicht das einer fernen Schlacht, sondern der Donner eines schwer heraufziehenden Gewitters.

Schon wuchs das schwarze, mit schwefeligen Wetterstreifen durchzogene Gewölk über die niedern Waldhügel herauf; der Strom schoß in finstern Wellen dahin; die Sonne verschwand. Von allen Seiten zog sich die düstere Hülle über das reine Blau des Himmels; ringsumher rollte der Donner; eine erstickende Schwüle beklemmte den Atem. Schweigend, langsam rückte das Heer vorwärts; man vernahm nichts als das geheimnisvolle, hoch über den Häuptern und rings in den Tiefen der Wälder murmelnde Getöse des Donners. Jetzt erhob sich auch der Sturm, zog sausend heran und jagte die Wellen mit schäumenden Häuptern zwischen den Ufern dahin. Plötzlich zuckte ein furchtbarer Blitz durch den Himmel, daß der ganze Horizont in Feuer stand und der Niemen die flammende Helle rötlich zurückspiegelte. Mit bleichem Antlitz sahen die Krieger einander an. Da krachte der Donner betäubend über ihren Häuptern, der Himmel zerriß und in zischenden Strömen prasselte der Regen herab.

Das war der Empfang auf Rußlands Boden!


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