Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Siebentes Kapitel.

»Gott sei Dank,« rief Joseph, »daß wir angelangt sind! Es war kein kleines Tagewerk. Ich bin sonst auch nicht der Schwächste, aber wir haben heut ein gut Stück Wegs zurückgelegt!« Der Maultierführer half Ludwig vom Sattel herab; ein dienstfertiger Kellner war schon zu derselben Hilfeleistung bereit und lud ihn ein, in das wohlgeheizte, erwärmte Gemach zu treten, wo schon einige andere, soeben erst eingetroffene Gäste beim Nachtessen versammelt seien.

Es machte einen eigentümlichen Eindruck auf Ludwig, aus der tiefen Öde und schauervollen Wildnis, in der er den ganzen Tag zugebracht hatte, sich plötzlich in die bequemen Gleise des geselligen Lebens, des muntern Verkehrs zurückgeführt zu sehen. Denn er trat in einen gastlichen, geräumigen Saal, in welchem er eine gedeckte Tafel fand, auf der eine Anzahl von Kerzen hell und einladend schimmerte. Am obern Ende, dem Ofen zunächst, saßen drei Reisende, denen man soeben das Abendessen aufgetragen hatte. »Die Herren haben sich bereits zu Tisch gesetzt,« sprach der Kellner; »ist Ihnen gefällig, mein Herr, sogleich an der Mahlzeit teilzunehmen, oder wünschen Sie zuerst auf ein Zimmer geführt zu werden, um sich's bequem zu machen?«

Ludwig, welcher keine Reisebequemlichkeiten weiter bei sich trug, sondern so, wie er ging und stand, fertig war, hätte auf diese Behaglichkeit verzichten müssen, wenn es ihm auch nicht angenehm gewesen wäre, sogleich zu Nacht zu essen, um nachher schnell zur Ruhe gehen zu können. Er näherte sich daher den Fremden und begrüßte sie, indem er Platz nehmen wollte, jedoch ohne sie anzureden. Sie erwiderten seinen Gruß mit einer so zuvorkommenden Gefälligkeit, daß er sich schon dadurch wohltuend berührt fühlte. Er faßte die Gäste näher ins Auge. Es schienen ihrer Tracht und ihrem gebräunten Antlitz nach Offiziere zu sein. Zwar hatten sie ihn französisch angeredet, doch zeigten sie etwas in ihrem Wesen, das einer andern Nation ähnlich sah. Zwei, von denen der Ältere etwa sechsunddreißig, der Jüngere einige zwanzig Jahre zählen mochte, hatten schwarzes Haar und kurze, schwarze Knebelbärte; der dritte war blondlockig und frisch von Farbe. Ludwig setzte sich und suchte, seiner Stimmung Gewalt antuend, die heitere Höflichkeit der Fremden zu erwidern. »Kommen die Herren aus Italien, oder wollen Sie dahin?« fragte er.

»Unser Weg,« erwiderte der Ältere, dessen hoher Wuchs und, man hätte sagen mögen, königliches Ansehen ihm etwas Gebietendes gaben, »unser Weg führt uns hoffentlich weit nach Norden. Vorläufig wollen wir jedoch nach Deutschland, und zwar nach Dresden, wohin der französische Kaiser sich in diesen Tagen begeben wird.« – »Der Krieg scheint also gewiß?« fragte Ludwig. – »Wir hoffen es«, sprach der Fremde mit einem Ton der Stimme, der mehr ausdrückte als die gewöhnliche Freude eines Soldaten, welcher beim Beginn eines Feldzugs eine Reihe glänzender Taten und Hoffnungen unbestimmt in der Zukunft schimmern sieht.

Ludwig schwieg. Sein deutsches Herz sah mit unwilliger Wehmut die Scharen fremder Krieger aufs neue sein Vaterland überschwemmen; doch sagte ihm die unabweisbare Richterstimme der Wahrheit, daß Deutschlands Schmach nicht unverdient sei, und daß, wie schwer das fremde Joch sein mochte, wie hart es war, sich ohne Wahl und unbedingt dem Sieger anschließen zu müssen und seinen kolossalen Zwecken zu dienen, es, wenngleich demütigender für die Fürsten, doch für die Völker immer noch ehrenvoller blieb, als der feigen, elenden, schmachvollen, eigennützigen Politik preisgegeben zu sein, wodurch seit einem Jahrhundert, vorzüglich aber seit dem Tode des großen Friedrich die deutsche Nation von ihren eigenen Fürsten so tief herabgewürdigt worden war. Die drei Worte des Fremden: »Wir hoffen es«, weckten daher den ganzen innern Zwist seiner Brust so lebhaft wieder in ihm auf, daß sogar die schmerzliche Besorgnis, die ihn seit gestern erfüllte, einen Augenblick dadurch verdrängt wurde.

Der Fremde schien die Bewegung, die in Ludwigs Seele vorging, zu durchschauen. Nach einigen Augenblicken allgemeiner Stille erwiderte er mit ruhiger Würde, und zwar in deutscher Sprache: »Es befremdet Sie, mein Herr, daß ich von einem aller Wahrscheinlichkeit nach furchtbaren Kriege sagte: wir hoffen ihn; es befremdet Sie um so mehr, da Sie, wie ich höre, ein Deutscher sind. Wir sind es durch langen Aufenthalt halb und halb: erlauben Sie daher, daß wir uns in der Sprache Ihres Landes unterhalten. Es muß Ihnen vielleicht frevelhaft leichtsinnig scheinen, daß wir auf eine Wendung der Weltbegebenheiten hoffen, der halb Europa mit Zittern, mit düsterer Trauer entgegensieht. Es ist freilich ein hartes Los, sich in einer Lage zu befinden, wo man nur aus einem großen, allgemeinen Unheil Hoffnungen für die eigenen teuersten Güter schöpfen kann; allein wir sind in diesem Fall.« Hier hielt er einen Augenblick inne, als hindere ihn die Bewegung seines Gemüts weiterzusprechen. Die edeln Züge seines Angesichts erhielten durch den Ausdruck eines erhabenen Schmerzes eine Art von Weihe; auf der hohen Stirn lagerte sich eine dunkle Wolke der Schwermut; das Auge starrte träumerisch vor sich hin, ohne daß der Wille den Blick bestimmte; denn die ernsten, schweren Gedanken, die in seiner Brust auf- und niederwogten, waren fern von der Außenwelt.

Ludwig fühlte sich wunderbar ergriffen; er wagte es nicht, die tiefe Stille zu unterbrechen. Auch die beiden jüngern Begleiter des Fremden schwiegen und hingen mit wehmütigen Blicken an seinem Angesicht. »Wir sind Polen, mein Herr«, sprach dieser nach einer Pause mit männlich gefaßtem Tone. »Wir erwarten von dem bevorstehenden Kampfe ein Vaterland, während wir jetzt heimatlos in der Verbannung umherschweifen müssen. Sie begreifen nun wohl, daß ich sagen durfte: wir hoffen den Krieg!«

Ludwig war so überrascht, daß er nicht gleich etwas zu erwidern wußte; allein der Fremde überhob ihn der Mühe, indem er das mit Wein gefüllte Glas vor seinem Teller ergriff und sprach: »Dem Vaterlande! Diesen Toast muß jeder Wackere mittrinken, er sei welches Volkes er wolle.« Ludwig stieß an; auch die übrigen näherten die Gläser zu dem feierlichen Toast, der unter den obwaltenden Verhältnissen der Zeit in jedem einen so ernsten Anklang finden mußte.

Es war, als hätte der Fremde mit dem Glase Wein seine düstere Stimmung wie durch ein Zaubermittel verbannt. »Wir sind Reisende,« begann er, »die zu einer ungewöhnlichen Zeit auf einer ungewöhnlichen Stelle zusammentreffen, Von den Gebirgen des Gotthard, auf denen wir uns befinden, sprudeln die Quellen nach allen vier Gegenden der Welt und gießen ihre Ströme nach Deutschland, Frankreich und Italien aus. Dagegen führen die Straßen dieser Länder auf diesem Punkte zusammen und verschlingen sich in einem begrüßenden Knoten. Man trifft sich hier gewissermaßen an einem Kreuzwege der Welt. Morgen folgt der dem Rhein oder der Reuß, jener dem Tessino, der dritte der Rhone. Den Augenblick des Beisammenseins soll man genießen, ihn als eine frohe und teuere Erinnerung bewahren; denn wer weiß, ob man sich je noch auf den Straßen dieser Erde wieder begegnet? Wir drei,« fuhr er gegen Ludwig gewendet fort, »kennen uns, sind Landsleute, Kriegskameraden. Sie müssen fremd zu uns sein, wir zu Ihnen, wenn wir hier nicht eine vertrauliche Offenheit walten lassen: so könnte uns eine glückliche Stunde, der wir vielleicht alle gern künftig einmal gedenken, kalt, ungenossen vorübergehen. Ich denke daher, wir tauschen Namen um Namen. Der meinige ist Stephan Rasinski; ich bin Oberst in des Kaisers Heer; diese, meine jungen Freunde und Kameraden, sind Offiziere desselben Regiments, Graf Boleslaw und Graf Jaromir; und Sie, mein Herr?«

– »Mein Name ist Ludwig Rosen, ich bin ein Deutscher«, entgegnete Ludwig. – »Willkommen denn! Rosen ist ein schöner Name. Wohl dem, welchem noch Rosen blühen, und wären es auch nur Alpenrosen. Diese Zeit ist für mich dahin; denn wer bald sein vierzigstes Jahr erreicht hat, darf nicht mehr an Blüten denken und kann höchstens noch auf einige späte Früchte hoffen. Nun, auch ich sah Blüten – und sah sie auch fallen! Auf die Entfaltung jeder schönen Blüte, der Jugend, der Hoffnung, der Liebe! Stoßt an, junge Freunde, dieser Wunsch geht euch mehr an als mich!«

Ludwig entsprach der Aufforderung in einer seltsamen Bewegung. Der Trinkspruch Rasinskis traf sein Herz schmerzlich; aber er erfüllte es auch wieder mit leisem Schimmer der Hoffnung; denn, wie es in solchen Stimmungen zu sein pflegt, er fand eine Art glücklicher Vorbedeutung in dessen Trinkgruß. Noch eine zweite Empfindung stieg lebhaft und Reue erweckend in ihm auf. Wie glücklich war die Offenheit des Grafen, welche vier Fremde wie durch das einzige gewissermaßen zauberisch wirkende Mittel des Austausches der Namen und nächsten Verhältnisse so rasch zusammenführte! Wenn ich nicht, dachte er, in scheuer Zurückhaltung es versäumt hätte, dem holden unbekannten Wesen, das mir seine nähern Verhältnisse verhüllen mußte, wenigstens die meinen zu entdecken, ihr meinen Namen zu nennen, so wäre das Band zwischen uns doch nicht völlig abgerissen, wenn ich sie auch jetzt nicht wiederfände. Nein, wie zart auch weibliches Handeln sein muß, gewiß würde Bianka mir ein Zeichen zukommen lassen, an dem ich sie dereinst wieder auffinden könnte. So hat diese ängstliche Versäumnis mich vielleicht unwiederbringlich um das Glück meines Lebens gebracht!

Diese Gedanken erfüllten Ludwigs Seele, während das Gespräch sich über andere Dinge rasch fortbewegte. Graf Rasinski schien absichtlich die Rückkehr zu dem ersten Anfangspunkt, den er genommen hatte, zu vermeiden; die jungen Offiziere ehrten darin bescheiden seinen Wunsch. Man sprach von Italien, von Paris, von den Eigenschaften des Kaisers als Feldherr und Staatsmann, von seinem Zuge über den Großen St. Bernhard, dem man so nahe war, von den furchtbaren Rüstungen zu dem bevorstehenden Kriege, von den verwegenen Entwürfen seines Geistes überhaupt, der die Fahnen Frankreichs rastlos von den Pyramiden bis zum Tajo, vom Tajo bis in die Schneegefilde Rußlands führe – kurz, man sprach über alles, was damals den Geist jedes Denkenden mächtig aufregte, was alle Zungen Europas in Bewegung setzte.

So verschwand unvermerkt eine Stunde; das Mahl war vorüber, man begab sich zur Ruhe. Von mannigfaltigen Gedanken und Gefühlen so aufgeregt, daß er selbst nach den großen Anstrengungen des Tages nicht gleich einschlafen konnte, überdachte Ludwig auf seinem Lager, was er für den nächsten Morgen zu tun habe. Sollte er vorwärts, sollte er zurück? Machte er den Versuch, Bianka auf einer andern Straße aufzusuchen, oder sollte er nur die nächste, welche ihn nach Deutschland führte, unablässig verfolgen? Es war ihm nicht entgangen, daß die Polen mit ihm ein und dasselbe Ziel der Reise hatten, und im ersten Augenblicke hätte er sich fast freudig verraten; allein es war ihm doch lieb, zur rechten Zeit geschwiegen und sich beherrscht zu haben; denn er würde sich durch eine solche Begleitung der Möglichkeit beraubt haben, seine Nachforschungen fortzusetzen. Er beschloß daher endlich, wenn es angehe, ohne von seinem hauptsächlichen Zweck zuviel aufzugeben, sich sobald als möglich wieder von den neuen Bekannten zu trennen. Unter diesen Gedanken entschlief er endlich, von der großen Müdigkeit übermannt.


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