Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Nachdem es Rasinski glücklich gelungen war, mit seinen Freunden und den wenigen Kameraden, die ihm geblieben waren, das rechte Ufer des Stroms zu gewinnen, der so viele Tausende verschlang, setzte er seinen Weg noch bis Zembin fort. Hier traf er den Marschall Ney, dem wiederum die schwerste Aufgabe, den Rückzug zu decken, geworden war. Die größten Drangsale und Beschwerden schienen jedoch nun überwunden zu sein, denn man befand sich in einem nicht so verwüsteten Lande mehr, und die Einwohner hegten befreundetere Gesinnungen. Die Sehnsucht nach Erlösung sah den mindesten Hoffnungsschimmer für Erfüllung an; doch der unerbittliche Zorn des Geschicks war noch nicht gesättigt. Er schlummerte nur, um mit neuem Heißhunger auf seine Opfer einzustürzen.

In Zembin gelang es Ludwig, einen kleinen Schlitten, der kaum für zwei Menschen Raum hatte, für Bianka zu erhalten, die bis dahin zu Fuß gegangen war. Rasinski ließ das Pferd eines Verwundeten, dem das Reiten nicht mehr möglich war, einspannen und schaffte diesen selbst dadurch fort, daß er das Geschäft des Führers übernehmen mußte. Bernhard und Ludwig drangen vergeblich in Bianka, daß sie jetzt, da es möglich sei, einen Vorsprung zu gewinnen suchen solle, um Wilna zu erreichen, auf welches alle, wie der verschlagene Schiffer auf einen Rettungshafen, hofften. Sie war unerschütterlich in ihrem Vorsatz, Bruder und Geliebten nicht einen Augenblick mehr zu verlassen. »Nennt es nicht aufopfernde Liebe, was mich euern Bitten Widerstand leisten läßt,« sprach sie; »es ist eigennützige: in euerer Nähe habe ich die furchtbarsten Gefahren, innerlich getröstet, überdauert; fern von euch würde der kleinste Unfall mich ratlos und verzagt finden. Nein, laßt mich bei euch; was uns gemeinsam trifft, ist süßes Leid, wenn es auch das schwerste wäre. Doch nur das starre Grauen der Verzweiflung würde die Einsame umgeben.«

Es gibt Liebesopfer, die wir mit Schmerz und Bangen annehmen und sie dennoch nicht zurückweisen können. Die Grenze, wo gegenseitige Pflichten sich scheiden, ist dem schärfsten Blick nicht mehr erkennbar. Das Herz ergibt sich endlich willenlos der Zukunft und wagt keine selbständige Entscheidung mehr zu treffen. So auch hier; Bernhard und Ludwig unterwarfen sich den rührenden Bitten Biankas, denn wer hätte es auch ermessen, ob die äußern Gefahren und Drangsale, welche sie abzuwehren dachten, den innern Qualen, die Ferne und Angst der von Freund und Bruder Getrennten auflegen mußten, das Gleichgewicht halten würden?

An eine Ordnung des Armeekorps, an eine feste Abteilung des Heeres war nicht mehr zu denken. Jeder hielt sich zu den Truppenteilen, bei welchen er die meiste Sicherheit zu finden hoffte, oder wohin der Zufall ihn führte. Rasinski schloß sich wieder an Ney an; teils aus Neigung für den Feldherrn, mit dem er so vieles getragen und überwunden hatte, teils, weil seine kriegerische Ehrliebe ihm die Gefahren des Kampfes immer als die ruhmwürdigern zeigte. Endlich blieb ihm auch keine andere Wahl, da die Erschöpfung seiner Leute, mit denen er bis zum letzten Augenblicke zusammenzuhalten beschlossen hatte, es nicht gestattete, diejenigen Truppenteile zu erreichen, die schon einen Vorsprung gewonnen hatten. Der Feind drängte auf den nächsten Tagemärschen zwar nach, aber er verfolgte noch nicht heftig; nur einige Kosakenschwärme, die man oft mit einem einzigen Kanonenschuß auf Stunden verjagte, belästigten den Rückzug.

Da kam der Tag, für den der erbitterte Feind des Heeres, der Winter, seinen ganzen Zorn aufgespart zu haben schien. Es war in der Nacht zum 4. Dezember, als der Südwest plötzlich in einen schneidenden Nordost umsetzte und auf seinen Flügeln alle Schrecken des Eispols heranführte, um die letzten Trümmer jenes stolzen Heldenheeres zu vernichten, das sich endlich durch den Strom tausendfacher Drangsale bis zum rettenden Ufer herangekämpft zu haben glaubte. Tückisch lauernd hatte der Winter sich bisher halb verhüllt und nur die ahnenden Schrecken seiner Gegenwart in die grauende Brust gesenkt; jetzt war er durch die finstere Nacht dicht herangeschlichen und überfiel die Wehrlosen im Schlaf. Von seiner starren Hand mit schneidendem Schmerz berührt, schlugen sie das Auge auf, und das erbarmungslose Ungeheuer stand in seiner ganzen Entsetzlichkeit vor ihnen.

Rasinski hatte mit allen den Seinigen und vielen andern Kameraden in einer großen Scheuer gelegen, wo nur gegenseitige Nähe sie erwärmte, weil der Raum kein Feuer zuließ. Gegen Morgen erwachte er von einem stechenden Schmerz in Händen und Füßen; er wollte aufspringen, fand sich aber wie gelähmt. Mit Mühe beugte seine Willenskraft endlich die starren Sehnen, und er richtete sich empor; da sagte ihm ein Atemzug, daß jetzt der moskowitische Winter vor den Pforten gelagert sei, und sein erstarrender Hauch tödlich über alles Lebende dahinwehe. »He!« rief er sogleich und rüttelte Jaromir, der ihm zunächstlag: »He! Auf! Boleslaw, Jaromir, Bernhard!« Taumelnd fuhren diese aus den festen Banden des Schlafes empor; doch ihre Glieder waren an dem kalten Boden so erstarrt, daß sie sie nicht regen konnten. »Tut euch Gewalt an,« rief Rasinski, »sonst seid ihr verloren. Heute bricht die Morgensonne des wahren Winters an. Bisher hat er nur von fern gedroht, heut, ich fühle es, stürmt er mit seinen alles lähmenden Waffen durch unsere Reihen.«

Bei diesen Worten schüttelte und rüttelte er die Freunde und war ihnen behilflich, sich emporzurichten. Nach und nach entstand in dem ganz düstern Raum der Scheuer, in den nur der Widerschein einiger draußen angezündeten, halb verglimmenden Feuer hineinfiel, ein dumpfes Murmeln und Bewegen. Dazwischen ertönte ein jammerndes Wehklagen des Schmerzes, welches Kranke und Leichtverwundete oder solche ausstießen, die schon den schleichenden Tod in den Gliedern fühlten, welche die Kälte wie mit einem feinen, furchtbar zerstörenden Gift durchdrang. »Teufel, ist das ein Wetter!« murmelte Bernhard, indem er sich dichter in seinen Pelz einknüpfte; »es packt an wie die Tatzen eines Eisbären! Bianka, liebstes Herz, wie ist dir?« Die Standhafte unterdrückte Schmerz und Besorgnis. »Mir ist wohl, Lieber,« erwiderte sie; »ich bin an dieses Klima gewöhnter als du. Auch sind wir ja noch so gut mit Kleidern versehen.« – »Durch deine Sorge und Güte«, fiel Ludwig ein. »Doch wehe den Unglücklichen, die keinen so dichten Schild gegen die scharfen Pfeile dieser Kälte haben!«

Das zunehmende Getön des Jammers umher entriß diese Worte fast unwillkürlich den Lippen Ludwigs. »Haltet euch dicht beisammen, Freunde,« ermahnte Rasinski; »in diesem Gedränge verliert man einander gar zu leicht.« Diejenigen, welche erwacht waren, hatten sich aufgerafft und eilten den Feuern zu, die draußen brannten, weil sie sich dort zu erwärmen hofften. Zugleich trieb sie der Hunger an, indem sie die während der Nacht von den wachenden Kameraden bereiteten Speisen zu genießen dachten. Doch bei weitem nicht alle hatten die Kräfte, dies nahe Ziel zu erreichen. Die meisten taumelten, von Schlaf und Kälte betäubt, übereinander hin; viele blieben regungslos am Boden liegen. Müdigkeit und Frost hatte sie so gelähmt, daß sie sich nicht aufzurichten vermochten; die Macht des Willens war auch bei den Stärksten gebrochen, und sie zogen es vor, in dumpfer Erstarrung den Tod zu erwarten, als sich zu neuen Martern emporzuraffen.

Bernhard und Ludwig nahmen Bianka, die das dicht in Pelze gehüllte Kind Alisettens trug, in ihre Mitte. Rasinski ging mit Boleslaw und Jaromir vor ihnen her; die noch übrigen Leute des Regiments folgten nahe hinter ihnen. So erreichten sie, über manchen am Boden Liegenden und schwer Aufstöhnenden dahinschreitend, das Freie. Der Schnee kreischte pfeifend unter ihren Füßen; die Luft schien mit einem eisigen Staub erfüllt, der beim Atmen fast stechend auf die Brust fiel; Augen, Lippen, Wangen fingen an zu schmerzen, sowie der Hauch des nicht heftigen, aber schneidend scharfen Windes sie traf.

Einige Trommeln erschallten mit dumpfem Klang, um zum Aufbruch zu mahnen; doch dieses Zeichen, wobei sonst der Krieger aufmerksam wie eine Gemse das Haupt erhebt und mit den Waffen in der Hand gerüstet aufspringt, verhallte jetzt wie in einem Totengewölbe. Mit größester Mühe setzte sich endlich die Masse in Bewegung, indem sich, als ob jedes innere Band losließe, einzelne Teile von dem Ganzen lösten und so nach und nach die Straße nach Westen einschlugen.

Auf einem Hügel, der vom Dämmerschein des Schnees, der hellen Sterne und der Feuer seltsam beleuchtet wurde, stand ein großer stattlicher Mann in den Pelzmantel gehüllt und überschlug mehrfach die Arme, um sich zu erwärmen. Mit lauter Stimme rief er: »Hierher zu mir! Das erste Armeekorps, hierher!« Es war der Marschall Davoust. Nach und nach sammelte sich ein kleines Häuflein, der Überrest seines ganzen Heeres, um diesen ausdauernden Krieger, den kein Elend, kein Verderben die Rettung aufgeben ließ, die das Gesetz der Ordnung und des Gehorsams in sich trägt. An der Spitze der Seinigen schritt er zu Fuß, mit den Soldaten jede Beschwerde, wie mit seinen nächsten Offizieren jedes Gute teilend, was sein Rang ihm selbst unter diesen alles furchtbar gleichmachenden Geschicken vorausließ.

Glücklicherweise hatten die Pferde Rasinskis noch ein leidliches Obdach gefunden. Dennoch waren zwei vor Entkräftung und Kälte gefallen. Man saß auf. Bianka bestieg ihren kleinen Schlitten, Ludwig und Bernhard gingen zu Fuß so dicht als möglich an demselben, und die beiden jetzt unberittenen Leute von Rasinskis Regiment schlossen sich ihnen an.

Der anbrechende Tag, der sonst immer die Hoffnungen wieder neu erweckte, die in der schauerlichen Nacht erstorben waren, hatte heut diese Kraft verloren; denn mit dem Licht wuchs die schneidende Schärfe der Kälte, und als das blutige Auge der Sonne über den Schnee hereinglühte, schien es nur mit Hohn auf das Elend so vieler tausend Unglückseliger herabzublicken; denn nicht die leiseste Spur der Wärme war in den Strahlen, die ihren roten Schimmer in das Antlitz der Wandernden warfen, zu spüren. Nur in das Auge, das, schon vom Schneeglanz geblendet, vom Rauch und Schein der nächtlichen Lagerfeuer entzündet war, drangen sie mit brennendem Schmerz ein und fügten eine neue Folter zu der Last von Qualen, unter denen die Unglücklichen zusammenbrachen. Als Bianka sah, wie Ludwig und Bernhard das Auge zuckend abwandten und vergeblich einen Gegenstand suchten, wohin sie den Blick ohne Schmerzen wenden könnten, fiel ihr plötzlich ein Hilfsmittel ein. »Wartet, wartet wenige Augenblicke«, rief sie und machte eine hastige Bewegung mit den Händen gegen die Brust, als wollte sie ein Tuch losknüpfen. Wirklich zog sie ein grünes Florgewand hervor, riß es entzwei und gab die eine Hälfte Bernhard, die andere Ludwig. »Es ist der grüne Schleier,« sprach sie zu diesem, »den ich auf dem St. Bernhard trug. Seit ich wußte, daß er das Zeichen war, woran du mich wiedererkanntest, trug ich ihn auf meinem Herzen. Jetzt soll er mir das holde Licht der liebsten Augen erhalten. Verhülle dich damit, Geliebter, denn alles, was in diesem Lande glänzt und schimmert, ist kalt und grausam wie dieser Schnee und diese Sonne.«

Mit Rührung erblickte Ludwig das erste Zeichen, woran er seine Liebe knüpfte; es erquickte ihn mit neuer Hoffnung, daß es ihm gerade jetzt, in schreckenvoller Stunde, wo das Antlitz der Gnade sich ganz von der Erde wegzuwenden schien, wieder entgegenschimmerte. Eine tiefe Ahnung seiner Brust hatte es vom ersten Augenblicke an als einen Talisman betrachtet, der eine zauberische Bedeutung für sein Leben habe. So galt es ihm auch jetzt. Doch indem er es aus Biankas Hand empfing, blickte er sie sorglich an und fragte: »Aber du, Geliebte, wirst du geschirmt sein gegen das tödliche Gift dieses Glanzes?« – »Mich umhüllen ja noch die schwarzen Trauerschleier,« antwortete sie; »ich sollte sie wohl nicht tragen, denn aus ihrer Nacht brach ja mein schönster Lebenstag an!« Sie lächelte dabei mit holder Freundlichkeit und vergaß über ihr inneres Glück, daß der Nachen, der es trug, auf den Wogen äußerer Geschicke wie auf einem toten Meere des Grauens und Verderbens verloren schwankte.

Bernhard suchte, als er ihre bewegte Stimmung wahrnahm, heiter zu sein. »Ich danke dir, Schwester,« sprach er; »hier wird der Scherz Ernst und der Ernst Scherz. Unser ganzer Zug ist nur noch ein Maskenzug, doch tragen wir alle verwünschte Leichenlarven. Ich will denn über die meinige das grüne Netz hängen. Ein Maler muß überdies seine Augen schonen; ich würde über das Eismeer bei Chamouny so wandern, warum nicht über dieses größere?« Dabei knüpfte er das dünne Gewebe an seine Pelzmütze und drückte sie sich tiefer ins Auge. Die scharfe Kälte erschwerte das Atmen so, daß strenges Schweigen ein Gesetz wurde, welches sich jedes zuletzt auflegte. Der Zug glich einer langen Reihe weißer Gespenster, so hatten die als Reif niederfallenden Dünste ihre dichte Hülle von Eisspitzen über Roß und Mann gewoben. Mühselig schleppte man sich fort, und in den langsam sich bewegenden Massen herrschte eine dumpfe Todesstille. Alles, selbst der Laut der Lippen, wurde durch die furchtbare Kälte in die Banden der tiefsten Erstarrung geschlagen. Sogar der Hauch des Windes war gefesselt; Vögel stürzten tot aus der Höhe herab; die letzte Spur des Lebens schien aus der Natur verschwunden.

Die Wandernden vernahmen nichts als das pfeifende Kreischen des Schnees, das dumpfe Rasseln der Geschütze und das beklommene Stöhnen derjenigen, die mit dem versteinernden Tod in den Adern zu Boden sanken, um sich nie wieder emporzurichten. Diese sah man wanken, wie betäubt einige schwankende Schritte seitwärts taumeln und dann in die Knie sinken, deren abgestorbene Sehnen sie nicht mehr zu tragen vermochten. Bei einigen erzeugte die äußerste Verzweiflung noch eine trotzige Kraft, mit der sie sich gewaltsam aufstachelten. Sie lachten wild auf bei dem Anblick des Elends und riefen den Zusammenstürzenden ein frevelhaft höhnendes Lebewohl zu. Nur die edelsten und kühnsten Naturen zugleich behielten auch hier eine männliche Ruhe und Fassung; Rasinski hatte sie sich bewahrt. Sein Pferd, das er am Zügel führte, war vor Kälte zusammengestürzt. Er nahm die Pistolen aus der Halfter und setzte seinen Weg gleichmütig fort. Vergeblich boten Jaromir und Boleslaw, die der Kälte halber ebenfalls zu Fuß gingen und ihre Rosse führten, ihm die ihrigen an; er erwiderte: »Wir sind nur noch einzelne. Als Führer hätte ich ein solches Opfer nicht nur angenommen, sondern gefordert. Ein Regiment von unserer Stärke aber kann ein Rekrut so gut befehligen als ich; es gibt keinen Rang mehr.«

Doch hatte Boleslaw den Mantelsack, den Rasinski im Stich lassen wollte, abgenommen und schnallte ihn auf den seinigen. Über das tote Tier fiel eine hungerwütige Schar her, und zerriß es in tausend Stücke, zur Mahlzeit für die Nacht. Rasinski ging düstern Blickes vorwärts, um nicht zu sehen, wie schmählich das treue Tier, das ihn in so mancher Schlacht getragen, endete. Es verging keine halbe Stunde, so stürzte auch Boleslaws Pferd, und gleich darauf Jaromirs. Die trotz des herannahenden Mittags immer wachsende Kälte hauchte mit tödlichem Atemzuge Menschen und Rosse ohne Unterschied an und warf sie um so leichter nieder, je mehr die Anstrengung sie erschöpfte. Der Weg zog sich eine kaum bemerkbare Anhöhe hinan; doch sie war spiegelglatt. Als Biankas Schlitten sich derselben näherte, vermochte das Tier nicht, ihn hinaufzuziehen; sie stieg sogleich ab, doch es fruchtete nichts. Zweimal setzte das Roß an; Ludwig, Bernhard, Jaromir, Boleslaw, Rasinski selbst suchten Hilfe zu leisten. Allein es war vergeblich; das Tier vermochte sich selbst nicht mehr zu tragen, es stürzte zu Boden und erstarrte in wenigen Minuten. Ruhig sprach Bianka zu den sie umgebenden Freunden: »Ich werde nun ganz euere Mühen teilen, und es soll mir nicht schwer werden. In dieser grimmigen Kälte ist das Gehen so besser.«

Bernhard erwiderte nichts; er nahm ihr stumm das Kind aus den Armen und trug es. Ludwig unterstützte die Geliebte; so wandelten sie düster schweigend nebeneinander hin. Sie schlugen einen neben der Straße hinlaufenden Pfad ein, der bequemer schien, und wo sie von den Massen nicht so gedrängt waren; nur einige einzelne hatten ihn gewählt. Bianka ging mit Ludwig voran; Bernhard folgte in einiger Entfernung mit dem Kinde, dessen ahnungslose Munterkeit, da Biankas Sorge es selbst gegen diese Kälte völlig geschützt hatte, in einem die Brust erschütternd bewegenden Abstich gegen das Entsetzen ringsumher stand. »Du bist ein kleiner Schmetterling, der im aufgespannten Rachen eines Haifisches flattert«, sprach Bernhard halb für sich. »Aber ich weiß dich ebenso gern hier, als ich dich einem schlafenden Tiger das bunte Fell streicheln sehe. Schelmchen, lachst du?«

In diesem Augenblicke rief ihn eine brüllende Stimme von hinten her an: »Steh', Hund! Gib mir deinen Pelz, oder ich schieße dich nieder!« Bernhard fuhr auf und herum. Ein Soldat, in elende Lumpen gehüllt, groß, mit verwilderten Zügen, langem, struppigem Bart, das Gesicht von Erde und Rauch geschwärzt, die blutig entzündeten Augen wild rollend, stand vor ihm und schlug mit dem Gewehr auf ihn an. »Was willst du, Unglücklicher?« rief Bernhard von Entsetzen ergriffen und trat schaudernd einen Schritt zurück; das Kind schrie ängstlich auf, umklammerte ihn und verbarg das Köpfchen an seinem Busen. – »Deinen warmen Pelz, oder ich schieße dich nieder!« rief der Wütende. »Hier gibt's keine Kameradschaft mehr; ich habe so gut ein Recht mich zu retten wie du.«

Bernhard sah sich fast allein mit dem erbitterten Mörder; obwohl Tausende zu errufen waren, so würde der Schuß des Verzweifelnden doch allen zuvorgekommen sein, wenn auch ein einziger noch so viel Herz für fremde Gefahr gehabt hätte, um deshalb seinen Weg und seine Qual um einige mühselige Schritte zu verlängern. Er mußte also der Drohung Gehorsam leisten, obwohl er wußte, daß er mit der wärmenden Bekleidung sein Leben hingebe. »Du willst durch den Mord eines Kameraden dein Leben fristen?« antwortete er mit der Würde der festesten Entschlossenheit; »wohl denn, es sei, aber du wirst dich dessen nicht lange freuen. Deine Stunde wird dich doch ereilen.«

»Rasch! denn schon packt mich der Tod«, rief der wahnsinnige Mensch, der fortwährend im Anschlag liegen blieb und die blutigen Augen wild in ihren Höhlen rollte. Bernhard bückte sich, um das Kind niederzusetzen, das ihn am Ausziehen seines Pelzes hinderte; da hörte er einen lauten Schrei, und als er sich umwandte, sah er Bianka, die sich weinend zu den Füßen des Wütenden niederwarf. »Nimm dies Gold, diesen Schmuck,« rief sie, »nimm diesen warmen Mantel, nur laß mir den Bruder leben!« Mit der Schnelligkeit der Todesangst hatte sie eine reiche Kette von ihrem Halse gerissen und warf ihren kostbaren Pelz ab, so daß sie mit leicht bekleideten Armen, der grimmigen Kälte preisgegeben, vor dem Mörder kniete.

Dieser blickte sie mit starren Augen an, dann ließ er die Arme mit der Waffe langsam sinken, das Gewehr entfiel ihm, er drückte sich beide Hände vors Gesicht und brach in ein lautes Wimmern und Weinen aus. Indessen war auch Ludwig näher getreten, und er und Bernhard hoben die noch immer kniende und die Arme mit ihren Gaben ausstreckende Bianka empor. »Solch ein wildes Tier konnte ich werden?« rief der Fremde plötzlich aus; »nein, diese Schmach überlebe ich nicht. Vergebt mir; ihr habt mich einst besser gekannt, die fürchterliche Qual machte mich rasend! Aber ich weiß, was ich zu tun habe!« Bianka hing mit Blicken, in denen die zweifelnde Besorgnis mit dem Ausdruck der höchsten Freude wechselte, an dem seltsam grauenhaften Menschen, da dieser sich jetzt nach dem am Boden liegenden Gewehr bückte und es aufnahm. Bernhard hielt das Auge fest auf ihn gespannt und suchte in seiner Erinnerung nach den Zügen, die ihm selbst in dieser entstellenden Verwilderung bekannt schienen. »Wo habe ich euch gekannt?« fragte er, als sich der Fremde emporgerichtet hatte. – »Ich wundere mich nicht, daß ihr mich nicht wiederkennt,« antwortete er düster; »ich hätte mich selbst nicht erkannt. Des Ordens hier bin ich lebend nicht mehr wert!« rief er wild und riß das Band der Ehrenlegion aus seinen Lumpen heraus und warf es in den Schnee; »so will ich's zu verdienen suchen, daß ihr's auf meine Leiche legt. Ich richte meine Tat selbst, wie sie es verdient.« Indem stemmte er den Kolben seines Gewehrs gegen den Boden, drückte die Brust auf die Mündung und trat gewaltsam mit dem Fuße gegen den Hahn. Der Schuß krachte, der Unglückliche stürzte zusammen.

»Barmherziger Gott!« rief Bianka entsetzt und sank bewußtlos in Ludwigs Arme. Bernhard sprang auf den Gefallenen zu und richtete sein Haupt auf. Noch glimmte ein matter Lebensfunke in der Brust. »Wenn ihr nach Frankreich kommt, grüßt mein Weib und meine Buben – Sergeant Ferrand – aus Laon.« Er war nicht mehr. In dem Augenblicke, wo er das Auge schloß, erkannte ihn Bernhard. Er war derselbe Sergeant Ferrand, dessen streng dienstliches, aber menschenfreundliches Benehmen ihm und Ludwig bei ihrer Gefangenschaft zu Smolensk das Leben gerettet hatte. Die Bedingung seines Daseins war die kriegerische Ehre; er glaubte sie durch die meuchelmörderische Tat, zu der ihn die Betäubung des Elends, der Schmerzen, der Verzweiflung trieb, verloren; eine Jungfrau hatte ihn an Mut besiegt – das ertrug er nicht. Streng richtend sprach er selbst sein Urteil und vollstreckte es mit eigener Hand. Erschüttert kniete Bernhard neben der Leiche; stumm nahm er das Band, welches der Tote als sein höchstes Gut geschätzt hatte, legte es auf seine Brust und sprach: »Wer will dir's rauben? Es schmücke dich jenseits, wenn du in den Kreis der Tapfern trittst, die dir vorangingen. Leb wohl!«

Sie setzten ihren Weg fort, denn hier galt kein Verweilen. Unerbittlich riß das Schicksal die Herzen voneinander, und jagte die säumende Liebe mit grimmiger Geißel vorwärts.


 << zurück weiter >>