Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Drittes Kapitel.

Jaromir und Boleslaw waren für diesen ersten Abend in Moskau von ihren Freunden getrennt, da ihre Aufsicht bei den Truppen unerläßlich schien. Als jedoch die Biwaksfeuer loderten, der Soldat sich leidlich eingerichtet hatte und durch Rasinskis Fürsorge auch mit Speise und Trank hinlänglich versehen war, mochte es den einzelnen Führern wohl gestattet sein, sich auf kurze Zeit von ihren Posten zu entfernen und sich durch Kameraden vertreten zu lassen. Dies tat auch Jaromir. Denn bei seinem frischen, lebenslustigen Sinne, bei seiner noch jugendlichen Regsamkeit, war, so manches er auch erlebt und erfahren hatte, der Einzug in eine neue, berühmte Hauptstadt doch ein Ereignis für ihn, das ihn nach vielerlei Richtungen reizte und bewegte. Mit Staunen hatte er die Paläste, die langen unendlichen Gassen, die weiten Plätze betrachtet; der Kreml mit seinen Türmen und Zinnen machte fast den Eindruck eines Zauberschlosses auf ihn. Er hatte Lust, durch die Gassen zu streifen, die Biwaks der Kameraden zu besuchen, mit ihnen zu schwatzen und zu plaudern, kurz, nach langen Anstrengungen einmal die Freude des kriegerischen Müßiggangs zu genießen. Boleslaw sah es ihm an, und wohlwollend wie er war, erbot er sich, ohne erst Jaromirs Bitte zu erwarten, den Dienst für ihn zu übernehmen. Mit zwei Offizieren von dem leichten Infanteriebataillon, das Rasinski für den Augenblick beigegeben war, ging er, als es schon ein wenig zu dämmern begann, Arm in Arm vergnügt die Gassen hinunter, um einen Spaziergang durch die wunderbare Stadt zu machen.

»Hier diese beiden Türme mit ihren goldenen Kuppeln müssen wir im Auge behalten,« sprach er zu seinen Begleitern; »nach ihnen finden wir uns schon wieder zurecht, selbst wenn es völlig dunkel würde, denn an dem ausgeschweiften Knopf spiegeln sich die Feuer von unten herauf hell genug, um sie ziemlich weit durch die Nacht zu sehen.« Lebrun und Lacoste, so hießen seine beiden Begleiter, waren, gleich Jaromir, froh und guter Dinge. »Marlborough s'en va en guerre«, sang Lebrun mit angenehmer Stimme und leicht graziösem Vortrag vor sich hin, und die beiden andern stimmten mit ein. Sie gelangten durch einige Gassen, in denen ihnen ein schwerer Artillerietroß begegnete, an den Kreml. Hier waren große Biwaks aufgeschlagen. Die Junge Garde hatte sich diesen Platz zur Lagerstätte erwählt.

Lange Reihen zusammengesetzter Gewehrpyramiden leuchteten prächtig im Widerschein der Feuer, die man entlang der Gassen angezündet hatte. Wie der Soldat sein Lager immer kriegerisch schmückt, so hatte man auch hier vor jedem Bataillon eine Trophäe von Trommeln und Adlern aufgerichtet. An den Stellen, wo lange Straßen sich öffneten, standen Kanonen; sie waren abgeprotzt, die brennenden Lunten dahinter in den Boden gepflanzt. Um die Leute zu erheitern, hörte man von verschiedenen Seiten her kriegerische Musik. Doch nur wenige waren noch so bei Kräften und glücklicher Laune, daß sie einen fröhlichen Tanz nach einer beliebten Française oder Gavotte der Ruhe auf dem mit Stroh bedeckten Steinpflaster vorgezogen hätten. Überhaupt gewährte das Lager zwar einen bewegten, aber nicht jenen heitern Anblick, den sonst eine solche kriegerische Nomadenstadt, zumal nach Tagen des Sieges und Triumphs, darzubieten pflegt. Die Kleider der meisten Soldaten waren zerrissen und vom Pulver geschwärzt; selbst die Garde machte davon keine Ausnahme, obgleich sie bei Borodino nicht zum Gefecht gekommen war. Denn später, als Kutusow nochmals eine verschanzte Stellung bei Krymskoie, drei Stunden vor Moskau, nahm, hatten auch sie einen ehrenvollen Anteil am Kampfe gehabt. Hier und da hörte man ein fröhliches Lied. Doch zumeist lagen die bärtigen Krieger, in ihre Mäntel gehüllt, an den Feuern und schliefen oder blickten müßig in die Flammen, an denen ihre dampfenden Kochgeschirre standen.

»Laßt uns einmal dort am Kai hinaufgehen, wo die prächtigen Häuser stehen«, sprach Jaromir. Auch hier lagen Soldaten; es war die Alte Garde. Bei diesen sonst so streng disziplinierten Truppen herrschte jedoch wenig Ordnung. Man hatte die Tore der Häuser aufgebrochen und sich's in den weiten Vorhallen bequem gemacht; die Offiziere lagen in den obern Stockwerken in den Fenstern. Die Soldaten schleppten Holz und Stroh heran; andere trugen Bettstücke, Teppiche, Kissen und Polster, die sie in den verlassenen Häusern gefunden, herab, um sich ein bequemes Lager zu schaffen, denn der Soldat war der fröhliche Erbe der Ausgewanderten. Das Biwak erhielt durch diese Staffage ein buntes, fast morgenländisches Ansehen, zumal da gerade einige der Leibmamelucken des Kaisers mit langen Pfeifen im Munde bequem auf einem prächtig gestickten, roten Teppich und himmelblauen Polstern lagen, die sie in dem nächsten Palast aufgefunden hatten.

»Hm, ihr habt euch hier gut eingerichtet,« sprach Lacoste; »freilich, die Garde muß immer etwas voraushaben. Man weiß aber nicht, habt ihr das Biwak ins Haus oder das Haus in das Biwak getragen. Warum strecktet ihr euch nicht lieber drinnen auf die Kissen?«

»Es ist Befehl zu biwakieren, mein Kapitän,« erwiderte ein Sergeant mit glänzend schwarzem Knebelbarte; »doch wird es hoffentlich nicht lange dauern. In so schöner Nacht läßt man sich's aber gefallen.« – »Schöne Nacht? Mir deucht, der Wind wird rauh genug pfeifen«, antwortete Jaromir. – »Wenn er nur nicht die Feuer ausbläst,« rief lachend der Sergeant, »dann hat es keine Not.« – »Sprecht lieber,« bemerkte Lebrun, »wenn er sie nur nicht anbläst. Euer Biwak, Freund, ist nicht das ordentlichste, das ich vom Ebro bis zur Moskwa gesehen. Nachts, wenn alles schläft und die Feuerwachen einnicken, könnte euch das Stroh unter dem Leibe zu brennen anfangen, bei euern Veranstaltungen.«

»Wahrhaftig!« lachte Jaromir, »es wäre nicht übel, wenn ihr euch die Winterquartiere über dem Kopf anbrenntet. Aber ihr habt ordentlich einen Plan dazu gemacht. Stroh und Heu sind ja von hier bis in die Hausflur hinein wie Zündpulver gestreut, und bilden eine Schlange, als ob man einen Artilleriepark von weitem aufsprengen wollte.« – »Pah! Stroh ist kein Pulver. Was leicht brennt, löscht sich auch leicht!« rief der Sergeant. – »Nicht immer,« entgegnete Lacoste; »euer Biwak will ich mit einer Zigarre in Brand setzen, aber es würde euch schwer werden, aus der seichten Moskwa so viel Wasser zu schöpfen, als ihr zum Löschen nötig hättet.«

»Wir werden schon noch ein wenig Ordnung machen, mein Kapitän«, antwortete der Sergeant sich verneigend, da die Offiziere ihren Weg fortsetzten. – »Es wundert mich doch,« meinte Jaromir, »daß das gelitten wird; es ist in der Tat Gefahr vorhanden.«

»Freilich wohl!« zuckte Lacoste die Achseln, »aber mit der Garde ist der Kaiser nun einmal so streng nicht. Er vertraut zu sehr darauf, daß es lauter Veteranen sind, die mit Krieg und Kriegszucht Bescheid wissen und ihre Notwendigkeit so eingesehen haben, daß sie von selbst tun, was recht ist. Es geschieht auch so, auf dem Marsche, im Lager und in der Schlacht; doch ihr wißt wohl, wenn einmal der Tag des Ausruhens für den Soldaten gekommen ist, dann hält es gar zu schwer, ihn zur Arbeit zu bringen. Solange er im Zuge ist, geht's, man kann ihm aufhäufen, was die Schultern nur tragen wollen; streckt er sich aber erst müde im Biwak aus, zumal in einer eroberten Hauptstadt, dann mag der Teufel ihn mit Nebendingen scheren und placken. Man verläßt sich auch etwas auf Glück und den Himmel; wenn alles Gefährliche in der Welt schlecht ausschlüge, da möchte der Henker Soldat sein. Unser ganzer Trost sind ja die Kugeln, die nicht treffen.«

In diesem Gespräch war man weitergeschlendert. Kein Schritt, der nicht ein Bild für die Hand eines geschickten Malers dargeboten hätte. Hier ein alter Krieger, der da schlief, als wollte er erst bei der Posaune des Gerichts wieder erwachen, und es nicht bemerkte, daß seine Stiefelsohlen sich schon am Feuer sengten, so daß Jaromir ihn gutmütig auf die Seite schob, damit der arme Teufel nicht am Ende barfuß laufen müßte. Dort eine Marketenderin, die, von einem Schwarm lustiger Soldaten umringt, Frauengewandtheit mit dem Stolz auf die Redlichkeit ihres Handels verbindend, Unzähligen zugleich zu genügen wußte. Weiterhin fröhliche Spiele, Lieder, Tanz. Dicht daneben eine Gruppe behaglich schwatzender Graubärte, die mehr Narben als Haare auf dem Scheitel hatten. Ein Kranker, der mißmutig, mit verbundenem Haupte, in den Mantel gewickelt auf dem Stroh lag. Ein Pfeifer, der sich malerisch als Sansculotte auf eine Trommel gesetzt hatte, weil er als sein eigener Schneider sein einziges Paar Hosen flickte. Sogar eine Mutter mit einem zweijährigen Knaben sah man, am Feuer sitzend, mit dem Kinde schäkern. Es war der einzige süße Lohn für eine Treue und Liebe, die ihr den Mut gegeben hatte, diese unermeßliche Weite blutgedüngter Steppen zu durchwandern.

Indem Jaromir sich durch einen dichtern Haufen Soldaten Bahn zu machen suchte, die einen mit Reis beladenen Wagen, wo sie ihre Ration empfangen sollten, gedrängt umstanden, zupfte ihn jemand am Kleide. Er sah sich um; es war ein zierlich gekleideter Jockei, ein Knabe, wie es schien, von etwa fünfzehn Jahren, dessen Anwesenheit im Lager auffallen mußte. Ein englischer Hut mit breit überstehender Krempe und mit einer schwarzen Feder schmückte das Haupt, verdeckte aber das Antlitz zur Hälfte. »Was willst du, Knabe?« fragte Jaromir verwundert. Der Kleine bückte sich ein wenig, wie verschämt, und sprach: »Ich soll euch bitten, mir zu folgen!«

Jaromirs Verwunderung nahm zu, als er den schönen Knaben aufmerksamer betrachtete; die Dämmerung, der rote Schimmer der Wachtfeuer und der tiefe Schlagschatten des Hutes gaben dem Gesichte einen ganz eigentümlichen, romantischen Reiz. Die Züge erregten lebhafte Erinnerungen in Jaromir auf, denen er jedoch keinen bestimmten Gegenstand anzupassen wußte; »allein er mußte den Knaben irgendwo schon gesehen haben. »Folgen?« fragte er, »gern; aber wohin?« – »Nur mir nach«, sprach der Kleine schon halb umgewendet und suchte dem Gedränge zu entkommen. Jaromir, höchst gespannt und gereizt, eilte ihm nach, besorgt, ihn in dem Getümmel aus den Augen zu verlieren.

Rasch wandte sich der behende Führer in eine dunkle, schmale Seitengasse, durch die sie bald einen freiern Platz erreichten. Da stand plötzlich der Kreml mit seinen in der tiefen Dämmerung schwarz und riesenhaft emporsteigenden Türmen und Mauern vor ihnen; im letzten Abendschimmer leuchtend, glühte das goldene Kreuz des heiligen Iwan auf der Spitze der Metropolitanlirche, hoch in den blauen Räumen des Himmels. Obgleich Jaromir durch das seltsame Abenteuer, das eben für ihn zu beginnen schien, sehr gespannt war, und seine Seele sich ganz mit Gedanken und Vermutungen erfüllte, die ihn von den äußern Erscheinungen völlig abzogen, so machte doch dieser unvermutete, großartige Anblick einen mächtigen Eindruck auf ihn. Unwillkürlich stand er einen Augenblick still und staunte gegen die Höhe hinan. Sein Führer jedoch, der ihm stets einige Schritte vorausgeblieben war, sah sich wie antreibend nach ihm um und winkte ihm mit der Hand nicht zu zögern. Sie kamen an das Portal eines prächtigen Palastes; der Knabe trat in die Pforte und wartete, bis Jaromir ihm folgte. Dann ergriff er dessen Hand und sprach: »Hier muß ich euch aufmerksamer führen, denn ihr würdet euch nicht zurecht finden.«

In der Tat war die weite Vorhalle des Hauses durch eine Lampe, die in einer Ecke auf einem Tische stand, fast so gut als gar nicht beleuchtet. Kaum, daß man die breiten Treppen, die zu dem obern Stockwerke führten, erkennen konnte. Jaromir stutzte; sollte er weiter folgen, in der fremden Stadt, in dem öden Hause? Er war nicht furchtsam, doch er trug Bedenken, sich dem Führer ferner anzuvertrauen. »Halt, Knabe,« sprach er, »nicht weiter, bevor du mir sagst, wohin!« – »Ein Pole, ein Soldat, und Furcht?« sprach der Kleine mit fast spöttischem Tone.

Die Antwort verdroß den mutigen Jüngling. »Furcht?« rief er; »ich glaube fast, du selbst bildest dir ein, mich zu schrecken. Weiter denn, in Teufels Namen, aber du bist mir Bürge für alles, was mir begegnet.« Der Knabe antwortete nicht, bot jedoch Jaromir seine Hand dar, der sie so fest ergriff, daß ihm der kleine Führer nicht entrinnen konnte; hierauf zog er mit der Rechten seinen Säbel und sprach: »Jetzt vorwärts, wohin du willst!«

Der schweigende Kleine leitete ihn die Stufen der Treppe hinan, öffnete oben die Tür eines Gemachs und führte ihn dann durch eine lange Reihe, wie es schien, leerstehender Gemächer, in denen die tiefe Dämmerung, welche draußen auf der Straße herrschte, schon fast als völliges Dunkel erschien. Jaromirs Herz klopfte; ein eigenes Gefühl beschlich ihn, als gehe er einer Gefahr ganz besonderer Art entgegen, und doch trieb ihn die aufs höchste gespannte Erwartung, der Lösung des Geheimnisses entschlossen entgegenzuschreiten.

Sie hatten jetzt ein völlig dunkles Gemach erreicht. Der Knabe warf die Tür hinter ihnen ins Schloß, entschlüpfte mit einer unvermuteten Wendung aus der Hand Jaromirs und rief ihm aus dem Dunkel, indem man noch stand, mit anmutiger Stimme nur die Worte zu: »Hier wartet einen Augenblick.« Jaromir wollte den Knaben haschen, allein er war schon entsprungen, und eine zweite Tür, die sich schloß, ließ erraten, daß er das Gemach verlassen habe.

In dem völlig dunkeln Zimmer ganz allein, wurde Jaromir doch unschlüssig, was er tun sollte; er versuchte die Tür zu öffnen, durch die er eingetreten war, allein sie mußte ein Springschloß haben, denn sie widerstand dem Versuch. »Sollte irgendein Hinterhalt des Feindes dich hier bedrohen?« fragte er sich selbst. »Doch was könnte dazu veranlassen, gerade dich unter so vielen Tausenden zu verlocken? Und wie zufällig stieß man auf dich! Es gäbe wohl wichtigere Köpfe im Heere, wenn der Feind danach trachtete. Aber was in aller Welt kann man wollen? Warum diese geheimnisvolle Weise!«

Von diesen Gedanken beunruhigt, trat er ans Fenster, welches, durch dichte seidene Vorhänge geschlossen, sich durch eine schmale Lichtspalte bemerkbar machte. Er schob den Vorhang zurück; das Gemach sah nach einem Garten; jenseit desselben erblickte man durch das Halbdunkel die von den Flammen der Biwaksfeuer angestrahlten beiden Turmspitzen, welche dicht an Jaromirs Biwak standen und ihm zum Leitpunkte dienten. Täuschte er sich nicht ganz, so mußte er durch den Garten auf dem nächsten Wege zu den Seinigen gelangen können. Er erinnerte sich zugleich einer ziemlich langen Gartenmauer, welche an der Straße, wo sein Biwak lag, entlang führte, und einer kleinen Pforte in derselben. Mit militärischem Geschick wußte er diese Umstände der Örtlichkeit sogleich in Beziehung zu bringen und zweifelte nicht, daß er, im äußersten Falle, wenn er nur den Garten gewänne, auch die Mauer erreichen und von dort die Hilfe seiner Kameraden herbeirufen könne. In Gedanken entwarf er bereits den Plan eines Rückzugs für den Fall, wo er angegriffen würde. Nur in den Garten hinabzukommen, war die Schwierigkeit, denn der Sprung aus dem Fenster war hoch. Da half ihm der Zufall; er hörte plötzlich das Knarren einer Tür auf der Angel dicht neben sich. Dem Geräusch nachgehend entdeckte er eine Tapetentür, die, schlecht zugemacht, vom Winde bewegt worden war; er öffnete sie und stand in einem Korridor, dessen Fenster auf den Garten ging. Da es durch keinen Vorhang geschlossen war, fiel Licht genug hinein, um den Raum weiter zu untersuchen. Doch schon nach den ersten Schritten fand er eine kleine Treppe, die, zu seiner Freude und Beruhigung, gerade in den Garten hinunterführte, dessen Eingang nicht einmal verschlossen war. Er stand nun unten, Herr seiner Freiheit: doch ein Gefühl der Scham und Ehre trieb ihn wieder hinauf; zufrieden, sich einen Rückzug gesichert zu haben, war er entschlossen, das Abenteuer zu bestehen. Eben hatte er das dunkle Gemach wieder erreicht, als die Tür, durch welche sein Führer verschwunden war, sich öffnete und ein matter Lichtschimmer ins Gemach fiel. Eine weibliche Gestalt, in weiße Schleier und Gewänder gehüllt, trat mit leichter anmutiger Bewegung ein; sie hielt eine durch ein matt geschliffenes Glas gedämpfte Lampe in antiker Form in der Hand. Jaromir, der sich auf einen Feind, oder wenigstens auf einen diplomatisch oder militärisch gefährlichen Auftrag gefaßt gemacht hatte, war höchst erstaunt. Mit einiger Verwirrung verbeugte er sich; doch die Fremde setzte die Lampe aus der Hand auf einen Marmortisch, schritt auf ihn zu und fragte, jedoch ohne den Schleier zu lüften, mit lieblicher, ihm äußerst bekannt klingender Stimme: »Erraten Sie nicht, wer vor Ihnen steht?« – »Beim Himmel, nein!« rief Jaromir, »aber kennen muß ich Sie!« – »Sie haben kein treues Gedächtnis,« entgegnete die Unbekannte; »und ich erkannte Sie doch mitten im Getümmel der Menge, und mein Herz schlug erleichtert, weil ich einen Freund und Beschützer zu finden hoffte. Aber ich muß Sie doch darum bitten, es mir zu sein! –« Mit diesen Worten schlug sie den Schleier zurück und blickte beschämt zu Boden. Die Dämmerung, die im Gemach herrschte, verbarg ihre vom Lichte abgewendeten Züge. Jaromir, aufs äußerste gespannt, ergriff ihre Hand und zog sie hastig gegen die Lampe; sie widerstrebte nur leise, senkte aber mit weiblicher Scheu das Haupt. »Alisette! Sie selbst?« rief er außer sich vor Erregung staunen, da er sie jetzt erkannte. »Wie ist es möglich, daß Sie hierher kommen!«

Sie schlug ihr schönes blaues Auge, das im feuchten Glanze schimmerte, gleichsam bittend zu ihm auf und sprach mit bewegter Stimme: »Freilich ist es mir selbst fast unbegreiflich, doch es gibt Zeiten und Verhältnisse, welche auch uns Frauen in die seltsamsten und außerordentlichsten Lagen bringen. O, ich fühle es tief,« fuhr sie mit gesenkten Augen fort, »wie feindlich der Schein ist, der auf mich fällt, da Sie mich hier sehen! Doch wüßten Sie –«

»Ich schwöre Ihnen,« rief Jaromir feurig, »daß mein Herz keinen unwürdigen Verdacht aufzunehmen vermag!«

»O Sie wohlwollender Freund«, sprach Alisette gerührt, ergriff seine Hand und drückte sie mit Wärme. Dann sank sie müde und erschöpft auf das Sofa nieder, welches die Rückwand des Gemachs einnahm, und drückte ihr lockiges Haupt in das seidene Kissen. Sie schien still zu weinen. Jaromir stand vor ihr und betrachtete das schöne Mädchen mit klopfendem Herzen. Das Haupt ruhte auf dem weichen, leichtverhüllten Arme; die Locken fielen beschattend über Wangen und Nacken; die rechte Hand hing lässig herab. Leise setzte er sich zu ihr, nahm ihre Hand und sprach mit wahrhafter Rührung: »Fassen Sie sich, armes Mädchen!« Sie richtete sich langsam auf. »Ach,« seufzte sie, »wenn sich das Gemälde meines Lebens einmal mit recht lebendigen Farben wieder vor meine Seele stellt, dann unterliegt meine Kraft. Vergeben Sie mir nur! – – Aber hören müssen Sie, welche Schicksale mich hierher führten. Vor allem beantworten Sie mir die Frage: Erkannten Sie mich zuvor nicht?« – »Sie? Wann?« fragte Jaromir verwundert. – »Sie hätten mich nicht in der männlichen Kleidung gekannt?« – »Unmöglich! Sie selbst waren der zierliche, schelmische Bote? , Nun begreife ich die dunkeln Anklänge der Erinnerung –«

»Der schelmische Bote!« unterbrach Alisette mit einer bittern Betonung. »O, wenn Sie wüßten, was es mich gekostet hat, diese Maske durchzuführen! Aber ich stand auf dem Theater, wo ich ja oft mit zerrissenem, blutendem Herzen ein heiteres Angesicht zeigen mußte! Doch, wollen Sie mich anhören? Wird meine Erzählung Sie nicht ermüden? Werden Sie mir Rat und Beistand nicht versagen?«

»Ein Elender wäre ich, wenn ich nicht alles für Sie zu tun bereit wäre!« rief Jaromir und drückte ihre zarte Hand, die noch immer in der seinigen ruhte, an die Lippen und bedeckte sie mit feurigen Küssen. Alisette ließ sie ihm und hielt sich mit der andern ihr Tuch vor die weinenden, schönen Augen. – »Nun erzählen Sie, erzählen Sie mir alles,« bat Jaromir; »trocknen Sie diese bittern Tränen, denn Sie haben einen Freund, einen Bruder gefunden.« – »Und ich will ihm vertrauen wie einem Bruder«, entgegnete das schöne Mädchen und drückte leise seine Hand.

»Sie wissen vielleicht nicht,« begann sie, »daß mein Stand mir verhaßt ist. Warum – darf eine Frau, ein Mädchen Ihnen das erst erklären? Aber die dringendste Not, die Sorge für das einzige, zurückgebliebene Kind einer teuern Schwester, die ich in England verlor, zwang mich in dieses unselige Verhältnis hinein. Mein Talent, das ich nur zur freien Verschönerung des Lebens für mich und andere bestimmt glaubte, mußte sich unter die drückende sklavische Pflicht der Erhaltung des äußerlichen Daseins beugen. Die traurigen Schicksale, welche mich zuerst auf diese rauhe Bahn führten, lassen Sie mich verschweigen. In Warschau fanden Sie mich auf derselben; die Stunde im Hause der Gräfin, die flüchtigen Tage, wo ich Sie dort sah, waren die schönsten meines Lebens. Gern wäre ich dort geblieben, allein der empörende Antrag eines Mannes, in dessen Händen dort alle meine Verhältnisse standen, zwang mich, bald nach Ihnen, wenige Tage nachdem die Gräfin abgereist war, die Stadt zu verlassen, wo es mir so wohl ergangen war, wo aber, wie durch einen rauhen Sturm vertrieben, plötzlich alle diejenigen, die mir Freundschaft zeigten, denen ich Zutrauen schenkte, nach allen Weltgegenden zerstreut wurden. Ohne Rat und Hilfe, blieb mir nichts übrig als den nächsten Zweig zu erhaschen, der sich mir in dem Schiffbruche darbot. Ein Theaterunternehmer, der auf die Macht und die Siege des Kaisers das unbedingteste Vertrauen setzte, beschäftigte sich damit, Teilnehmer für eine französische Bühne zu werben, durch welche er dem Heere den Winteraufenthalt in Rußland zu erheitern gedachte. Anfangs hieß es, der Kaiser werde zu Witepsk bleiben; dahin folgte ich dem neuen Führer meines schwankenden Geschicks. Ich wagte mich mitten in das Getümmel des Kriegs hinein; ohne Furcht, darf ich sagen, denn ich bin der Stürme des Lebens gewohnt worden, lieber Freund, und äußere Gefahr schreckt mich nicht mehr. Doch kaum waren wir zu Witepsk angelangt, als das Heer aufbrach und jene Stadt so öde und wüste wurde wie zuvor. Um nicht die großen Kosten, die er bereits aufgewendet, zu verlieren, entschloß sich der Unternehmer, der Armee zu folgen. Er hatte das sicherste Vertrauen, daß der Kaiser bald in Moskau sein werde; dadurch suchte er uns zu bestimmen, uns nicht von ihm zu trennen. Dennoch wäre ich gewiß nach Polen oder Deutschland zurückgekehrt, aber«, sie stockte hier einen Augenblick. »Doch warum sollte ich mich dessen schämen,« fuhr sie ein wenig errötend fort, »es fehlte mir an dem Gelde dazu!«

»O, warum suchten Sie mich, warum den Grafen Rasinski nicht auf!« fiel Jaromir ein. »Wir standen ja dicht bei der Stadt, und ich selbst war täglich dort.«

»O, hätte ich Sie gesehen,« entgegnete Alisette, »zu Ihnen hätte ich vielleicht den Mut gefaßt, den eine solche Bitte fordert. Doch den andern gegenüber hätte mich eine unbesiegbare Scheu zurückgehalten. Auch sah ich den Grafen nur einmal auf seinem prächtigen Schimmel stolz und ernst vorüberreiten; ich stand am Fenster, doch er bemerkte mich nicht.«

»Die Unmöglichkeit der Rückkehr,« fuhr Alisette nach einer Pause fort, »trieb mich immer weiter in den fortwirbelnden Strom hinein. Nur für die nächsten dringendsten Bedürfnisse sorgte der Unternehmer; in allem übrigen vertröstete er uns auf Moskau, vielleicht nur, um uns jeden andern Ausweg zu versperren. Die Nähe der Armee, die oft seltsamsten Nachtlager, die Notwendigkeit, stets mitten unter Männern zu verkehren, bestimmten mich, männliche Tracht anzulegen. Als ein großes Glück darf ich es betrachten, daß es mir gelang, einen Platz auf dem Bagagewagen eines Generals zu erlangen, denn ich galt nun für einen seiner Dienstleute und die Reise wurde mir ungleich weniger beschwerlich. Wir kamen wenige Tage nach der Schlacht durch das noch rauchende Smolensk. Hier hatte ich den ersten Anblick aller Schauder des Kriegs. Vor Grausen fast erstarrt, fuhr ich bebend auf der entsetzlichen Straße hin, die man mühsam durch Schutt und Trümmer gebahnt hatte, der zur Seite halbverbrannte Leichname und menschliche Gebeine aufgehäuft lagen. Ich mußte endlich das Auge schließen vor diesen gräßlichen Bildern. Aber von nun an erneuerten sie sich täglich. Vielleicht sah ich Schrecklicheres als Sie selbst, denn Sie eilen auf der Bahn des Sieges vorwärts und wenden das Auge nicht zurück auf die entsetzlichen, blutigen Spuren, die das langsam weichende Ungeheuer des Kriegs zurückläßt. Ich aber habe sie gesehen, diese Jammergestalten am Wege, diese hohläugigen, bleichen Gespenster, die uns ihre dumpfen Klagen entgegenwimmerten! Ich habe sie gesehen, und mußte vorüber, ohne ihnen helfen zu können. Und in diese Wüsteneien voller Elend und Entsetzen trieb mich mein Schicksal hinein! Mit jedem Schritte unserer ermatteten Pferde verschloß sich die Rückkehr unwiderruflicher. Der Strom drängte langsam vorwärts; ich sah, daß er mich dem Unheil entgegentrieb. Aber vermochte ich es, allein umzuwenden und auf der Straße zurückzuirren, wo jeder Tritt meines Fußes an eine Leiche, an einen Sterbenden rühren mußte? Wie hätte da, wo Tausende von krieggewohnten Männern verschmachteten, weil ihnen die Kräfte versagten, ein schwaches Mädchen einen Rückweg gefunden! Fast wahnsinnig von dem unausgesetzten Grauen, das meine Seele erfüllte, ließ ich mich forttreiben von der Woge meines Schicksals und gedachte in dumpfer Betäubung keines Widerstandes mehr. So hörte ich den Donner der entsetzlichen Schlacht, so fuhr ich mit verhülltem Angesicht über das Leichenfeld, von dem schon ein giftiger Pesthauch emporstieg, so endlich, teuerer Freund, erreichte ich heute diese Stadt. Wie hier ein jeder mit der Überfülle verlassener Räume schaltet, geriet auch ich in diesen Palast, dessen vordern Flügel einige Frauen bewohnen, die ein gleiches Schicksal mit mir teilen, aber es mit leichtfertigem Sinn, ich sollte vielleicht sagen, mit frevelhafter Sorglosigkeit betrachten. Sie haben überdies so schnelle Verbindungen angeknüpft, daß die meinige mit ihnen schon so gut wie zerrissen ist. So war ich denn gleich in den ersten Minuten das verlassenste Wesen in dieser ungeheuern Stadt, in diesem unermeßlichen Reiche. Vor einer Stunde wagte ich mich aus meiner Zurückgezogenheit hervor, halb in der Hoffnung, einen Anker in dieser Not zu entdecken. Da führte ein guter Stern mir Sie entgegen, und – das übrige darf ich Ihnen ja nicht erst erzählen«, setzte sie leise hinzu und beugte das anmutige Haupt verlegen nieder.

Das Wunderbare und Überraschende des Abenteuers, der einsame, traulich geheime Aufenthalt, die Anmut, welche Françoise Alisette selbst in die leisesten Bewegungen und Sprachtöne zu ergießen wußte, das Rührende und Ergreifende ihrer Erzählung und lebendigen Schilderung, der Gedanke an ihre weibliche Hilflosigkeit in dem kolossalen Treiben des Kriegs, wo selbst der einzelne Mann sich gegen das unermeßliche Ganze verliert – vor allem aber der unwiderstehliche Reiz der Tränen eines schönen Auges: dies alles drang so mächtig auf Jaromirs jugendliches, volles Herz ein, daß es gefangen war in dem purpurnen Netz, mit dem das liebliche Mädchen ihn umspann, noch ehe er es ahnte. Aus dem Zutrauen, welches sie ihm schenkte, schöpfte er eine ihm sonst unbegreifliche Kühnheit: es war ihm, als habe sie ihr ganzes Geschick in seine Hand gelegt, als sei er der Herr ihres Tuns und Wollens. Mit rasch aufflammender Glut preßte er seine Lippen auf ihre Hand und zog die scheu Widerstrebende näher zu sich heran. Seine glühende Wange berührte die gesenkte Alisettens. Er zitterte in süßer Lust der Liebe; auch sie bebte in seinem Arme, den er kühn um die zarte Gestalt schlang.

»Süßes, holdes Wesen,« sprach er zärtlich leise, »sei meine Schwester, ich will dein Bruder sein. Trockne deine Tränen, lebe nicht mehr in bangem Schauer vor deinem Geschick; nun soll alles, alles vorüber sein.«

»O Himmel, wie überschüttest du mich mit ungehofftem Glück«, rief Alisette und neigte sich wie überwältigt von der Macht ihrer Gefühle gegen den Freund und verbarg ihr holdes Antlitz an seiner Brust. Wie eine flüchtende, schüchterne Taube schmiegte sie sich an, und er hielt sie umfaßt, sich seiner Kraft, seines männlichen Schutzes stolz bewußt,

»Du hast meine Braut später gesehen als ich«, sprach er nach einigen Minuten. »O, erzähle mir von ihr! War sie so traurig wie ihre Briefe?« Bei dem Worte Braut zuckte Alisette krampfhaft zusammen; ein kurzes, beklemmtes »Ach!« drängte sich aus ihrer Brust. »Die schöne Gräfin Lodoiska habe ich wenig mehr gesehen,« sprach sie mit mühevoll errungener Ruhe; »am Tage nach dem Abmarsch war sie auf dem Ball im sächsischen Palast, wo sie erscheinen mußte, um in dem Konzert zu singen.«

»Auf dem Ball?« fragte Jaromir mit einer Betonung, die es deutlich ausdrückte, daß diese Nachricht ihm ebenso unerwartet als unangenehm war. – »Der Fürst Lichnowski führte sie.« – »Sie tanzte mit ihm?« fuhr Jaromir rasch auf. – »Mit ihm allein, aber wenig. Zumeist saßen sie in der Fensternische beisammen und sprachen. Sie fuhren auch früh nach Hause, denn der Fürst speiste den Abend noch bei der Gräfin.«

Jaromir schwieg; eine dunkle Röte des Zorns überflog seine Wangen, doch unterdrückte er die finstere Wallung der Eifersucht, die in ihm erwachte. Nein, dachte er einige Minuten später, sie liebt dich gewiß und ihre Trauer war so wahrhaftig, als ihre Briefe sie schilderten. Sollte sie aber deshalb die Begleitung eines genauern Bekannten des Hauses nicht mehr annehmen? Sollte sie sich von einem öffentlichen Feste, das vielleicht sogar einen vaterländischen Charakter trug, ausschließen? Du tust ihr unrecht! Françoise las in seinen offenen Zügen, was in seiner Brust vorging. »Sie sind plötzlich zerstreut, lieber Freund,« sprach sie mit dem Ausdruck der Teilnahme; »die Erinnerung an eine so schöne Braut muß freilich sehr bewegend sein. Schreibt sie Ihnen oft?«

»Ich habe seit dem Tage vor der Schlacht keine Nachricht gehabt. Der letzte Brief war aus Teplitz. Aber sie schreibt oft und mit zärtlichster Innigkeit. Die letzten Worte sprach er gerührt; es war gewissermaßen eine Abbitte seines Verdachts. Doch plötzlich fiel es ihm ein: Warum aber hat sie dir nicht geschrieben, daß sie auf dem Ball war? Sie hat sonst alles, was ihr begegnete, aufs genaueste berichtet, Tag für Tag ihre Beschäftigung angegeben – warum–

Alisette unterbrach ihn in diesen Gedanken. »Wie gern hätte ich von der Gräfin und Ihrer Braut Abschied genommen! Allein es war mir unmöglich. Dreimal ließ ich mich melden, fand aber niemand im Hause. Der Portier sagte mir, sie seien aufs Land gefahren. Von dort kamen sie spät zurück, und am andern Morgen weckte mich der davonrollende Reisewagen.« – »Aufs Land?« fragte Jaromir erstaunt, denn auch das hatte man ihm nicht gemeldet. »Wohin? Kannten Sie den Ort?« – »Nein,« erwiderte Alisette sichtlich verlegen und stockend; »die polnischen Namen sind mir so schwer zu behalten.«

»Vielleicht Wikzolky, das Gut ihres Oheims? Oder Pulawy, wo die Fürstin Czartoryiski wohnt?« Alisette verneinte durch eine Bewegung des Hauptes.

»Aber zu wem? Den Namen des Besitzers werden Sie doch kennen?« – »Der Portier wußte nicht«, erwiderte Alisette furchtsam.

»Das ist unmöglich, Liebe! Wenn er den Ort kennt, so kennt er auch den Besitzer. Ich beschwöre dich, Mädchen, sprich die Wahrheit!« rief er plötzlich mit aufflammender Heftigkeit; Alisette bebte erschreckt zurück. »Mein Gott!« – »Die Wahrheit! War es Czarnowicki?« – »Ich glaube, ja!« – »Dort wohnt Lichnowski!« rief Jaromir wild und sprang auf. »Sie ist treulos, ist so falsch wie je ein Weib! Denn sie verhehlte mir diesen Besuch! Das hätte sie nicht getan, wäre er unschuldig gewesen! Ein Tagebuch sandte sie mir! Von jeder Stunde, jeder Minute gab sie Rechenschaft! Eine Heilige konnte nicht reiner, stiller, jungfräulicher leben. O der Heuchlerin!« Tränen brachen aus dem Auge des Jünglings hervor; er wischte sie unwillig ab und stampfte mit dem Fuße auf den Boden. »Es wäre auch noch der Mühe wert, daß ein Mann wie ein Knabe um sie weinte!« Doch seine Tränen flossen nur um so stärker.

Alisette war zitternd, ohne einen Laut zu wagen, sitzen geblieben; sie glich einem Kinde, das unvermutet ein großes Unglück angerichtet hat, und, vor Schreck erblaßt, ohne ein Einschreiten zu wagen, dem wachsenden Verderben bebend zuschaut. »O, seien Sie ruhig,« bat sie endlich sanft; »setzen Sie sich wieder zu mir. Sie tun der Armen wohl hartes Unrecht!«

»Nein!« rief er heftig, »ich tue ihr nicht unrecht! Willenlos hast du Gute mehr verraten, als du ahnest! Sage mir jetzt die volle Wahrheit. Was weißt du weiter?« – »Wirklich nichts«, erwiderte sie, durch den Ton der Bitte ablehnend. – »Alisette!« bat Jaromir stürmend, indem er ihre beiden Hände ergriff und sich wieder zu ihr setzte, »Alisette! du hattest Schutz und Hilfe von mir erbeten! Jetzt bedarf ich deiner mehr als du meiner, bestes Mädchen! O du bist gut, sage mir alles, ich bitte dich, alles, was du weißt und denkst.«

»Gewiß, ich weiß nichts, und was ich denke – das darf ich nicht denken. O, daß ich ein so unglückseliges Wort sprechen mußte!«

»Nur eins sag' mir,« sprach er mit verhaltenem Zorn und Schmerz, – »ist Fürst Lichnowski der Gräfin nach Teplitz gefolgt?« – »Er reiste denselben Tag«, antwortete Alisette kaum hörbar. – »O, du bist gut – du hättest mich nicht so verraten«, rief er weich und zog mit der Linken die sanft Widerstrebende an sein Herz, und senkte das schwere, müde Haupt gegen ihre lockige Stirn. »Aber ich will sie vergessen. Sie soll den Triumph nicht haben, daß ein Mann um sie weint. – Ich dachte nur an sie in der Schlacht! Nur ihr weinendes Bild stand vor meiner Seele; ich sah nicht Schrecken, nicht Gefahr. Es schien mir süß, zu sterben, wenn man so betrauert würde – noch süßer schien es mir zu leben! O, wie töricht war dieser Wunsch. Warum liege ich nicht bei den Freunden auf der Walstatt, da wäre mir besser!«

»Und uns bräche das Herz!« rief Alisette schmerzlich aus und schrak heftig und scheu zusammen, als das Wort ihren Lippen entflohen war. Der Ausruf, den die Übermacht ihrer vergeblich bekämpften Gefühle ihr entrissen, leuchtete wie ein Blitzstrahl in die verborgenste Tiefe ihres Herzens hinab. Sie liebt dich, dachte Jaromir gerührt, und der Gedanke fing an, ihn mit glühendem Leben zu durchdringen; sie liebt dich wahrhaft und hat es bekämpft und getragen in jungfräulicher, scheuer Brust. Wie konnte dein Auge über dies holde Wesen unbeachtend, verkennend hinweggleiten! O, es ist eine wunderbare, gnädige Schickung des Himmels, welche dir im Augenblick des tiefsten Schmerzes diesen Engel des Trostes sendet!

Nach dem unwillkürlichen Geständnis hatte Alisette scheu, beschämt den vergeblichen Versuch gemacht, sich der Umarmung Jaromirs zu entwinden, um ihm zu entfliehen; er drückte sie mit wachsender Liebe an sich, doch sie verbarg ihre schamglühende Wange an seinem Busen.

»Nein, richte dich auf, blick mir ins Angesicht, du liebreizendes Wesen; laß die jungfräuliche Scheu nicht das schönere Gefühl deines Herzens besiegen.

Du liebst mich? Darf ich es hoffen, darf ich es aussprechen? – – O, jetzt erst, erst in diesem Augenblicke weiß ich, was Liebe ist. Wie kalt war Lodoiskas Umarmung!« Er preßte seine brennenden Küsse auf die Lippen der erschöpft Hingegebenen; ihr Widerstand erstarb in seiner Glut. Die finstere Gestalt seines bösen Dämons trat ungesehen hinter ihn; sie erhob die drohende Hand und hielt sie schwebend über seinem Haupte. Noch einen Schritt und die kalte grauende Berührung trifft deine Scheitel, und der Hauch der Vergiftung dringt tödlich in deine Brust. Ist kein gütiger Genius dir nahe? Tritt die reine Gestalt der Geliebten nicht rettend zwischen dich und das Trugbild, das dich umfängt? Die Himmlischen wachen nicht über dir – du sinkst in das Netz der verderbenden Mächte!

»Willst du mein sein? Ewig mein?« bat Jaromir stürmisch zärtlich. »Kannst du dem vergeben, der dich verkannte, der an dem Demant deines Herzens blind vorüberging? Alisette, ich habe schweres Unrecht gegen dich gut zu machen! Aber vergib mir – vergib dem Verblendeten!«

»O, unaussprechliche Gnade des Himmels«, rief Alisette aus tiefster Brust und umschlang ihn mit ihren weichen Armen. Ihr Busen flog, ihre Lippen glühten an den seinigen, ihr Atem erstarb in seinen Küssen! Jaromir zitterte in schauerlicher Wonne! Die brausende Kraft der Jugend stürmte in allen seinen Sinnen. Bis dahin hatte er nur die reine Opferflamme der Liebe gekannt, fern stehend ihre sanfte, veredelnde Wärme empfunden, ihren heiligen Glanz verehrt. Verwegen trat er dem Heiligtum zu nahe. Gleich glühendem Metall rollte jetzt das Feuer durch seine Adern, die Flamme ergriff den Saum seines Gewandes, sie schlug im mächtigen Wogensturm betäubend über ihm zusammen. Wie wenn an der Stelle gotterfüllter, leuchtender Klarheit heiliger Wahnsinn aufflammt und die verheerende Fackel schwingt, so daß das ewig Göttliche selbst sich zum ewig fluchwürdigen Verderben verkehrt, so erbleichte der reine Mondenglanz seiner geläuterten Liebe vor dem tobend ausbrechenden Vulkan seiner Leidenschaft.

»Um aller Heiligen willen, du stürzest mich ins Verderben«, rief Alisette und sank, vor der stürmenden Glut des Jünglings erbebend, auf die Knie vor ihm nieder. Doch mit kräftigem Arm umschlang er sie, hob sie zu sich empor und erstickte ihr Flehen in seinen Küssen. »Mein sollst du sein in dieser Minute, ganz mein, und für ewig!« So rief er aus und hielt die machtlos Widerstrebende in unauflöslicher Umarmung. Die Hände, die sie mit schwacher Kraft abwehrend gegen seine Brust drückte, sanken ihr matt herab; überwältigt war jetzt das willenlose Opfer seiner siegenden Jugend und Liebesgewalt. Dämmerndes Dunkel umhüllte die Liebenden. Der reine Lichtstrahl webt den Gürtel der Keuschheit mit unsichtbaren Fäden dichter; die buhlerische Nacht ist hilfreich geschäftig, die heilige Hülle des jungfräulichen Schleiers zu heben. Jaromir zog das bebende Mädchen an seine Seite auf die Kissen nieder; ihr Haupt ruhte in seiner Linken, er umschlang sie kühn mit der Rechten. Heftig preßte er das glühende Angesicht gegen die wallende, laut klopfende Brust. Seufzer, Tränen, Küsse mischten sich zum berauschenden Trank der Liebe; im selig betäubenden Wahn leerten sie den vergifteten Kelch bis auf die letzten Tropfen.

Mit fliegendem Schauder erwachte Alisette und wollte sich den Armen des Geliebten entreißen. Doch er ließ sie nicht! »Mein bist du für ewig,« rief er und hob die Rechte beteuernd gen Himmel, »so hab ich's geschworen! So halte ich den Schwur. Du, die Treue, die Liebende, nimm hin den Ring der Verräterin. Dieser goldene Reifen sei der Zeuge unsers Bundes. Er ist heilig geschlossen, er ist unverletzlich.« Er zog Lodoiskas Ring ab und steckte ihn an Alisettens Finger. Sie hing sprachlos an seiner Brust. » O, ich bin eine Verbrecherin,« rief sie endlich aus, »eine schwere Verbrecherin «! Aber du, du hast es verschuldet, für dich habe ich den Frevel auf meine Seele geladen. Du darfst mich nicht verwerfen.« Und mit neuen Küssen und Tränen hing sie an seinen Lippen. – – »Daß ich dir's nur gestehe! Was mich von außen auch mit harter Notwendigkeit hierher trieb, ein mächtigerer Zug des Herzens hätte mich doch auf diese verwegene Bahn geführt. Eine geheimnisvolle Stimme in meiner Brust weissagte mir, du ziehst dem Stern deines Glückes nach. Mein Auge hing mit Tränen an seinem tröstenden Schimmer, doch mein schwaches Glauben und Hoffen wähnte ihn unerreichbar hoch. Und nun, nun die Erfüllung mit überdrängender Gewalt vor mir steht – nun–«

Sie barg das Haupt weinend in ihr Gewand, hielt aber mit der Linken den geliebten Jüngling umfaßt. »Du Süßer, Holder! Ist es denn wahr, daß du mich liebst?« sprach sie schmeichelnd und kosend, da er stumm vor ihr stand. Die hoch aufprasselnde Flamme war gesunken. Jaromir sah jetzt, was ihre Wut ringsumher zerstört hatte. Ein kalter, schauerlicher Windstoß der Reue fuhr durch seine düster nachglühende Brust. »Ob ich dich liebe?« sprach er in brechender Wehmut. »Außer dir hat jetzt die Erde nichts mehr für mich! Du bist das einzige Gestirn, das mir leuchtet – solltest du! – nein, nein! – du wirst mir ewig glänzen. Du süße Geliebte! Deine zärtliche Hand heilte ja die glühende Wunde, mit der eine giftige Verräterin mein Herz grausam zerriß! O, du warst mein guter Engel in schrecklicher Stunde!«

Er lehnte seine Stirn gegen die ihrige; seine Tränen flossen unaufhaltsam. Wie er sich auch dagegen wehrte, jetzt erst fühlte er es, – er war doch nicht glücklich! Ein Wirbelsturm hatte ihn hoch auf den Gipfel des Lebens getragen; aber unter seinen Füßen fand er keinen Boden; der Sturm senkte die Fittiche, und mit ihm sank er tiefer und tiefer hinab. Nur nach den leuchtenden Sternen über ihm hob er das Auge bang empor.

Der schauerliche Schlag einer Turmuhr, der die neunte Stunde verkündete, weckte beide Liebende aus ihrer Betäubung. »Du mußt fort,« rief Alisette aufspringend; »wenn man dich hier fände – ich wäre verloren!«

»Verloren! Wer dürfte nach dem Bund, den wir geschlossen–«

»Um des Allmächtigen willen, ich höre Geräusch,« unterbrach sie ihn; »die Tür öffnet sich, der Schall dringt durch die leeren Gänge bis hierher. Wir hier im Dunkel – wenn man käme! Liebster, wenn dir mein Leben, meine Ehre teuer ist, so verlaß mich jetzt! Du weißt nicht, wie ein weibliches Herz empfindet. Mich würde die Scham vernichten, wenn die Frauen – o, ich bitte dich, ich flehe dich, entfliehe! Noch ist es Zeit! Hier durch diese Tür in den Garten hinab!« Selbst gab sie ihm den Säbel, den er abgelegt hatte, in die Hand und drängte ihn mit beklommenem Schmeicheln, zu gehen.

»Schüchternes Reh!« sprach er wehmütig lächelnd. »Wie hold ist diese Scheu! Sei ruhig, du darfst das Auge aufschlagen gegen viele, die sich fleckenlos bedünken! Denn rein ist deine Seele; dein Herz bleibt ein jungfräuliches Heiligtum!« – »O, so schone meines Herzens!« flehte sie. »Wenn du mich liebst, so geh! Es sei der erste Beweis, den du mir gibst!«

Er umschloß sie noch einmal, küßte sie mit wehmütiger Zärtlichkeit und verließ dann hastig leise das Gemach durch die Tapetentür. »Leb wohl! Morgen! Morgen!« flüsterte Alisette ihm zärtlich nach und verschwand. Ungesehen erreichte er den Garten. Er wollte jetzt den Versuch machen, ob derselbe wirklich bis an die Straße stoße, wo sein Biwak lag, und nahm daher diese Richtung durch die dunkeln Laubgänge. In wenigen Minuten stieß er auf die Mauer und fand nach kurzem Suchen eine Pforte, die nur von innen verriegelt war. Mit rüstiger Kraft schob er die eingerosteten Riegel zurück und stand in der Tat an der Stelle, wo er vermutete, kaum hundert Schritte von den Wachtfeuern seiner Leute. Dieser heimliche Pfad, der ihn zur Geliebten führen konnte, war ihm ein neues Pfand des Himmels, ein neuer Wink des Geschicks. Und blutete sein Herz gleich noch frisch an der Stelle, wo er die sanften Bande, die es bisher fesselten, gewaltsam zerrissen hatte, so fühlte er doch auch den lindernden Balsam, den die Hand des Schicksals ihm reichte.


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