Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Achtes Kapitel.

Die Sonne senkte sich hinter düstere nebelgraue Gewölke; vereinzelt, langsam, ermattet wankte eine Schar bleicher Schattenbilder durch den Schnee. Es schienen Wesen aus einer andern Welt, wohin niemals der freundliche Blick der Sonne gedrungen war. In den hohlen, blutenden Augen wohnte der Jammer; das Gespenst des Hungers grinste aus eingesunkenen Wangen und verzerrten Lippen; heulend und klappernd schlug der Frost die Zähne gegeneinander, und auf der öden Stirn, in dem irren Blicke ließ sich das Grauen des Wahnsinns spüren. So taumelten die entsetzlichen Gestalten betäubt, bewußtlos durcheinander hin, und wo noch ein fühlendes Wesen unter ihnen wandelte, das wurde übersättigt mit dem Grausen ringsumher, bis der Schauder jeden Nerv abgestumpft hatte, oder das Gespenst des Wahnsinns endlich doch die Übermacht gewann und mit langsamen Qualen den vergeblich abwehrenden Geist mit seinen schauerlichen Fesseln umgab.

Bianka hatte den Schleier über ihr Antlitz gezogen und verhüllte sich so die Gemälde des Entsetzens um sie her. Bernhard und Ludwig gingen ihr zur Seite, sie trugen abwechselnd das Kind in eine große Decke gehüllt auf dem Rücken, denn die erstarrten Arme vermochten es nicht mehr zu umfassen. Das kleine Wesen allein weilte wie ein ahnungsloser Engel unter diesen Schreckensgestalten; die Kälte ermüdete es so, daß es meist in Schlaf sank, aber ohne zu erstarren, denn Biankas Liebe hatte es in undurchdringliche Hüllen geborgen. Rasinski schritt voran mit Jaromir, der, schwach und schwankend, der Stütze bedurfte: der edle, väterliche Freund leitete den Jüngling mit unermüdlicher Sorge. Sein Zustand flößte selbst inmitten dieses allgemeinen Jammers ein tiefes Erbarmen ein; denn der innere Gram erfüllte ihn so mit bittern Schmerzen, daß er die äußern Qualen fast bewußtlos ertrug. Er sprach nicht; nur ein leiser, banger Seufzer entschwebte von Zeit zu Zeit seinen Lippen. Solange das Licht, diese Bürgschaft der ewigen Gnade, den Luftkreis erfüllte, hielten sich die Hoffnungen noch aufrecht. Aber sobald die Nacht herabsank und sich finster über die erstarrte Erde lagerte, schwand der letzte glimmende Funke des Mutes aus der Brust und ein banges Verzagen beugte auch die Stärksten.

Nun war die Sonne verschwunden; die Dämmerung begann; der Weg senkte sich in die ungemessenen Tiefen eines düstern Waldes; keine Hoffnung mehr auf ein schirmendes Obdach. Wie finstere Riesen stiegen die mächtigen Fichten am Wege auf und streckten ihre schwarzen Arme schauerlich überhin. Das dichte Geflecht ihrer Zweige verbarg jeden Schimmer des Himmels; sie schienen ein ungeheueres Gruftgewölbe zu bauen, das Raum für viele Tausende bot. Vergeblich spähte der Blick, das Ende der Waldung zu ermessen, ob nicht hinter ihrem düstern Reich eine wirtliche Hütte der Menschen sich auftue, um den Ermatteten Rast und Obdach zu bieten. An diesen langsam sterbenden Flämmchen der Hoffnung schleppten sich die Qualbelasteten Schritt vor Schritt weiter, bis die letzten Kräfte versagten. Dann taumelten sie, der Fuß glitt aus auf dem glatten Spiegel der Eisrinde, sie stürzten zusammen oder sanken ermattet in die Knie. Vergeblich streckten sie die Arme noch einmal zu den vorüberschwankenden Unglücksgefährten aus, kein Ohr vernahm mehr die Stimme des flehenden Jammers. Der Winter umschlang seine Opfer mit kalten Armen und hauchte sie mit eisigem Todesatem an; das Blut erstarrte in den Adern, so drang der Tod bis an das Herz; jetzt hatte er es erreicht, es hörte auf zu schlagen, die Marter war geendet, das Haupt sank vorwärts, ein dunkler Blutstrom stürzte aus dem Munde hervor, und mit ihm war die letzte Lebensspur entflohen.

Die Hoffnung, ein Obdach zu gewinnen, wurde endlich von allen aufgegeben; es blieb keine Wahl mehr, man mußte sich der Kälte ohne Schutz und Schirm preisgeben. Viele Scharen machten auf Befehl der Führer halt und richteten sich zum Biwak ein. Bernhard ließ denselben Wunsch laut werden, doch Rasinski munterte ihn auf, den Weg noch eine Zeit fortzusetzen. Gewohnt, dem Führer zu vertrauen, folgten alle seinem Rat. Plötzlich stand Rasinski still. »Jetzt haltet an, meine Freunde,« sprach er, »hier wollen wir Feuer anzuzünden suchen, und sehen, ob wir diese entsetzenvolle Nacht überdauern.«

»Gut denn«, sprach Bernhard so entschlossen er vermochte, um Biankas ersterbenden Mut neu zu beleben. »Wölfe flüchten ja vor den Flammen, laßt sehen, ob dieses Ungetüm, das uns schon die kalten Zähne an die Brust setzt, nicht zu verjagen ist.«

Rasinski hatte selbst in dieser verzweifelndsten Lage weder den scharfen Blick, der mitten im Drange der Gefahren alle Rettungswege erspäht, noch die entschiedene Kraft verloren, die mit fester Hand dem brausenden Gespann des Verderbens in die Zügel fällt, und es auch dann noch zu lenken und zu bändigen versucht, wo es schon mit uns in den Abgrund zu stürzen droht. Darum war er bis jetzt, trotz der äußersten Erschöpfung, weitergewandert; denn er spähte nach einer Stelle, wo das Anlegen der Feuer ausführbar war. Überall traf er nur starkstämmiges, hochgewachsenes oder ganz junges Holz. Wie sollte das zu fällen oder in Brand zu setzen sein? Wer besaß noch die Kräfte, eine hohe Fichte hinanzusteigen und droben mit dem stumpfen Säbel oder Beil Zweige abzuhauen? Zudem war der Boden überall hoch mit Schnee bedeckt, so daß, wenn man die Feuer darauf anzündete, alles ringsum schmelzen und das Lagern unmöglich machen mußte. Hier aber hatte sein unablässig umherspähendes Auge zwei verdorrte Stämme entdeckt, deren einer halb eingebrochen gegen einen umgehauenen Nachbarstamm gelehnt war. Diese konnte man fällen, diese in Brand setzen, und alsdann war in den hochlodernden Flammen auch jüngeres Holz zu nutzen. Auch hatte er sein Augenmerk auf einen steilen Erdabsturz von einigen Fuß Höhe gerichtet, vor welchem kein Schnee lag, weil der Wind ihn im Fallen schräg über den Absatz hingejagt hatte. War es möglich, die Nacht zu überdauern, so konnte es am sichersten hier geschehen.

Eilig hieß er daher die Leute von jener Stelle und jenen Bäumen Besitz nehmen, und war der erste, der selbst Hand anlegte. Bernhard, der, seit der Sergeant Ferrand ihn angefallen hatte, wieder Waffen trug, eilte mit einem breiten Hirschfänger zum Holzfällen heran. Ludwig war beschäftigt, den Schnee noch weiter hinwegzuräumen, so daß man einen freien Lagerplatz gewann. Rasinski brach mit Jaromir, der ungeheißen aber stumm alles mittat, die dünnen Zweige von den Stämmen. Die vereinte Tätigkeit so vieler Wackern erreichte in wenigen Minuten das Ziel. Eine helle Flamme loderte auf; der Boden wurde mit frischen Fichtenzweigen zur Lagerstatt bedeckt, die man dicht unter dem Abhang anlegte, um gegen den Sturm gedeckt zu sein; man schickte sich an, die sorgsam aufgesparten Nahrungsmittel zu bereiten.

Die erwärmende Flamme flößte neues Leben in die erstarrten Glieder; die erschöpft geglaubte Kraft kehrte nach dem Genuß einiger Speise wieder zurück. Fast mit Erstaunen empfanden sie alle, daß die Natur noch nicht unterliege, und ein neuer Lichtblick der Hoffnung dämmerte ihnen auf. Das lodernde Feuer hatte bald auch fremde, einzeln wandernde Krieger herangezogen; im dichten Kreise lagerten sie sich umher, so nahe wie die Glut es zuließ. Es schien, als könnten sie sich nach der langen Entbehrung nicht ersättigen in dem Gefühl lebenerzeugender Wärme. Doch der Andrang der heranschwankenden Unglücklichen wurde immer größer. Schon gebrach es an Raum, und wollte man einen neuen Gefährten aufnehmen, so mußte ein bereits gelagerter es mit dem Opfer erkaufen, die eigene Lage zu verschlimmern. Aber es war nicht mehr die Zeit, wo einer für den andern mit menschlicher Bereitwilligkeit einen Teil seiner Vorteile aufgab, um ihn vom Verderben zu retten. Das Bedürfnis war zu dringend geworden, die Grenze zwischen Leben und Tod zu schmal. Die kleinste Nachgiebigkeit konnte so von der Flamme entfernen, daß man hinterrücks von der Kälte gepackt wurde. Darum gab es nur für einen Raum; wer ihn abtrat, mußte selbst verderben. Es war ein grauses Würfelspiel des Zufalls um Rettung oder Vernichtung. Hagere Schattenbilder schwankten aus dem Dunkel, das den Feuerkreis umgab, heran und erschienen wie gräßliche Gespenster in dem düsterroten Glänze der Flammen; vom bewußtlosen Trieb der Erhaltung gespornt, wollten sie sich in den Kreis der Gelagerten eindrängen, doch sie wurden grausam unerbittlich zurückgewiesen. Die Angst erzeugte eine ohnmächtige Wut; sie versuchten ihre Kameraden bei den Schultern, bei den Haaren zurückzureißen, doch diese setzten sich mit verzweifeltem Grimm zur Wehr und trieben die Elenden mit den Waffen zurück. Diese letzte Anstrengung der Todesangst hat die Kräfte der Hilflosen bald erschöpft; jammernd werfen sie sich auf die Knie und stehen ihre Brüder um Rettung an. Vergebens! Menschen und Himmel blieben gleich taub gegen den herzzerreißenden Ruf um Erbarmen. Im verzweifelten Kampfe des Todes stürzen die Unseligen zu Boden, ihr lauter Jammerton verliert sich in ein leises Ächzen und Wimmern, und bald zeigt das Verstummen ihrer letzten Seufzer an, daß der starre Tod ihre Qualen geendet hat. So bildet sich ein schauderhafter Kreis von Leichen um den der Lebenden.

Biankas zu weiches Herz hätte diesen Foltern nicht widerstanden; ihre Milde würde sich so lange selbst geopfert haben, bis das Verderben ihr eigenes Haupt ereilte. Doch über ihr waltete die Gnade des Erbarmers; noch ehe das Gräßliche sich an ihrer Seite begab, hatte tiefer, totenähnlicher Schlaf eine Binde um ihr Auge gelegt, daß sie das Schauspiel des Entsetzens nicht sah; die dämmernde Hülle des Vergessens umwob ihre Seele mit tiefen Schleiern. Es war das süßeste Labsal, welches die Hand der Gnade an dieser grauenvollen Stätte reichen konnte. Ludwig und Bernhard ruhten zur Seite der Schlummernden und schützten sie durch ihre Nähe. Gegen Bernhards Brust hatte sich Jaromir ängstlich schauernd gedrückt; ein innerer Frost schien ihn fieberartig zu schütteln, denn der Gewalt des Winters hatte sein jugendlicher Körper bisher ausdauernder getrotzt als irgendeiner der Gefährten; doch jetzt brach er sogar sein tiefes, beängstigendes Schweigen und fing, was in seiner Art nicht lag, bitterlich an zu klagen. »Mich friert, Bernhard, die Kälte umschleicht mir lauernd das Herz. Ach, laß mich an deiner Brust ruhen! – Und hier, hier glüht es wie Feuer!« Dabei streifte er sich mit der Hand schwer über die Stirn, als wolle er den brennenden Schmerz lindern.

Mit tiefstem Erbarmen blickte Bernhard ihn an, denn das Auge des Jünglings irrte unstet umher und verriet die Verwirrung seines einst so hellen Geistes. Die stumpfe Betäubung desselben, welche die Freunde bisher mit banger Sorge beobachtet hatten, ging nun in eine wilde, ängstigende Aufregung über, deren zerstörendes Gift die Keime des Lebens schnell vernichten mußte. Nur Schlummer, tiefer erquickender Schlummer konnte Rettung bringen, doch schien es, als ob sein milderndes Öl gegen die aufgetürmten Wogen der qualbeladenen Seele nichts mehr vermöchte; denn der Schlaf, der nach dieser ungeheuern Anstrengung jedes Haupt mit bleierner Last zu Boden drückte, sobald die Anspannung des Willens nur einen Augenblick nachließ, gaukelte um den Ermatteten nur wie ein gescheuchter Nachtschmetterling und senkte die sanften Schwingen nicht herab. »Komm, komm,« sprach Bernhard mit dem ganzen Ausdrucke der Liebe, »laß dein heißes Haupt hier an meiner Brust ruhen, der Schlaf wird es bald kühlen. Trinke mit uns diese Flut des Lethe, damit wir vergessen, was ringsum geschieht. Alles vergessen, ist ja das Beste, was wir hier von den Göttern erbitten können! Komm, komm, schlafe, mein Bruder!« – »Ja, vergessen!« seufzte Jaromir schwer, indem er sich schauernd an den Freund drängte; er umklammerte ihn fester mit seinen Armen und drückte das Haupt gegen seine Brust. Bernhard fühlte, wie der Unglückselige fieberhaft zitterte, und schloß ihn mit Freundesangst und Liebe an sein Herz. »Nur dieses eine Leben,« flehte er innerlich, »erhalte uns, Allmächtiger; die Wunde würde das schönste Herz zu grausam durchschneiden!« Doch die Erschöpfung ließ den Gesunden nicht lange wach; wenige Augenblicke und er lag fest umwunden von den Armen des Schlafs und wußte nicht mehr, ob ein Freund an seiner Brust, eine Schwester ihm zur Seite ruhe.

Rasinski allein saß wachend in dem Kreise, über dem jetzo eine tiefe grauenvolle Stille waltete. Regungslos, als hätte der starre Tod sie hingestreckt, waren die Gefährten umhergelagert; der düstere Schimmer der Glut beleuchtete die von seltsam abenteuerlicher Tracht umhüllten Gestalten. Immer zuerst für andere sorgend, hatte Rasinski es auch zuerst übernommen, des Feuers zu wahren. Er schürte die Glut, daß die Funken in langer Garbe aufsprühten, und warf frisches Holz hinein, junge Tannenzweige, von denen eine schwarze Rauchsäule düster emporwirbelte und über die Häupter der Schlummernden hinwegzog. Finster blickend, den Arm auf das gebogene Knie, das Haupt in die Hand gestützt, saß der heldenmütige Mann, und schwere Gedanken zogen durch seine Seele. Er überblickte den Lauf seines Lebens. Was war es gewesen? Schmerz und Qual, heißes Sehnen, Streben und Drängen, Arbeit und Mühen, Wagnis und Gefahren – und nirgends Lohn als das Zeugnis der Ehre und des Rechts in der eigenen Brust. Von Jugend auf der Gram und die nagende Erbitterung um das in Schmach und Unheil gestürzte Vaterland; seit dem Jünglingsalter in die wilden Strudel der Weltgeschicke geschleudert; fortgetrieben auf dem Strome des Lebens an den grünen Ufern vorbei, ohne Frist zum Landen und Verweilen, kaum durch den fernen Gruß einer holden, winkenden Gestalt erquickt; jedes freundliche Bild des lächelnden Glücks rasch durch rauhe Stürme verweht – was hatte diese Brust geduldet und getragen! »Hm, hm,« murmelte er vor sich hin, »was willst du denn? Hat nicht die glänzende Sonne der Ehre deinem Leben von Jugend auf gestrahlt? – Ach, sie ist keine Sonne, nur ein Stern, der auf dunkelm Nachthimmel glänzt, aber diese trauliche Wohnstätte der Erde nicht erleuchtet, nicht erwärmt! Durch! Vorwärts! Empor die Stirn! Hast du Schicksal meine Brust mit deinem ehernen Harnisch umgeben, daß sie nie berührt werden konnte von der weichen Umarmung der Liebe und des Friedens, so sei sie wenigstens gewaffnet für den Kampf, und der scharfe Pfeil pralle ebenso machtlos zurück. Ich fordere dich heraus, häufe deine Schrecken, deine Qualen! Die Stunde wird kommen, wo du mir obsiegst, aber niemals die, wo ich mein Haupt verzagend vor deinem drohenden Arm verberge.«

Er richtete sich auf; selbst als der Mut der Stärksten brach, erwachte in ihm das stolze Bewußtsem edler Kraft, und er zeigte dem Schicksal ein trotzendes Antlitz. Schweigend, aufmerksam, wachsam saß er vor der Flamme; den Schlaf scheuchte sein mächtiger Wille, denn er hütete das teuere Leben der Freunde.


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