Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Neuntes Kapitel.

Am ganz frühen Morgen des dritten Tages war die Hingeschiedene bestattet worden. Nur Marie, die Gräfin, Lodoiska und Frau Holder waren zugegen gewesen, als man sie einsenkte zu der ewigen Ruhestätte. Marie zeigte sich ernst, gefaßt; sie rechtfertigte die Furcht der Gräfin, welche sie dringend gebeten hatte, von der traurigen Feierlichkeit zurückzubleiben, nicht. In ihrer ebenso festen als zarten Seele schloß sie schnell mit allem Geschehenen, mit allem Unvermeidlichen ab; nur der Zweifel, die Sorge, die Furcht vor dem Kommenden griffen sie so heftig an. Sie bebte vor der drohend gehobenen Hand des Schicksals; war der zerschmetternde Schlag gefallen, so kämpfte sie mit sittlicher Stärke, mit festem, treuem christlichen Glauben gegen die vernichtende Gewalt.

So ernst sie den Tag über blieb, nahm sie doch mit stiller Freundlichkeit an dem Gespräche teil. Erst als die Sonne schon rötlich hinter dem blauen Gebirge stand und die Wehmut der Abendstille sich über die Landschaft ergoß, da erst wurde auch sie weich und zerfloß fast in Tränen. Es trieb sie an, nach dem Grabe der Mutter hinauszugehen; die tröstenden Freundinnen wollten sie begleiten, doch sie bat, man möge sie allein gewähren lassen. »Glaubt nicht, daß dieser Gang mich tiefer beugen wird; nein, er wird mein Herz trösten, meine geängstete Brust durch sanfte Tränen erleichtern. Meine Wunden müssen frei ausbluten; vielleicht sind sie tödlich; sie werden es aber gewiß und schneller, wenn ihr den Schmerz derselben gewaltsam in mein Inneres zurückpressen wollt. O, mir wird wohl sein auf dem Hügel meiner Mutter!« Sie ging.

Das Grab war mit frischem Rasen bedeckt; noch hatte es keine andere Zierde. Der Kirchhof lag einsam, friedlich, von hohen Bäumen beschattet. Marie setzte sich auf die Gruft nieder und saß in nachdenklicher Stellung, während ihre Tränen still herabflossen. Plötzlich schreckte das Herannahen eines männlichen Trittes sie auf. Sie blickte zurück und gewahrte St.-Luces, der gerade auf sie zuging. Unangenehm, ja fast widerwärtig durch seine Nähe gestört, stand sie auf, erwiderte seinen ehrerbietigen Gruß mit einer leichten ängstlichen Verbeugung und wollte den Kirchhof verlassen. Er aber ereilte sie mit raschen Schritten und redete sie an: »Vergeben Sie mir, wenn ich Ihre Trauer gestört habe; – der Zufall führte mich hierher, ich hatte Sie nicht früher erkannt, sonst würde ich mich ehrerbietig zurückgezogen haben.«

St.-Luces log mit der Zunge und den Augen gleich fertig; denn ebenso unwahr als seine Worte waren die scheinbar verwirrten Blicke, die mit größter Geschicklichkeit geheuchelte Trauer auf seiner Stirn. Schon seit drei Tagen erspähte er nämlich auf jede ersinnliche Weise eine Gelegenheit, Marien zu sprechen. Die Nachricht von dem plötzlichen Tode der Mutter war ihm im höchsten Grade willkommen, denn sie begünstigte seine doppelt verbrecherischen Pläne. Mariens holdselige Anmut hatte, gleich als er sie zum ersten Male sah, seine verderbte, niedrige Leidenschaft entzündet. Mit der allen Elenden so geläufigen Berechnung der bedrängten Lage anderer, um ihnen das Äußerste abzupressen, entwarf er schnell den teuflischen Plan, zuerst die Angst der Schwester durch die Bedrohung des Bruders zu erregen und dann durch das Versprechen der Rettung – auf das Halten kam es ihm freilich nicht an – ihre Gunst zu erwerben. Deshalb war ihm eigentlich Beaucaires habsüchtige, gerade auf das Ziel losgehende List zuwider. Vollends aber würde er erbittert gewesen sein, wenn er geahnt hätte, daß dieser sein Nebenbuhler sei und mit größerer Frechheit, daher aber auch mit minder künstlicher Verfeinerung der Bosheit demselben Zwecke nachstrebte.

St.-Luces wollte eine Liebesintrige anspinnen; er berechnete, daß das weiche Herz einer Trauernden das empfänglichste für den Trost sei, den eine geheuchelte innige Teilnahme gewährt; er wollte, mit einem Worte, Marien verführen, aber nicht ohne ihr Gelegenheit zu geben, ihre Schwachheit durch eine Art von Heiligenschein zu verhüllen, indem er an ihre Gunst die Rettung des Bruders zu knüpfen dachte. Beaucaire hatte denselben Plan, doch roher; mit dem Henkerschwert über dem Haupte des Bruders wollte er die geängstigte Schwester in seine Arme treiben. Ihm war es nur um den sinnlichen Genuß zu tun, und er kümmerte sich nicht um den Abscheu seines Opfers.

St.-Luces, feiner gebildet und durch viele ähnliche Abenteuer seines Lebens, bei denen ihm eine große Gewandtheit und bestechendes Äußere zu Hilfe kamen, denn in seiner Jugend war er sogar ein schöner Mann gewesen, berechnete, daß der Reiz einer solchen Verbindung durch die getäuschte Neigung des weiblichen Gemüts unendlich erhöht werde. Er wollte nicht eher unter seiner Larve erkannt sein, bis er selbst mit der völligsten Sättigung und Gleichgültigkeit das angesponnene Verhältnis wieder trennte. Diese Pläne verbargen Beaucaire und St.-Luces natürlich einander aufs sorgfältigste, und in der Tat ahnte keiner von beiden die Absicht des Gegners, einmal, weil sie einen ganz verschiedenen Weg einschlugen, und zweitens auch, weil einer den andern entweder nicht für schlau oder boshaft genug hielt, um so viel Nutzen aus der Lage der Verhältnisse zu ziehen. Beaucaire spürte unablässig ringsumher, ob er nicht den Aufenthalt Ludwigs bei der Armee, den Namen, den er jetzt führte, mit Bestimmtheit erfahren könnte. Daher lauerte er wie der Ameisenlöwe in der versteckten Finsternis seiner Höhle nur auf einen Brief Mariens an ihren Bruder, um ihn mit seinen Fangzangen hinunterzuziehen. Dann wollte er vor die Unglückliche hintreten, um sie durch das Medusenhaupt seiner Entdeckung zu erstarren und so die Willenlose hinzuopfern. Der Tod der Mutter war daher auch ihm willkommen gewesen; denn mit Recht glaubte er, daß Marie ihn dem Bruder sogleich oder doch in den nächsten Tagen melden werde. Er hatte es deshalb nicht an Geld fehlen lassen, um den verräterischen Postbeamten aufmerksam zu machen. Diesmal verschwendete er es jedoch vergeblich, weil Mariens Brief längst durch die Gräfin abgesandt war, die ihn einem nach Dresden reisenden Landsmanne anvertraut hatte, um ihn dort auf die Post zu geben. Von St.-Luces' Absichten hatte Beaucaire, da dieser ihn durch Schmeicheleien und Zuvorkommenheit in die größte Sicherheit und so leicht getäuschte eitle Selbstgefälligkeit einwiegte, keine Ahnung und daher auch kein Arg aus dessen Spaziergängen, um so mehr, da derselbe sie höchst geschickt einzuleiten und zu verbergen wußte.

Es war jetzt das erstemal, daß St.-Luces Marien allein traf. Sie erwiderte seine Anrede mit einigen befangenen Worten und wollte sich entfernen; doch er tat, als bemerke er dies nicht, und zwang sie durch eine rasche Antwort zu bleiben. »Wie hinterlistig lauert das Schicksal oft auf uns! Wer hätte ahnen sollen, daß Sie, von dem heitern Ausflug froh zurückkehrend, daheim das Unglück so finster vor der Schwelle gelagert finden sollten! O glauben Sie mir, Ihr Trauerfall war so erschütternd, daß er kein Herz ungerührt gelassen hat; noch jetzt wendet sich der Gedanke, das Gespräch immer wieder darauf zurück, und es gibt kaum ein Auge in diesem von so vielen Fremden überfüllten Orte, das nicht Ihrem Schicksal eine Träne geweint hätte.«

Marie schauderte; denn da sie wußte, welchen Einfluß St.-Luces auf das Schicksal ihres Bruders geübt hatte, erfüllte seine Nähe sie nur mit einem unheimlichen Grauen. Doch suchte sie sich zu fassen. »Ich weiß es,« sprach sie nach einigen Augenblicken, »daß der plötzliche Todesfall meiner Mutter Aufsehen erregt hat, zumal da er mit einem Ereignis in Verbindung stand, das viele erschreckte. Doch ebendieses Aufsehen muß mir schmerzlich drückend sein; denn der Trauernde sucht die ungestörte Einsamkeit am liebsten auf.«

St.-Luces verstand die Beziehung der letzten Worte sehr wohl; allein er wollte sie nicht verstehen und wußte seinen Verdruß darüber vollkommen zu beherrschen. »Gewiß, gewiß,« sprach er; »allein nicht immer ist das, was der Kranke begehrt, ihm das Heilsamste. Nicht ganz dem Schmerz sollten Sie sich überlassen; einige Augenblicke sollten Sie sich doch abmüßigen für die, welche wahrhaft Ihre Freunde sind.« – Er schwieg; auch Marie. – »Es ist fast dunkel geworden! – Mir scheint es Pflicht, Sie zu erinnern, daß Sie kaum noch allein den Weg zur Stadt zurückmachen können«, begann St.-Luces nach einigen Augenblicken wieder.

»Sie haben recht, ich hätte schon gehen sollen«, sprach Marie höflich, grüßte und ging.

Kaum hatte sie die Tür des Kirchhofs erreicht, als sie seine Schritte abermals dicht hinter sich hörte. »Ich habe mit mir gekämpft,« sprach er hastig, indem er herantrat, »ob es meine Pflicht sei, Ihnen unberufen die volle Wahrheit zu sagen, ob es Gründe gibt, die dringend genug sind, meine Einmischung in die Angelegenheiten ganz fremder Personen zu rechtfertigen. Die Entscheidung lautet: ich müsse reden. Wissen Sie denn, ich kam nicht absichtslos hierher; ich suchte Sie auf. Ich weiß, daß jemand, der Ihnen sehr teuer ist, Gefahr droht, daß man nahe daran ist, seinen Aufenthaltsort zu entdecken, ihn in diesem Augenblicke vielleicht schon entdeckt hat. Sie könnten durch Unvorsichtigkeit in die traurigsten Schicksale verwickelt werden – ein Gefühl,« hier heftete er das Auge wie verwirrt auf den Boden, »welches nur Jüngere zu kennen pflegen, das mich aber von dem ersten Augenblicke an ergriff, wo ich Sie sah, dessen ich nicht Meister bin – zwang mich – ich fürchte zu einer Verletzung meiner Pflicht. Mehr darf ich nicht sagen – seien Sie auf Ihrer Hut!« Mit diesen Worten wandte er sich um und wollte rasch hinwegeilen. Marie, die ihm mit zitterndem Erstaunen zugehört hatte, rief ihm nach: »Um Gottes willen, erklären Sie sich deutlicher. Ich bitte Sie dringend.«

St.-Luces stand still; er schien mit sich selbst zu kämpfen. Endlich kehrte er zurück. »Deutlicher? Ist es nicht genug, daß Sie mich verstehen? Ich begehe eine Verletzung an meiner Pflicht – und doch, wenn ich Ihre Tränen sehe, wie könnte ich widerstehen!« Er trat Marien einen Schritt näher und ergriff ihre Hand, die sie ihm unschlüssig weder zu reichen noch sie zurückzuziehen wagte. In diesem Augenblicke rauschte es im Gebüsch dicht neben ihnen und Benno trat hervor. Mariens bleiches Angesicht wurde von einer dunkeln Schamröte Übergossen, da sie an diesem einsamen Orte allein mit dem Fremden in so vertraulicher Stellung betroffen wurde. Sie ahnte nicht, daß Benno ihr guter Engel sei, denn in der Überraschung wäre es St.-Luces vielleicht gelungen, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie auf diese Weise völlig zu verderben.

Benno war selbst noch zu jung und unschuldig, um aus einem so leichten Anschein einen kränkenden Verdacht zu schöpfen. Seine dichterischen Träumereien hatten ihn auf den Friedhof geführt, wo mancher früh entschlummerte Freund von ihm lag. Als er jetzt Marien erblickte, von deren traurigem Schicksal auch er gehört, ging er unbefangen, tief bewegt auf sie zu und redete sie an: »O daß ich Sie hier wiedersehen sollte, nach jenem schönen, unvergeßlichen Tage; wer hätte das geahnt!« Auch er ergriff, von dem Gefühl seiner Wahrhaftigkeit und Unschuld geleitet, Mariens Hand und küßte sie mit jugendlicher Ehrerbietung. Es war, als sänke Marien ein Schleier von den Augen und eine schwere Last vom Herzen. Denn als Bennos natürliches Mitgefühl neben St.-Luces geheucheltem stand, da erblickte sie die heiligen einfachen Züge der Wahrheit siegreich neben der gekünstelten Larve der Verstellung. Der Unterschied zwischen beiden war nicht mehr zu verkennen. Marie schauderte zusammen, ohne sich deutlich bewußt zu sein weshalb. Ein sanfter Druck ihrer Hand war die einzige Antwort, die sie geben konnte; er dankte dem jungen Freunde zugleich für seine Teilnahme und seine Arglosigkeit; denn ein Blick auf seine Züge belehrte sie, daß nicht die leiseste Spur des Argwohns in seine reine Seele gedrungen sei.

»Es ist spät – ich muß gehen«, sprach sie nach einigen Augenblicken und wollte fort. – »Es ist so spät, daß ich Sie unmöglich allein gehen lassen kann,« rief St.-Luces, und Benno, im reinsten Wohlwollen, setzte hinzu: »Jawohl wir müssen Sie begleiten.«

Marie atmete leichter, als dieser reine Schutzengel sich ihr zugesellte; in St.-Luces' Zügen aber trat der schon vorher schlecht verhehlte Verdruß über Bennos Dazwischenkunft so auffallend hervor, daß er es mit den gewandtesten Worten nicht mehr vermochte, den Argwohn zu beschwichtigen, der Mariens Seele ergriffen hatte. Wenig sprechend ging man nebeneinander hin. Marie eilte nach Hause zu kommen. Als man sich wieder in der ersten Gasse der Vorstadt befand, streifte rasch eine fremde Gestalt von hinten her an den dreien vorüber, warf einen flüchtigen Blick seitwärts, grüßte und sprach im Vorübergehen: »Bon soir, Monsieur de St.-Luces!« – Dieser erwiderte den Gruß ein wenig überrascht, denn es war Beaucaire.

Man hatte das Hotel erreicht, wo die Gräfin wohnte; Marie nahm mit einem stummen, verlegenen Gruße Abschied von ihren Begleitern. Oben erzählte sie sogleich, was ihr begegnet sei. Die Gräfin hegte denselben Argwohn gegen St.-Luces und erhöhte ihn noch durch mancherlei nicht abzuweisende Bemerkungen, woraus die offenbare Absichtlichkeit seines Benehmens hervorging.

Die Uhr der Schloßkirche hatte eben zehn geschlagen, und die Frauen schickten sich nach der Sitte des Badeortes bereits an zur Ruhe zu gehen, als es stark an der Haustür schellte. Der Diener, brachte einen Brief herauf, den ein Unbekannter abgegeben hatte. Die Aufschrift war an Marien. Sie öffnete und fand nur einen Zettel mit den Worten: »Hüten Sie sich vor Herrn von St.-Luces! Ihr Freund.«

Wer war dieser rätselhafte Warner? Vergeblich bestrebten sich die Frauen, es zu erraten; der einzige, auf den sie vermuten konnten, war Benno. Und doch, was sollte er wissen oder ahnen? Voll neuer banger Sorgen legte sich Marie zur Ruhe; doch die ängstigenden Vorstellungen verfolgten sie auch in ihre Träume hinein, und sie erwachte oft verstört aus der schweren Betäubung des fieberhaften Schlafes. So rang sie zwischen Angst und Tränen. Ach, war es denn nicht genug, eine Mutter zu beweinen, mußte sie auch noch für das Haupt des Bruders zittern?


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