Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Zweites Kapitel.

Es war ein grauer Septembertag, an dem Lodoiska, nur von ihrem Mädchen begleitet, die nahe Kirche besuchte. Ihr Weg führte sie vor dem Hotel des französischen Gesandten in Warschau, Herrn von Pradt, vorüber. Vor der Tür hielt ein Kurierwagen; sie bemerkte eine auffallende Bewegung unter den Dienstleuten. Es mußte eine Nachricht von Wichtigkeit eingetroffen sein. Mit klopfendem Herzen näherte sie sich. Freilich konnten von allen Gegenden Europas, aus Spanien, Paris, Italien, Wien, die Eilboten bei der Gesandtschaft eintreffen; allein die größten Ereignisse begaben sich doch jetzt da, wo ihr Herz weilte. Eine innere Stimme sagte ihr, daß Nachrichten von der Armee gekommen sein müßten. Sie beschleunigte ihre Schritte; zu blöde, sich selbst zu erkundigen, gab sie ihrem Mädchen den Auftrag und wollte, langsam vorangehend, dieselbe jenseit des Hotels erwarten. Doch indem sie vor der Tür vorbeiging, kam ein Offizier in Paradeuniform heraus; er stutzte, als er sie sah, schien sie zu erkennen, ging rasch auf sie zu, verbeugte sich und sprach: »Ich hoffe vielleicht zuviel von der Güte Ihres Gedächtnisses, wenn ich voraussetze, daß Sie mich noch kennen sollten, gnädigste Gräfin?« Lodoiska war jungfräulich überrascht, doch erkannte sie sogleich den Rittmeister Arnheim von Teplitz. »O gewiß erkenne ich Sie,« war ihre Antwort, »wenngleich ich nur wenige Tage in Teplitz zugebracht habe. Dafür ist es aber auch erst ganz kurze Zeit her, daß wir es verließen. Aber was führt Sie nach Warschau?« – »Meine Herstellung ist vollendet. Ich gehe zur Armee nach Wolhynien ab.« – »Es scheint, daß soeben wichtige Nachrichten beim französischen Gesandten eingetroffen sind«, sprach Lodoiska ein wenig ängstlich und sah sich um, ob ihr Mädchen noch nicht nachkomme. – »Die wichtigsten von der Welt,« entgegnete der Rittmeister rasch; »diesen Augenblick brachte sie der Kurier. Es ist eine große Schlacht vorgefallen, bei Mosaisk, zwei Tagemärsche von Moskau!« – »Ohne Zweifel sehr blutig?« fiel Lodoiska erblassend und zitternd ein. Arnheim bemerkte im Gehen nicht, daß sie durch die Nachricht so heftig ergriffen wurde, und fuhr daher unvorsichtig fort: »Blutig, wie es kein Beispiel mehr in der Geschichte gibt; die Zahl der Toten und Verwundeten ist noch nicht genau bekannt; doch im Überschlag gibt die Depesche sie auf 60-70000 Mann von beiden Seiten an. Der Sieg des Kaisers ist mit unermeßlichen Opfern erkauft.«

Das Bild des Schlachtfeldes trat plötzlich mit so entsetzlichen Farben vor Lodoiska hin, es erfüllte ihre Seele mit solchem Grausen, daß sie, ihrer selbst nicht mehr mächtig, erblassend zurücktrat und mit dem ersterbenden Ausruf: »Heilige Mutter Maria!« in die Knie sank. Arnheim sprang hinzu und fing sie in seinen Armen auf. Verlegen sah er sich nach Hilfe um, als schon Lodoiskas Mädchen hastig herbeieilte und im ängstlich wehklagenden Tone rief: »Um Gottes willen, was ist meinem Fräulein?« – »Der Schreck über die Nachricht von der Schlacht hat sie so heftig ergriffen; wir wollen sie hier in das Hotel des Gesandten tragen!« sprach Arnheim.

Doch Lodoiska öffnete die Augen wieder. Eine dunkle Glut der Beschämung hauchte den Marmor ihrer Wangen an; sie seufzte tief auf. Zu sprechen vermochte sie noch nicht, doch richtete sie sich empor und blieb nur auf den Arm des Mädchens gelehnt. »Wie soll ich Verzeihung für meine Unvorsichtigkeit hoffen,« sprach Arnheim; »wir Soldaten sind so roh, daß wir bei der Nachricht von einer Schlacht niemals an die Opfer denken.« – »Sie sind nicht schuld,« antwortete Lodoiska; »es war nur meine Torheit.« Da brachen ihre Tränen unaufhaltsam hervor. »Ich muß nach Hause – vergeben Sie nur –« sprach sie mühsam.

»Darf ich Ihnen meinen Arm leihen? Oder befehlen Sie, daß ich einen Wagen besorge?« fragte der Rittmeister dienstfertig. – »Wenn Sie mich unterstützen wollen, werde ich es Ihnen sehr danken; ich bin in der Tat aufs äußerste ermattet.« Arnheim gab ihr den Arm. Von der andern Seite lehnte sie sich auf das Mädchen und ließ sich so nach dem Palast der Gräfin zurückführen. Glücklicherweise hatte Lodoiskas Ohnmacht nur eine Minute gewährt, und die Aufmerksamkeit der Leute auf der Straße war in diesem Augenblicke so sehr auf die Bewegungen im Hotel des Gesandten gerichtet gewesen, daß der Vorfall ganz unbemerkt vorüberging. Man schlug jetzt eine menschenleere Seitengasse ein, und so gelangte die Geleitete trotz ihres schwachen, zitternden Ganges an den Palast der Gräfin, ohne daß die Neugier lästiger Zuschauer ihr folgte.

Für den Rittmeister war es nicht schwer, sich die Ursache des heftigen Schrecks, der Lodoiska ergriffen hatte, allgemeinhin zu erklären. Denn wer hatte nicht einen Freund, einen Bruder, einen Vater bei dem Heere? Indessen dachte er zart genug, um nicht näher zu forschen, und suchte auch den schreckenvollen Eindruck der ersten Nachricht durch mildernde Zusätze zu mäßigen. Als man an der Pforte des Hauses stand, sprach Lodoiska: »Ich danke Ihnen herzlich für Ihre hilfreiche Teilnahme; gewiß müßte ich Sie bitten, mir noch weiter zu folgen. Doch –« Arnheim ließ sie nicht weiterreden. Er fiel mit Wärme ein: »Diese ersten Stunden der Aufregung gehören der Einsamkeit; der wohlmeinendste Fremde könnte nur störend erscheinen. Doch versagen Sie mir es wohl nicht, zu einer günstigern Zeit zu kommen.« Lodoiska sah ihn mit einem dankbaren Blicke an: »Es würde mir sehr weh tun, wenn wir Sie nicht sehen sollten; ich hoffe, wir werden Sie dann froher willkommen heißen können.«

Mit diesen Worten reichte sie ihm die Hand zum Abschiede und trat dann rasch umgewendet, weil sie ihre Angst nicht mehr beherrschen konnte, ein. Mühsam erreichte sie die stillen Gartenzimmer. Marie war die erste, die ihr begegnete. »Leihe mir deine Stärke, Marie,« rief sie ihr zu und breitete die Arme aus, »leihe mir deine Kraft, Teuerste, daß ich die Todesangst ertrage, bis wir Nachricht haben!«

»Um des Himmels willen, was ist geschehen?« rief Marie erschreckt, indem sie die Freundin, die sich atemlos an ihre Brust warf, sanft umschloß. Lodoiska vermochte eine Zeitlang nicht zu sprechen; Marie hörte nur das laute Pochen ihres Herzens. Sie führte die halb Hinsinkende auf das Sofa. Dort erst begann sie nach einigen Minuten in heftigster Bewegung: »Eine Schlacht ist geliefert – 70000 Tote und Verstümmelte bedeckten das Gefilde. Das gräßliche Bild dieses unendlichen Jammers kann mich wahnsinnig machen! – Ach Marie! – Ich sehe nichts als Blut und das blasse, stumme Antlitz der Toten!« –

Die Gräfin trat ein. Sie hatte schon durch das Kammermädchen erfahren, was geschehen war. Bei ihr überwog das Gefühl des Sieges die Besorgnis um die Ihrigen. Freundlich, aber ruhig trat sie auf die geängstete Lodoiska zu und sprach: »Komm an mein Herz, liebste Tochter; weine dich an der Brust deiner Mutter aus. Dann wirst du ruhiger werden und mit Fassung die fernern Nachrichten erwarten, die uns ja bald zukommen müssen.« Das Beispiel der Festigkeit, verbunden mit der sanften Teilnahme, welche ihre mütterliche Pflegerin zeigte, richtete den Mut der Verzagenden wunderbar auf. Mariens freundliche Liebkosungen, die die eigene Angst um den Bruder sorgfältig verbarg, und die Kraft dazu eben aus Lodoiskas Schwäche schöpfte, vollendeten ihre Beruhigung, soweit dies jetzo möglich war.

Nach einigen Minuten trat ein Diener ein und meldete, Rittmeister Arnheim bitte dringend um die Erlaubnis, vorgelassen zu werden, er bringe glückliche Botschaft. Erst jetzt erfuhr Marie, angenehm überrascht, doch ein wenig verlegen, die Anwesenheit dieses Bekannten aus der Heimat, dessen große Aufmerksamkeit für sie ihr nicht entgangen sein konnte. Lodoiska, nur mit dem für sie so ängstigenden Ereignis beschäftigt, hatte bisher dessen noch gar nicht gedacht. Die Gräfin wußte durch das Mädchen nichts weiter, als daß ein fremder Offizier Lodoiska unterstützt und geleitet habe. »Sehr willkommen!« sprach sie und winkte dem Diener.

Lodoiska war in größter Spannung, denn ohne eine dringende Veranlassung, und wie alles andeutete auch nicht ohne eine glückliche, konnte sich der Rittmeister nach der Art, wie sie von ihm Abschied genommen hatte, unmöglich jetzt schon einstellen. Mit klopfendem Herzen vernahm sie seine raschen Schritte im Vorsaal. »Verzeihen Sie mir nur mein rasches Eindringen,« sprach er eintretend zur Gräfin, »aber ich konnte mir's unmöglich versagen, selbst der Überbringer dieses Blattes zu sein, welches unstreitig Ihre Besorgnisse wegen der Schlacht sogleich heben wird.« Dabei überreichte er ihr ein offenes Blatt, auf welchem einige, mit Bleistift geschriebene Worte in polnischer Sprache standen.

»Tausend, tausend Dank!« erwiderte die Gräfin, als sie einen Blick auf das Papier geworfen hatte. Hier, Lodoiska, lies du selbst, was mein Bruder schreibt: »Teuere Schwester! die Schlacht ist vorüber, ich lebe; unsere nächsten Freunde sind alle unverletzt. Nächstens mehr.«

»Dank dir, heilige Mutter Gottes!« rief Lodoiska außer sich und warf sich unter strömenden Tränen an die Brust der Gräfin. »Wie bist du gnadenreich gegen deine Tochter!« Ihre Blicke richteten sich in verklärter Freude gen Himmel; sie faltete die Hände über der Brust und vermochte nicht mehr zu sprechen. Auch Marie war in tiefstem Bewegung. »Alle unverletzt«, sprach sie und eine Träne der innigsten Rührung zitterte in ihren Wimperm »Das ist mehr, als ich selbst zu hoffen wagte! O jetzt empfinde ich erst an meiner unaussprechlichen Freude, wie namenlos meine Angst war! Haben Sie Dank für diese Botschaft.«

Wie großes Glück oder Unglück edle Herzen öffnet, daß sie der gewöhnlichen, beengenden Schranken des Lebens nicht mehr gedenken, so ging Marie offen und frei auf Arnheim zu und reichte ihm mit Wärme die Hand. Dieser stand aufs äußerste betroffen, denn Mariens Gegenwart in diesem Orte, die er nicht ahnen konnte und noch nicht wahrgenommen hatte, überraschte ihn jetzt mit einer Plötzlichkeit, die ihm beinahe die Fassung raubte. Mit freudiger Bestürzung ergriff er die dargebotene Hand und drückte sie an die Lippen. »Sie hier?« sprach er sich aufrichtend mit dem Tone der höchsten Verwunderung; »das hätte ich nimmermehr vermutet!« – »Ich bin einer sehr freundlichen Einladung gefolgt,« antwortete Marie; »doch ist in der Fremde die Begegnung mit einem Landsmanne und vollends mit einem, den wir näher kennen, ein gar zu freudiges Ereignis.« –^ »O gewiß, gewiß!« rief der Rittmeister und küßte ihre Hand mit solchem Feuer, daß Marie sie sanft zurückziehen mußte.

»Wir sind Ihnen unendlichen Dank schuldig geworden, Herr Rittmeister,« sprach die Gräfin; »und diejenigen, die ihn nicht einmal auszusprechen wissen, am meisten.« Sie deutete dabei auf Lodoiska, die ihre von dankbarer Rührung in Tränen überströmenden Augen mit dem Tuch bedeckt hielt. »Aber wie kommen Sie zu dem Blatt?«

»Auf die einfachste Art von der Welt«, erwiderte der Rittmeister. »Ich hatte mich eben im Bureau der Gesandtschaft gemeldet, als die Depeschen eintrafen. Ein dort arbeitender Offizier sagte mir, daß der Kurier, wie gewöhnlich, eine Menge flüchtiger Briefe und Meldungen, teils auf offenen Zettelchen, teils in vorbereiteten Kuverts, teils nur mit Bleistift geschrieben, mitgebracht habe, wodurch diejenigen, die an der Schlacht teilgenommen haben, den Ihrigen die ersten Beruhigungen zukommen lassen, in jeglicher Form, wie die Umstände es eben gestatten. Dies brachte mich auf den Gedanken, ob nichts für Sie, gnädigste Gräfin, dabei sein möchte. Ich eilte ins Bureau zurück und es fand sich in der Tat dieser offene, mit Bleistift geschriebene Brief vor. Ich erbat ihn mir, um ihn sofort mitzuteilen, etwas, das man um so lieber annahm, als man diese Briefe gern mit der Nachricht zugleich an diejenigen gelangen läßt, an die sie gerichtet sind. So ward ich der Überbringer.« – »Unsers größten Glückes«, fiel die Gräfin ein. »Nochmals seien Sie uns als der heilbringendste Bote willkommen!«

Lodoiska fühlte in ihrem frommen Herzen das Bedürfnis, der himmlischen Beschützerin ihres Glücks den Dank des Gebetes darzubringen. Unbemerkt schwebte sie aus dem Gemach und suchte die Einsamkeit ihres Zimmers auf, wo ein Marienbild, mit herbstlichen Blumen von ihr selbst geschmückt, hing. Hier kniete sie nieder und betete stumm. Marie hatte sie erraten und folgte deshalb nicht. In der Stille der Brust richtete auch sie Dankgebete an den Allmächtigen, der ihr den Bruder erhalten hatte. Doch zugleich überkam sie eine bange Wehmut über die Folgen des großen Ereignisses. Das Gespräch, welches die Gräfin mit dem Rittmeister begann, gab ihr zum großen Teil Auskunft auf die Fragen, die sie in ihrem Innern tat. »Sie glauben,« begann die Gräfin, »daß dieser Sieg entscheidend für den Ausgang des Kampfes ist?«

»Ohne allen Zweifel. Zwei kleine Tagemärsche von der alten Hauptstadt des Reichs, führt er diese unfehlbar in die Gewalt des Kaisers, und damit dürfte Rußlands Los entschieden sein.«

»Das Reich dehnt sich noch weit hinter Moskau aus, die blühendsten, bevölkertsten Provinzen reihen sich an die südlichen Abhänge des Ural. Für ganz besiegt möchte ich Rußland nicht halten, selbst wenn die beiden Hauptstädte im Besitz des Kaisers wären.«

»Gewiß nicht,« erwiderte Arnheim; »allein es ist in seiner geistigen Kraft gebrochen durch die Wegnahme der Hauptstadt. Äußerlich möglich ist die Fortsetzung des Kriegs ohne allen Zweifel, doch innerlich wird sie nicht ausführbar sein. An die Hauptstadt des Reichs knüpfen sich zu vielfach verschlungene Interessen; sie ist der Punkt, wohin alle Wege des Reichtums, des Handels, des Verkehrs sich vereinigen. Und wie ein gewaltiger Schlag nur eines der edlern Organe zermalmen darf, um das Leben des ganzen Körpers zu vertilgen, so ist in Kriegen das Eindringen des Feindes in die Hauptstadt von tödlich lähmender Wirkung für alle übrigen Kräfte des Reichs.«

»So wäre denn die Weltherrschaft Napoleons entschieden?« fragte Marie mit einer Stimme, der man den unterdrückten tiefen Schmerz anhörte. »Für den Kontinent gewiß«, entgegnete Arnheim. Die Gräfin, welche Mariens Sinnesart kannte, denn diese hatte bei aller Freundschaft für ihre wohlwollende Beschützerin doch nie einen Hehl daraus gemacht, dachte zu edel, um ihre Freude über eine Wendung der Weltbegebenheiten zu äußern, die für eine Deutsche so niederschlagend sein mußte. Marie ihrerseits, welche besonders seit ihrem Aufenthalte in Polen leicht begriff, wie viel diese Nation von den Siegen des Kaisers zu hoffen hatte, trug ihren Kummer still. Kaum daß ein schmerzlicher Zug um ihre geschlossenen Lippen ihn verriet. Arnheim schien sie jedoch zu verstehen, weil er ähnlich fühlte. Doch griff der Schmerz um das Vaterland nicht so tief in seine Seele; teils weil er sein Geburtsland, Österreich, jetzt höher gestellt zu sehen hoffen durfte, teils indem er als Soldat eine kriegerische Verehrung vor dem französischen Kaiser als Feldherrn empfand, vorzüglich aber, weil er sich in glücklichern Hoffnungen für Deutschland wiegte, als man damals zu haben pflegte. Er hielt es für gut, von diesen zu sprechen. »Vielleicht,« äußerte er, »ist daß Resultat dieser Schlacht segensreich für ganz Europa. Gegen wen wird eigentlich der Krieg geführt? Meiner Meinung nach nicht gegen Rußland, sondern gegen England. Durch die Besiegung der russischen Heere ist der Kaiser nunmehr endlich Herr aller europäischen Küsten; denn Spanien und Portugal werden bald ganz in seiner Gewalt sein. Alsdann ist er imstande, den Engländern die Bedingungen des Friedens, wenn nicht unbedingt vorzuschreiben, doch wenigstens sie zur Annahme billiger Verträge zu bewegen. Englands Macht ist so groß, daß der ganze Kontinent aufgeboten werden mußte, um dieser kleinen Insel das Gleichgewicht zu halten. Dieses große Ziel scheint mir jetzt erreicht; wenigstens sind wir nahe daran. Dann, so hoffe ich, wird ein allgemeiner Friede, dessen alle Nationen bedürfen, nach dem sich alle Völker sehnen und Frankreich vielleicht am meisten, gewiß die furchtbaren Erschütterungen, die Europa seit zwanzig Jahren dulden muß, beschwichtigen, die zerrissenen Bande neu knüpfen, die gewaltsam geschlossenen vernünftig lösen. Vieles Übel, welches der Kaiser jetzt, durch den Drang der Ereignisse gezwungen, den Völkern zufügen mußte, wird aufhören. Er gab den überwundenen Nationen fremde Könige, strenge Statthalter. Weshalb? Weil er ihrer nicht sicher war, und bei seinen unermeßlichen Kriegszügen doch keine gefährlichen Feinde im Hintergrunde dulden durfte. Vielleicht setzt er jetzt, eben um das Band der Sicherheit fester zu knüpfen, die rechtmäßigen Fürsten wieder ein. Denn an den Personen liegt ihm nichts, zumal an seinen Brüdern und Verwandten. Sie sind nur Monarchen, weil er ihrer Anhänglichkeit am sichersten ist, denn er ist der Stamm, auf dem sie blühen. Wurzelt er erst tief und fest, so kann er der wucherischen Zweige, die einen nachteiligen Schatten auf das Land umher werfen, leicht entbehren. Ja, ich hoffe, daß seine enge verwandtschaftliche Verbindung mit unserm Kaiserhause das Glück Europas bilden wird. Österreich wird der Vertreter des deutschen Volkes werden. Napoleon wird gern sehen, daß es in einem friedlichen Bündnis mit ihm stehe; dann wird er, weil man lieber starke Bundesgenossen hat als schwache, auch das Gedeihen des Landes auf alle Weise befördern helfen. Es mußte viel altes Unheil bei uns in Deutschland zerstört werden, bevor ein neuer Bau sichern Boden, freien Raum fand. Die verjährten Formen hat der französische Kaiser als Vertreter einer großen, jugendlich kräftigen, neu erwachenden Zeit vernichtet; was jetzt besteht, ist nur vorübergehend. Er selbst weiß, daß es nichts Festes ist, denn er selbst reißt ja täglich ein, was er für die Not des Augenblicks aufbaute, und läßt Völker und Fürsten gleich schnell ihre Pflichten wechseln und ändern. Ist aber erst das große Ziel seines gewaltigen Wollens erreicht, ist der Kontinent ebenso ein streng im Innern Zusammenhängendes als die Ländermasse, aus der er besteht, sich äußerlich verbindet: dann wird der große Mann einen festen, dauernden Grund legen, um auf demselben einen stolzen Bau für ferne Zeiten zu begründen. Dazu mußte dieser letzte Kampf gefochten sein. Niemand fühlt es so tief als ich, wie bittere Opfer der Demut, der Entsagung, des gebrochenen Stolzes Deutschland bringen mußte; aber sie werden nun ein Ende haben. Sie waren eine Vergeltung für alte, schwere Verschuldungen; die Geschichte erspart keinem Volke eine solche Buße für alte Vergehungen. Sie richtet nicht die Täter, nicht die Personen, aber die Taten, die Dinge mit unverbrüchlicher Gerechtigkeit. Und könnte Deutschland die Vorteile ableugnen, die es schon halb, nur durch die Zerstörung vieles Alten, Verderblichen gewonnen hat, obwohl das neue Gute noch nicht an die Stelle des Zertrümmerten getreten ist? Fragen wir uns ernstlich, ob es vor zwanzig Jahren gut bei uns war; wir müssen antworten: Nein! Es stand schlecht um alles, was das Glück eines Volkes bilden soll. Seit Jahrhunderten hat Deutschland nur Kriege mit sich selbst geführt. In unzählige Gebiete gespalten, gehorchte es hundertfacher Willkür. Die Einheit der Nation war verschwunden. Nur die Sprache bildete noch das innere, geistige Band. Tausend Schranken türmten sich einer freien, tätigen Entwicklung der Volkskräfte entgegen. Nur auf sein Inneres war der Deutsche gewiesen; das hat er redlich angebaut, aber die neue Erkenntnis konnte ihm noch keine lebendige Frucht in der Gestaltung seines Volkslebens gewähren. Eine stürmisch aufgeregte Flut brauste über Deutschland herein, und unter den rauhen Schlag ihrer Wellen verschwanden die alten, tiefeingegrabenen Spuren übererbter Vorurteile und Vorrechte, Beschränkungen, Hemmungen, Bedrückungen. Wir trugen diese Fesseln schon so lange, daß die Gewohnheit unser Gefühl gegen den harten Druck abgestumpft hatte; ja sie waren in unser Fleisch eingewachsen. Doch dürfen wir es nicht vergessen, wie leicht wir aufatmeten, als vor zwanzig Jahren die eherne Hand der Zeit zum ersten Male an diesen Eisenstäben unsers Gefängnisses rüttelte. Jetzt halten uns neue Bande gefesselt, die wir unwillig tragen. Allein so fest dürfen wir in unserm gerechten Schmerz und Zorn das Auge doch nicht schließen, daß wir nicht sehen sollten, wie wir, obgleich wir neue Fesseln tragen, doch der alten entledigt sind, unter denen wir seufzten. Nein, wir seufzten kaum, und das war fast schlimmer, denn wir sanken schon in jenen Zustand der tiefsten Unwürdigkeit des Sklaven hinab, der das Bedürfnis der Freiheit nicht mehr empfindet. Jetzt kennen wir es, und so dürfen wir nicht verzagen, ein Ziel zu erringen, das leuchtend vor uns schwebt; sei es nun durch eigene Kraft der Tat, oder durch eine glückliche Wendung der Weltgeschicke. Diese letztere aber könnte eben jetzt leicht eingetreten sein.«

Arnheim hatte sich ins Feuer gesprochen; er redete für alle Parteien, und darum hörten selbst die entgegengesetzten ihn gern. Marie wurde durch seine Worte in tiefster Seele erquickt und ihre von sanfter Freude verklärten Blicke sagten ihm einen liebevollen Dank. Die Gräfin stand bewegt auf. »Wenn schon Sie so große Hoffnungen an diesen Sieg knüpfen,« sprach sie, »wie muß uns das Herz schlagen, uns, die wir in dieser Schlacht für die Freiheit des Vaterlandes kämpften! Wenn der Tag gekommen wäre, der lang, heiß ersehnte Tag, wo das in den Staub gebeugte Polen seinen edeln Nacken wieder stolz aufrichten könnte! Wenn der weiße Adler die gelähmten Schwingen ausbreitete und den kühnen Flug zur Sonne der Freiheit, des Ruhms zu wagen vermöchte! O dann, dann dreimal Heil und Segen über diesen Sieg! Das Blut der Gefallenen wäre nicht umsonst geflossen!« Gleich einer Königin stand die erhabene Frau da, Hände und Blick aufwärts zum Himmel hebend.


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