Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Buch.

Erstes Kapitel.

Es war an einem Sonntage in den sptätern Nachmittagsstunden, als Jaromir, Ludwig und Bernhard zuerst von einer Anhöhe die Türme von Warschau erblickten. Der Weg hatte sich lange in einem dunkeln Fichtenwalde, der keine Aussicht gestattete, hingezogen. Jetzt schlug er eine Ecke und klimmte einen mit Heidekraut und Brombeergebüsch überwachsenen Hügel hinan. Von dem Gipfel desselben übersah man die Ebene weithin; an ihren fernen Grenzen stiegen Warschaus stolze Paläste und Türme empor. Der feurige Jaromir rief dem Postillon ein »Halt« zu und sprang mit freudig glänzenden Augen aus dem Wagen. »Das ist meine Vaterstadt!« rief er aus. »Acht Jahre habe ich sie nicht gesehen; aber ich kenne noch jedes Haus, jeden Giebel, jede Turmspitze hier im ganzen Umkreis. Kommt, meine Freunde, steigt ein wenig aus und laßt uns zu Fuß den Hügel hinabgehen. Hier durch das Brombeergebüsch zieht sich ein Pfad, der nachher über die Wiesen wieder auf die große Straße führt. Im Gehen zeige ich euch die merkwürdigen Orte hier ringsumher; denn soweit euer Auge reicht, entdeckt ihr keinen Kirchturm, an dem nicht polnische Helden begraben lägen, die für das Vaterland gefochten haben. Ach, wann wird diese Erde endlich die Saat der Freiheit blühen sehen, welche unsere Väter hier mit ihrem Blute düngten! Seht ihr das Dorf hier gerade vor uns? Das ist Wielka Wola, wo Kosciuszko im Jahre 1794 focht; hier links hinüber, hinter dem Fichtenwalde, seht ihr den spitzen Turm von Opalin und weiter unten den Wawryscew. An beiden Orten floß polnisches Blut in demselben Jahre, und bei Opalin blieb mein Oheim, Kasimir Graf Brescinski! O Freunde, hier liegt mancher begraben, der blutiger Tränen wert ist! Ich wollte aber, wir wären mit Sonnenaufgang hierher gekommen; denn es will mir nichts Gutes bedeuten, daß ich die Türme meiner Vaterstadt im Golde der Abendsonne leuchten sehe!« Hier schüttelte er schwermütig das Haupt, und ein Zug edeln Grams umwölkte seine so offene heitere Stirn.

»Du bist ein schlechter Wahrsager,« rief Bernhard frisch aus; »ich will dir unsere Ankunft anders deuten. Siehst du nicht dein Vaterland im Frühling wieder, wo alles keimt und sproßt und blüht? Dringen nicht selbst aus den Gräbern Blumen herauf, und wogten nicht alle Fruchtgärten, an denen wir heute vorüberfuhren, wie ein Meer von Blüten, wenn der leise Frühlingswind durch die Wipfel wehte? Wahrlich, sie standen geschmückt wie Bräute, mit zartem, grünem Blätterkranz unter leichtem Blütenschleier verhüllt. Für den Herbst weissage ich euch reife Früchte; dann werdet ihr eine Ernte halten und ein Erntefest begehen, daß Freude und Jubel durch das ganze Land erschallen soll!«

»Du bist ein Prophet,« rief Jaromir feurig aus und schloß Bernhard mit einem brennenden Kuß auf seine Stirn heftig in die Arme; »wenn dein Wort in Erfüllung geht, so mag immerhin die fröhliche Lust über meinem Grabe erschallen, wenn ich nur weiß, daß ich in freier, glücklicher, polnischer Erde ruhe!«

Unter diesem Gespräch waren die Jünglinge den Hügel hinabgegangen und schritten jetzt auf einem anmutigen Pfade zwischen reichen Wiesen dahin, während Jaromir fortfuhr, auf geschichtlich merkwürdige Orte in der nächsten Umgebung aufmerksam zu machen und zugleich die Ereignisse zu berichten, durch welche der polnische Name sich dort verewigt hatte. Ludwig hörte diesem Gespräch nur zu, nahm aber den wärmsten Anteil daran, während er im stillen dieselben Wünsche für sein deutsches Vaterland hegte, welche Jaromir so laut und feurig für Polen ausgesprochen hatte. Nach einer guten halben Stunde erreichten sie die große Straße wieder, stiegen ein und fuhren nunmehr rasch auf die Tore der Hauptstadt zu.

Hinter Wielka Wola wurde die Landschaft durch Spaziergänger, Reiter und Wagen aus der Stadt lebendig. Jaromir sah mit seinen blitzenden schwarzen Augen scharf umher, ob er nicht Bekannte oder Freunde entdecken könne. Indessen schien ihm das Glück in dieser Hinsicht nicht wohl zu wollen. Etwas verdrießlich rief er aus: »Es ist wahr, in acht Jahren wird man fremd in seinem eigenen Vaterlande; es scheint, ich kenne hier niemand mehr und werde noch weniger gekannt!« Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als eine weibliche Stimme aus einem ihnen nach und dicht vorbeifahrenden Wagen die Worte rief: »Graf Jaromir! ist's möglich? Sind Sie es, oder täusche ich mich?« Jaromir hatte sich schon auf den Klang der Stimme lebhaft umgewendet und rief jetzt, fast vergessend, daß er sich auf öffentlicher Landstraße und in fremder Begleitung befand, feurig aus: »Gräfin Micielska! O Gott im Himmel, Sie erkennen mich noch?«

Die Kutscher hielten beide ohne weitern Befehl an, da sie sahen, daß ein Gespräch zwischen Jaromir und der Dame angeknüpft wurde. Die Gräfin war eine Frau von hohem, majestätischem Wuchs; sie mochte über dreißig Jahre alt sein; aber ihr schwarzes Auge glänzte noch jugendlich unter der blendend weißen hohen Stirn, die von reichem, dunkelm Haar umwallt wurde. In ihrer Jugend mußte sie hinreißend schön gewesen sein. Bernhard mit seinem geübten Malerauge hatte sie sogleich für die Schwester Rasinskis erkannt, noch bevor Jaromir sie als solche mit seinen Begleitern bekannt gemacht hatte. Er übergab ihr einen offenen Brief Rasinskis, welcher in wenigen Worten sein Verhältnis zu den Freunden angab und sie der Schwester zur gastlichen Aufnahme empfahl. »Wie erfreut bin ich,« sprach die Gräfin, als sie hastig gelesen, mit Wärme, »daß ich Sie hier gleich bei Ihrer Ankunft treffe! Es versteht sich, daß Sie bei mir wohnen; Ihre Zeit wird, fürchte ich, nur zu gemessen sein; Sie können mir es daher nicht verargen, wenn ich jeden Augenblick der Muße benutzen will, um Nachricht von meinem Bruder und Erzählungen von den Erlebnissen und Schicksalen so vieler teuern Landsleute zu vernehmen. Deshalb müssen Sie mir den Eigennutz verzeihen, mit dem ich Sie zu meinen Hausgenossen, oder, wenn Sie wollen, zu Gefangenen in meinem Hause mache.« Sie sprach diese verbindlichen Worte, durch welche sie ihrer Gastfreiheit eine so bescheidene Einkleidung gab, fast noch mit mehr Innigkeit als Freundlichkeit, so daß man fühlte, es sei ihr ein wahrhaft freudiges Ereignis, den jungen Landsmann wiederzusehen und ihn und seine Begleiter in ihrem Hause aufzunehmen. Jaromirs lebhaften Dank erwiderte sie mit der Bemerkung, sie wolle rasch vorausfahren, um Anstalt zum Empfange ihrer Gäste zu treffen, da man ja überdies von einem Wagen in den andern das Gespräch nicht frei führen könne. Ihr Kutscher trieb die raschen Schimmel an, sie verneigte sich freundlich grüßend und rollte vorüber.

»Ein herrliches Omen,« rief Bernhard aus, »das mir mehr gilt als die zwölf Geier, welche Romulus auf dem Aventinus sah, wiewohl schwerlich jemals ein Vogelflug größere Dinge geweissagt hat. In einer Stadt, wo eine so majestätische Juno uns willkommen heißt, muß uns der Olymp geöffnet werden.« Jaromir lächelte und wiegte sein schönes jugendliches Haupt.

Unsere Freunde erreichten das Tor, wo sie als Fremde einigen Aufenthalt erfuhren; so kamen sie erst mit einbrechender Nacht vor dem Palaste der Gräfin an. Es war ein großes Gebäude in edelm, doch etwas altertümlichem Stile; zwei Bediente sprangen, sobald der Wagen hielt, an den Schlag, ein dritter empfing die Aussteigenden und führte sie, den silbernen Armleuchter vortragend, in die zu ihrer Aufnahme bereits angewiesenen Zimmer. »Die Gräfin,« begann der Kammerdiener, »läßt die Herren ersuchen, sich zuvörderst ganz bequem einzurichten und dann, sobald es ihnen möglich und gefällig ist, herüber in den Gesellschaftssaal zu kommen, wo sie dieselben auf ein Glas Tee erwartet,« Die Reisenden waren schnell eingerichtet und umgekleidet, d.h. sie hatten die Uniform des neuzuerrichtenden Regiments angelegt. Es war schon zwischen ihnen verabredet, daß Ludwig und Bernhard ihre wahren Namen ablegen und fremde annehmen sollten. Der erstere hatte sich durch eine leichte Umstellung der Buchstaben seines wahren Namens Soren genannt; Bernhard gab sich, nach Erinnerung an ein schottisches Abenteuer am Loch Lomond, weil er das Seltsame liebte, für einen Grafen Lomond aus.

Sie gingen jetzt hinüber in den Gesellschaftssaal der Gräfin. In der Tür trat sie ihnen schon entgegen und hieß sie nochmals willkommen. Jetzt sah man erst, wie hoch und edel ihr Wuchs war, und wie sie auch in dieser Beziehung ganz ihrem Bruder glich. »Lassen Sie uns sitzen,« sprach sie zu allen gewandt; »zuerst muß ich, Sie verzeihen dies schon der weiblichen Neugier, ein wenig wissen, wen ich als Gast beherberge; denn mein Bruder hat mir nur geschrieben, daß Graf Jaromir von zwei Freunden begleitet sein werde. Nachher werde ich Sie ausforschen und ausfragen, selbst über die kleinsten Umstände; denn nichts ist mir gleichgültig, was meinen Bruder und diesen Krieg betrifft.« Sie hatte sich bei diesen Worten auf das Sofa gesetzt; die Herren nahmen ihr halb zur Seite und gegenüber auf Sesseln Platz.

»Nun sagen Sie mir, Jaromir,« begann die Gräfin, »wer sind Ihre lieben Begleiter und was bewegt sie als Fremde, die polnische Uniform anzulegen?«

»Wir geben wohl am besten selbst Auskunft über uns,« antwortete Bernhard. »In mir sehen Sie einen halbschottischen Grafen, jedoch in Deutschland geboren; aber ich glaube in der Tat, mein Grafentitel ist nicht mehr wert als meine Grafschaft, die ich gewiß nicht zu wohlfeil für das Spiegelbild eines Schattens verkaufte. Indessen wem ein berühmter Name etwas gilt, der darf mit dem eines Grafen Lomond wohl zufrieden sein. Ich meinesteils gestehe, daß ich auf meinen Stand stolzer bin als auf meinen Rang, und daher meinen Pinsel höher schätze als mein Wappen. Sie sehen hieraus, gnädigste Frau, daß Sie einen Maler vor sich haben, der, solange er lebt, die Pflicht gehabt hat, einen Grafen zu ernähren, wofür dieser, und das ist vielleicht sein einziges Gut, ihm herzlich dankbar ist.« – »So könnte also,« erwiderte die Gräfin lächelnd, »Ihr Pinsel Ihr Wappen auffrischen.« – »Vielleicht,« entgegnete Bernhard; »es wird aber zuverlässig die letzte Arbeit sein, die er unternimmt.«

Ohne eine Frage weiter abzuwarten, nannte sich Ludwig und gab als Ursache seines Kriegsstandes die Neigung für denselben überhaupt an, die sein Freund mit ihm teile; als Grund, weshalb er gerade die polnische Uniform trage, nannte er seine Bekanntschaft mit Rasinski.

»Wie dankbar bin ich Ihnen,« sprach die Gräfin, »daß die Freundschaft für meinen Bruder Sie zum Freunde der Sache unsers Vaterlandes gemacht hat. Ja, wir erwarten und hoffen viel von dem Kriege, der sich jetzt entspinnt; er wird für uns ein heiliger sein.«

»Es ist dies eine Ursache mit,« entgegnete Ludwig, »weshalb ich in einer polnischen Heeresabteilung zu dienen wünschte, obwohl ich ein Deutscher bin; denn die Sache Polens in diesem Kampfe ist eine unbestreitbar gerechte und schöne. Als Deutscher habe ich nicht den Beruf, für den Ruhm des französischen Kaisers zu fechten; in der Lage, wo mein Vaterland, welches fast ebenso unglücklich ist als Polen, sich befindet, kann ich den Kampf nicht für dasselbe führen. Den deutschen Heeren wird nur die halb ehrenvolle Aufgabe dabei zuteil, den Ruf deutscher Tapferkeit zu erhalten; ein größeres Ziel, für welches das Blut unserer Landsleute fließen könnte» gibt es dabei nicht.« – »Ich glaube sogar,« erwiderte die Gräfin, »daß die meisten lieber besiegt zu werden als zu siegen wünschen.« – »Gewiß,« entgegnete Ludwig; »indessen würde ich mich zu diesen nicht unbedingt zählen. Deutschland bedarf einer andern Freundschaft als derjenigen, welche Rußland uns bieten würde. Die rohe Gewalt dieses Kolosses mag meinem Vaterlande ebenfalls frommen, um es den fremden Einflüssen, unter denen es jetzo seufzt, zu entreißen; aber ich fürchte fast, dieser Dienst würde uns teuer zu stehen kommen, und vielleicht hätten wir am Ende nur den Herrn gewechselt. Soll ich mich aber einem von beiden unterwerfen, so wird es mir niemand verargen, daß ich lieber einer mächtigen Geisteskraft als einer rohen äußerlichen Gewalt gehorchen will.«

»Keine Frage,« rief Bernhard lebhaft dazwischen; »ein Mann von Ehre, der die Wahl hat zwischen dem Schwert und der Knute, wählt das erste. Wir können keine bessere Stätte finden, um uns vor Rußland warnen zu lassen, als Polens Hauptstadt, wo der Wind noch die Asche von den Feuerbränden aufstäuben kann, welche der barbarische Feind in diese Mauern schleuderte.«

»O,« rief die Gräfin schmerzlich bewegt aus, »wir können noch die Brandwunden aufzeigen, und der Ruf des Jammers, der damals erscholl, ist noch nicht verklungen. Ich war eine junge Zeugin jenes schaudervollen Ereignisses; aber diese Bilder des Schreckens haben sich für ewig in meine Seele geprägt. Leichter wollte ich meinen Namen vergessen als jenes Gefühl ohnmächtiger Verzweiflung, welches damals mein und jedes Herz zerriß!« Nach diesen Worten stand sie in lebhafter Bewegung auf und ging rasch einigemal im Saale auf und ab. Die Männer schwiegen; endlich begann Jaromir: »Es wird nun anders werden; die Buße, welche durch die Hand der rächenden Geschichte unserm Vaterlande auferlegt ist, geht zu Ende. Ich glaube, Gräfin, die Zeit ist nahe, wo wir aus unserer babylonischen Verbannung wieder an den Herd unserer Väter zurückkehren.«

Die Gräfin, welche noch immer auf und nieder ging, schien nur die ersten Worte Jaromirs gehört zu haben. »Es wird anders werden?« fragte sie, indem sie in edler Haltung vor Jaromir hintrat. »Es muß anders werden. Und wenn es noch tausend Jahre so fortdauerte, so würde es doch laut in meiner Brust rufen: es muß anders werden. Oder wähnt ihr, daß die Mutter, welche gebunden am Boden liegt, während Räuber ihren Säugling ermorden, an einen vergeltenden Gott nur glaubt? Sie sieht ihn; die ungeheuere Tat muß sein rächender Arm bestrafen. Er muß, oder das Gewölbe des Himmels ist taub und leer, und niemand waltet in dem öden Nichts.« Bei diesen letzten Worten hatte sie die Hand halb drohend, halb beteuernd erhoben; ihr Auge rollte, ein edler Unwille rötete ihre Wange. Nur an dem feuchten Glanze einer Träne, die noch in ihren Wimpern hing, bemerkte man eine Spur der weichern Stimmung, aus welcher sie in diese heftige Leidenschaft geraten war. – »So oft ich's mir vorgenommen,« sprach sie nach einer Pause, indem sie das Haupt schmerzlich mißbilligend bewegte und die gehobene Hand wieder herabsinken ließ, »meiner Gefühle Herrin zu werden – es überwältigt mich doch immer wieder! Ach, dieser Schmerz wird nicht alt und stumpf in unserer Brust! Mit jeder Sonne geht er neu auf, und mit keiner geht er unter.«

In diesem Augenblicke tönte durch die offenen Fenster des Saales, von der lauen Luft der Mainacht getragen, der Wohllaut einer Silberstimme, zwar aus einiger Entfernung, aber doch ganz vernehmlich herüber; Harfenklang mischte sich in die süße Melodie. Alle lauschten gespannt.

»Die liebliche Sirene, Françoise Alisette,« sprach die Gräfin lächelnd; »o diese Zauberin hat schon manches Mal die düstern Träume, welche sich mir so schwer um Brust und Haupt lagerten, verscheucht. Es ist eine junge Sängerin, eine Französin, welche zu dem Theater hier in Warschau gehört.« Man horchte aufmerksam dem lieblichen Gesange; als er verstummt war, zog die Gräfin eine Klingelschnur und sagte dem eintretenden Kammerdiener einige Worte. Dieser ging. »Ich erwarte den Besuch einiger Freundinnen für diesen Abend,« wandte sie sich zu den Gästen; »es wird Ihnen doch nicht unangenehm sein?« Sie wurde unterbrochen, indem die Tür eines anstoßenden Gemachs sich öffnete und eine junge Dame in leichter weißer Frühlingskleidung eintrat. Die Männer sprangen mit eiliger Höflichkeit von ihren Sitzen auf, die Gräfin aber ging der Ankommenden entgegen, nahm sie bei der Hand und stellte sie mit den Worten vor: »Meine Hausgenossin; den Namen verschweige ich, weil Graf Jaromir, zeigen soll, ob er ein treues Gedächtnis hat.« Jaromir betrachtete die schöne Gestalt mit dem Ausdruck verwirrten Befremdens, welches eine solche Aufgabe des Wiedererkennens stets hervorbringt, wenn man seiner Erinnerungen nicht ganz sicher ist. Die edeln Züge der Unbekannten wurden durch ein angenehmes Erröten verschönert. Sie gewährte in ihrer jungfräulichen Schüchternheit fast einen klösterlichen Anblick, welchen zum Teil auch ein faltiger, weißer Schleier, den sie trug, hervorbrachte; er war mit goldenen Nadeln in dem dunkeln Haar befestigt und wallte, leicht hinter die Locken zurückgeschlagen, an der Wange hernieder über die Schulter bis fast auf das Knie hinab. Auf der andern Seite verhüllte er eine frische Rose im Haar, so daß dieselbe nur mit mattern Farben durch das Gewebe schimmerte. Der zarte Wuchs, den die Sommerkleidung mehr wahrnehmen ließ, als verbarg, das Schüchterne, Ungewisse in der Haltung der Gestalt, das verschämte Lächeln, der scheue und doch zutrauliche Blick des Auges vollendete die zauberische Anmut, welche in der ganzen Erscheinung lag. »Wahrlich,« rief endlich Jaromir, »ich stehe ganz beschämt; wenn Sie Töchter hätten, Gräfin –«

»So würden Sie dennoch falsch raten«, unterbrach ihn diese.

»Ich war wohl zu sehr Kind,« begann die Eingetretene mit wohllautender Stimme, »als daß ich Ansprüche darauf machen sollte, selbst einem so nahen Verwandten im Gedächtnisse geblieben zu sein.«

Nach diesem Wink heftete Jaromir schärfer forschende Blicke auf das reizende Wesen; sie lächelte mit holder Anmut, als wolle sie sagen: »Nun, erkennst du mich noch nicht?« Da rief er plötzlich aus: »Lodoiska, wärst du es?« – »Endlich gefunden«, sprach die Gräfin; doch Jaromir hatte Lodoiskas Hand ergriffen, küßte sie feurig; zog dann das schöne errötende Mädchen sanft an sich, umarmte sie und drückte ihr den nach polnischer Sitte gestatteten Kuß auf die Stirn. Sie erwiderte diese Vertraulichkeiten zwar ein wenig befangen, doch mit Herzlichkeit.

»Die seit lange gestorbenen Väter dieser beiden waren Brüder«, begann die Gräfin erklärend zu Ludwig und Bernhard. »Die sterbende Mutter hat mir dieses holde Vermächtnis hinterlassen. Sie war meine innigste Freundin«, setzte sie nach einigen Augenblicken mit Wehmut hinzu, während sie die Blicke wohlwollend auf Lodoiska geheftet hielt. »Meine Pflegetochter und ihr Vetter Jaromir sind zusammen erzogen und haben sich ihre ganze Jugend hindurch als Geschwister betrachtet.«

In der Tat hatte sich die Vertraulichkeit zwischen beiden sehr rasch hergestellt; Jaromir setzte sich zu Lodoiska, ließ ihre Hand nicht mehr los und tat ihr tausend Fragen, welche sie teils erwiderte, teils mit dem innigsten Anteil beantwortete. Indessen verstanden Bernhard und Ludwig von den Einzelheiten des Gesprächs nichts, weil jene beide sich ihren Jugenderinnerungen wie natürlich in ihrer Muttersprache überließen. Es dauerte nicht lange, so hörte man das Rollen eines Wagens, und bald darauf traten zwei ältere Damen ein, welche die Gräfin als Freundinnen vorstellte. Die Unterhaltung wurde nun allgemein: man führte sie fast ausschließlich französisch; doch wandte sich die Gräfin, die geläufig deutsch sprach, auch oft in dieser Sprache zu Ludwig und Bernhard, weil sie dieselbe liebte, und die edle Weise, in der besonders Ludwig sich darin auszudrücken wußte, ihr ungemein wohlgefiel.


 << zurück weiter >>