Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Sechstes Kapitel.

An Biankas Seite hatte ihn der täuschende Traumgott geführt, und er wähnte, sich mit ihr in lieblichen Auen zu ergehen, als die Stimme seines Wirtes ihn erweckte. »Es wird Zeit, lieber Herr; eben ist der Mond über die Simplonhörner heraufgekommen und leuchtet ins Tal. Wenn ihr Eile habt, so wollen wir jetzo den Weg antreten.«

Ludwig hörte die Worte des Alten noch halb in seine Träume hinein. Er konnte sich nicht besinnen, wo er war, denn aus den blühenden Fluren Italiens, aus dem heitersten Sonnenglanz, der sein schlummerndes Auge umgeben hatte, sah er sich jetzt, da er es aufschlug, in einen düstern engen Raum versetzt, wo das Mondlicht seltsam mit dem Schimmer des dunkel glimmenden Holzbrandes kämpfte. Erst als ihm der Greis die Hand reichte, um ihn emporzurichten, und ihm jetzt die volle Mondscheibe durch das kleine Fenster der Hütte gerade entgegenglänzte, gewann er seine völlige Besinnung wieder und antwortete auf die freundliche Ermunterung: »Gleich, guter Vater, ich war noch halb im Traume; gleich.« Mit diesen Worten sprang er auf und war in wenigen Augenblicken zur Reise gerüstet.

»Wollt ihr nicht ein wenig frühstücken, lieber Herr?« fragte der Alte, »ich habe etwas Milch gewärmt. Der Morgen ist kühl, es könnte euch leicht übel zumute werden, wenn ihr nüchtern ins Freie wolltet. Ein warmes Getränk ist immer wohltätig, wenn es auch noch so gering sein mag.« Ludwig fand sich durch die treuherzige Fürsorge des Alten fast gerührt; er nahm gern von dem dargebotenen Frühstück an, gönnte sich jedoch nur wenige Augenblicke dazu, indem die gestrige Unruhe sich schon wieder seiner ganzen Seele bemeistert hatte.

Der Alte schloß die Hütte nicht ab, als sie hinausgingen. »Hier nimmt uns niemand etwas,« sprach er, »wir schieben nur nachts, wenn wir daheim sind, den Riegel vor, damit nicht etwa ein wildes Tier eindringe, denn es gibt gar böse Wölfe hier in den Bergen.«

Der Mond leuchtete ihrem Pfade hell genug; bald fing auch der Tag schon an zu grauen. Ludwig mußte gestehen, daß der Weg abwärts allerdings sehr gefährlich war, denn selbst jetzt, wo man doch wenigstens sehen konnte, wohin man den Fuß setzte, war Vorsicht nötig. Doch schien ihm sein Führer zu behutsam, zu bedenklich; zumal aber an ebenen Stellen des Weges machte ihn der altersmüde, langsame Schritt desselben ungeduldig; indessen sah er wohl ein, daß er sich ihm schon bequemen müsse.

Nachdem man fast zwei Stunden gewandert war, sprach der Greis: »Seht ihr, mein Herr? Das ist dort der Steg, über die Rhone.« Ludwig sah in einiger Entfernung zwei starke, sehr lange Baumstämme ohne Geländer quer über den Strom gelegt. Er erkannte jetzt die Stelle an einigen seltsam gebildeten Felsblöcken, die ihm gestern aufgefallen waren, wieder, hatte aber in der Dunkelheit den Steg nicht bemerkt, sondern ihn nur für eine halbe aus der Wurzel gelöste Fichte, die stark nach dem Wasser überhänge, gehalten, wie sich deren mehrere auf dem Wege fanden. Daß der Pfad sich hier scheide, war gar nicht zu bemerken gewesen, denn beim Näherkommen sah Ludwig, daß man, um nach dem Stege zu gelangen, rechtwinklig ausbiegen und alsdann einige steile Felsstufen abwärts steigen mußte, die in der Dunkelheit gar nicht als ein sich abzweigender Weg zu erkennen waren.

Ludwig wollte seinen Begleiter eben fragen, ob er sich auch mit Gewißheit zu behaupten getraue, daß der Weg jenseit der Rhone der einzige sei, den die Reisenden, die er aufsuche, einschlagen konnten, als ein Gegenstand, auf den sein Auge fiel, ihn mit einem freudigen Erstaunen erfüllte. Er gewahrte nämlich an einem Baumzweige, gerade an der Ecke, wo die Felsstufen abwärts zur Rhone führten, ein rosafarbenes Band, das im Morgenwinde hin und her flatterte. Eine selige Ahnung durchbebte seine Brust; er eilte auf das Gebüsch zu und erkannte mit Entzücken, daß eine Schleife von Biankas Gewand darangeknüpft war.

»O daß die Nacht mir gestern dieses holde Zeichen verbarg!« rief er aus, und eine Träne drang ihm ins Auge. »Ja, sie trennte sich ungern von mir, sie wollte meine Schritte leiten, damit ich sie nicht verfehlen sollte.« Er knüpfte das Band von dem Baume los und legte es in seine Brieftasche. Freudigen Mutes schritt er nunmehr weiter. Doch jenseit des Steges, der über die schäumenden Wellen der Rhone leitete, fragte ihn der Greis: »Wohin soll ich euch aber jetzo führen, lieber Herr?«

»Je nun, das Tal entlang; ich meine, es gebe nur einen einzigen Weg«, antwortete Ludwig.

»Das wohl!« entgegnete der Greis, »allein ihr sagtet mir gestern, euer Freund hätte über das Gebirge tiefer in die Schweiz hineingewollt. Da haben wir nun freilich eine große Wahl, denn es führen hier viele Steige über die Alpenkette ins Berner Oberland hinein. Es ist die Frage, welchen ihr wählen wollt.«

Ludwig stand unentschlossen still. Plötzlich dachte er, sie wird mich nicht ohne ein ferneres Leitungszeichen lassen. »Nur vorwärts,« sprach er, »macht mich nur aufmerksam, sobald ein Pfad sich abzweigt, ich werde mich dann schon entschließen.«

Sie gingen. Bald befanden sie sich auf einer Straße, die sich für Gebirgswagen und Maultiere sehr wohl benutzen ließ. Ludwig war es hauptsächlich um schnelles Vorwärtskommen zu tun, der Greis aber vermochte nur im langsamen gewohnten Schritt zu gehen. Nach einiger Zeit, da man schon mehreren jungen Landleuten begegnet war, die rüstigere Führer hätten abgeben können, fing daher der Alte selbst an: »Lieber Herr, ich sehe wohl, ihr möchtet gern rascher fort, als ich vermag. Wollt ihr euch nicht lieber einen jüngern Führer nehmen? Wir werden hier gleich an einen Meierhof kommen, wo ich bekannt bin und euch leicht einen Boten verschaffen kann, der von hier bis Bern oder Zürich genau Bescheid weiß.«

Ludwig, der nur aus Gutmütigkeit gegen seinen redlichen Begleiter den Vorschlag noch nicht selbst gemacht hatte, nahm das Anerbieten freudig an und sprach: »Es soll drum euer Schade nicht sein, guter Vater; aber die Eile ist mir so wichtig, daß ich im Notfall allein weitergegangen wäre, um nur schneller fortzukommen, denn ich muß meine Freunde durchaus noch heute einholen.«

»Da kommt der Joseph wahrhaftig selbst«, unterbrach der Greis ihn durch eine frohe Ausrufung und deutete auf einen jungen Mann, der, einen Korb auf der Schulter tragend, eben des Weges daherkam. »Ei, Seppi,« rief er ihn von weitem an, »willst du den Herrn geleiten? Er will übers Gebirg.«

»Gar gern,« erwiderte mit kräftiger Stimme der junge Bursch; »wenn ich nur meine Last hier los wäre; aber ich muß damit nach Brieg hinein!«

»Ei was,« rief der Alte, »her damit, ich trage sie in die Stadt, und du führst den Herrn weiter.«

Joseph lud dem Alten den Korb auf, den dieser auf gewohnten Schultern ohne Mühe trug. Ludwig nahm herzlichen Abschied von dem biedern Greise und beschenkte ihn so reichlich, daß derselbe in die freudigsten Danksagungen ausbrach, die er gewiß nicht sobald geendet haben würde, wenn Ludwig nicht in seiner Eile dieselben durch die Fortsetzung seines Weges unterbrochen hätte. Sein erstes war jetzt, den neuen Begleiter auszufragen, ob er nicht Spuren von denen bemerkt habe, die er aufsuche. Joseph verneinte es.

Ludwig hatte jetzt die Aufgabe, seinen Begleiter darüber auszuforschen, welchen Weg wohl Reisende, die ihre Straße eilig fortzusetzen und wenig bemerkt zu sein wünschten, genommen haben könnten, um am leichtesten über das Gebirge und die befahrene Landstraße, die nach Deutschland führte, zu gelangen. Es war schwer, ohne den Zusammenhang der Verhältnisse zu verraten; endlich ersann er sich, um jeden Verdacht von Bianka und den sie Begleitenden fernzuhalten, folgende Fabel. Er äußerte vertraulich zu Joseph: »Ich will dir nur geradeheraus gestehen, guter Freund, daß eine heftige Neigung zu einer jungen Dame, wahrscheinlich einer Engländerin, mit der ich von Italien aus zu gleicher Zeit über den Simplon reiste, mich zu solcher Eile antreibt. Ich erfuhr zu Brieg, daß sie trotz der frühen Jahreszeit den Entschluß gefaßt habe, mitten durch das Gebirge zu reisen und dessen wilde Schönheiten kennen zu lernen. Da jedoch ihre Reise anderweitig große Eile erfordert, so wollte sie denjenigen Weg einschlagen, wo sie ihren Zweck mit möglichster Zeitersparnis ausführen und nachher Deutschland auf dem nächsten Wege erreichen könnte. Ich wagte es nicht, mich ihr als Begleiter anzutragen, da sie nur eine ältere Dienerin und einen Diener bei sich hatte, übrigens aber von keinem Verwandten begleitet wurde, sondern, wie die Engländerinnen einmal sind, abenteuerlich als ihre eigene Führerin und Gebieterin umherstreift. Indessen war mein Wunsch, ihr Gefährte auf der Reise zu sein, so groß, daß ich fest beschlossen hatte, ihr unbemerkt zu folgen und mich dann im Gebirge, wenn die Wege sich nicht mehr so leicht scheiden, wie zufällig zu ihr zu gesellen. Ob sie meine Absicht erraten hatte und sie vereiteln wollte, oder ob es sonst in ihrer abenteuerlichen Weise lag, weiß ich nicht, aber sie verließ Brieg gestern nachmittag, während ich einen kleinen Spaziergang machte, obwohl sie gegen mich geäußert hatte, sie werde erst am andern Morgen aufbrechen. Ich weiß nun weiter nichts, als daß sie diesen Weg an der Rhone eingeschlagen hat; davon aber habe ich zuverlässige Spuren. Nun rate mir, Freund, was soll ich beginnen, um sie aufzufinden? Wenn es mir gelänge, würde ich dich reichlich für deinen Dienst beschenken.«

»Ei, mein lieber Herr, das ist freilich eine schwere Sache, jemand aufzusuchen, von dem man nicht weiß, welchen Weg er genommen hat. Denn wir können hier gar mancherlei Pfade einschlagen. Wenn wir bei Naters, das dort unten vor uns liegt, über die Berge gehen, so könnten wir an der Jungfrau vorbei ins Oberland kommen. Das wäre der nächste Weg nach Bern, aber er ist jetzo gar gefahrvoll und beschwerlich, und ich glaube nicht, daß irgendein Gemsjäger ihn leicht wagen würde. Drei Stunden weiter aufwärts, von Wesch aus, führt ein ähnlicher Pfad über den Kamm. Da würden wir die Jungfrau zur Linken lassen und könnten, wenn Gott uns behütet, nach Grindelwald gelangen. Aber es ist auch ein Weg, den man wohl im hohen Sommer macht, zur halben Winterszeit, wie jetzo, aber nicht. Diese Straßen also, glaube ich, wird die Dame nicht eingeschlagen haben, denn dazu findet sie schwerlich einen Führer. Nun gibt's noch einen Weg, die Maienwand herauf nach der Grimsel, oder wenn wir ganz im Rhonetal bleiben wollten, so müßten wir über die Furka nach Realp, Hospital, und dann die Gotthardstraße hinunter. Das sind die vier Hauptwege, wer aber klettern will und umherstreichen und einen Umweg nicht scheut, der kann noch gar manchen andern einschlagen. Auf diesen Schleifwegen wissen wir Landleute aber nicht Bescheid, sondern dazu gehört ein guter Gebirgsjäger, der sich Tag und Nacht in den Bergen umhertreibt. Jetzo im Frühjahr aber, lieber Herr, wo der Schnee noch gar hoch liegt, und überdies viele Lawinen stürzen, jetzo ist's wahrlich nicht zu wagen. Ich glaube daher immer, die Engländerin wird entweder über die Grimsel oder die Furka ihren Weg genommen haben, und falls sie Eile hat, ist der letzte noch der beste, denn er führt sie zunächst auf die große Straße nach Altorf und sodann über Brunnen und Zug nach Zürich. Einen nähern Weg, um nach Deutschland zu kommen, gibt es kaum. Die andern nehmen zwar eine gerade Richtung, aber sie sind drum doch nicht die nächsten, weil sie so gar mühselig und gefahrvoll sind. Und wenn uns vollends ein böses Wetter überraschte, so dürften wir leicht acht Tage im Gebirge liegen, ehe wir einen Fuß weitersetzen könnten.«

Ludwig hörte diesen nicht sehr tröstlichen Bericht im Gehen an. Er beschloß bis zur Maienwand im Tale aufwärts zu wandern, sich aber auf jeden Seitenpfad aufmerksam machen zu lassen, um zu sehen, ob ihm Bianka nicht irgendein neues Zeichen gegeben haben möchte.

In kurzer Zeit erreichte man das Örtchen Naters, wo Bianka wahrscheinlich übernachtet haben mußte. Ludwig zog genaue Erkundigungen ein, doch niemand wußte ihm Bescheid zu geben. Als sie vor den Ort hinaus an die Stelle kamen, wo der Pfad ins Gebirge links abführte, blickte er vergeblich nach einem flatternden Bande umher – es war keine Spur der Geliebten zu entdecken. So romantisch das Tal war, in dem er wanderte, er erblickte die Schönheiten desselben nicht. Seine ganze Seele war mit Bianka beschäftigt, die er, so schien es jetzt fast, ebenso schnell und unvermutet wieder verlieren sollte, wie er sie gefunden hatte. Jeden Wanderer, der ihm begegnete, befragte er, in vielen einzelnen Häusern, die am Wege lagen, erkundigte er sich – vergeblich. Noch bei guter Vormittagszeit gelangte er über Morill nach Wesch; aber umsonst forschte er überall nach einer Spur von denen, die er suchte, umsonst hoffte er ein Zeichen von Bianka aufzufinden. Er gönnte sich kaum so viel Rast, als ihm und seinem Führer zur Erquickung notwendig war. Mit steigender Angst und Trauer setzte er den Weg fort; der letzte bewohnte Ort, den er traf, war Urlichen. Es war nachmittags um drei Uhr, als er dort anlangte. Zwölf volle Stunden dauerte jetzt seine Wanderung, und der Weg war oft sehr beschwerlich. Unbegreiflich schien es ihm, daß er auch nicht eine Spur der Geliebten fand. Weiter konnte sie, selbst bei großer Eile, kaum gelangt sein; ja, wenn sie auch die ganze Nacht hindurch ihre Flucht fortgesetzt hätte, so mußte sie doch den letzten Teil der Straße bei hellem Tage zurückgelegt haben und konnte, da bei so früher Jahreszeit reisende Damen eine auffallende Erscheinung sein mußten, gar nicht unbemerkt geblieben sein. Fast fing Ludwig daher an zu fürchten, daß sie, um der Spur des Verfolgers so schnell als möglich zu entgehen, es gewagt haben möge, einen der gefährlichen Pfade über das Gebirge einzuschlagen. Und nun hatte er nicht nur den Schmerz der Trennung von ihr zu ertragen, sondern auch für ihr Leben mußte er fürchten. Seine einzige, letzte Hoffnung war noch die, daß er an der Maienwand, wo der steile Pfad nach dem Hospizium auf die Grimsel emporsteigt, ein Zeichen vorfinden werde, das ihn einlade, diesen Weg zu verfolgen, oder den auf den Gotthard fortzusetzen. Seine erschöpften Kräfte erlaubten ihm jedoch nicht, weiter zu Fuß zu wandern; er beauftragte daher Joseph, zwei Maultiere zu mieten, da dieser ihm schon früher gesagt hatte, daß dergleichen in diesem Orte zu haben sein würden, wo die Reisenden sich derselben häufig bedienen, um sich das Ersteigen der schroffen Maienwand zu ersparen. Nach Verlauf einer halben Stunde, während welcher Ludwig rasch das Mittagsmahl einnahm, erschien Joseph mit zwei wohlgesattelten Maultieren und einem Führer für dieselben; denn Ludwig wollte, um sich nicht abermals einem andern verraten zu müssen, seinen muntern Begleiter nicht entlassen. Sie setzten sich auf und traten ihre Reise an. Bald erreichten sie die Maienwand. Ludwig spähte nach einem rosafarbenen Bande wie nach dem köstlichsten Kleinod. Jeden Strauch, jedes Bäumchen betrachtete er mit ängstlicher Aufmerksamkeit; doch kein rosiger Schimmer wollte sich zwischen den fast überall noch geschlossenen Knospen des Grüns zeigen!

Nun blieb ihm keine Wahl mehr. Die Teuere hatte ihm auch hier keinen Wink gegeben, die Straße zu verlassen; war sie daher noch vor ihm, so mußte sie den Weg über den Gotthard gewählt haben. Von jetzt an begann die einsame Wildnis; nur wenige, jetzt verlassene Sennhütten entdeckte man in dem noch fast ganz mit Schnee bedeckten Tale. Zur Linken der Wanderer türmte sich der Eispalast des Rhonegletschers, im Sonnenstrahl tausendfarbig funkelnd, empor; zur Rechten stiegen ungeheuere Felswände auf, und vor ihnen ragten die beiden Schneepyramiden der Furka, mächtig aufsteigend, hoch in den reinen blauen Äther hinein. Das Tal war dem prachtvollen Eingangstor in das ewig starre, funkelnde Reich des Winters zu vergleichen, auf dessen diamantenem Boden kein grüner Halm sprießt, und der warme Sonnenstrahl in seine sieben kalten Farben zersplittert.

Ludwig entdeckte noch ein grünes Reis, das an einer sonnigen Stelle des Felsabhanges zwischen den Steinspalten wuchs und schon die zarten Blätter dem Licht entgegengebreitet hatte. Er pflückte es, um noch ein Erinnerungszeichen von den letzten Grenzen des Frühlings mit hineinzunehmen in die winterliche Wüste. Das kaum entfaltete Grün war das Bild seiner bangen Hoffnung, deren Knospe sich vor den steten, rauhen Berührungen des Fehlschlagens auch schon fast wieder geschlossen hatte. Wer weiß, dachte er, fallen die Blüten meiner Hoffnung nicht noch früher völlig ab, als diese kaum geöffneten Knospen welk an dem nahrungslosen Reis herabhangen. Er steckte den Zweig an seinen Hut, und, schweigend dem Führer folgend, ritt er vorwärts. Als sie den hohen Schneepaß, über den der Weg durch aufgesteckte Signalstangen bezeichnet war, erreicht hatten und sich nun mitten in der winterlichen Kälte am Fuße der beiden starren, Felskegel befanden, zwischen denen die berühmte Straße hindurchführt, da wandte sich Ludwig noch einmal zurück. Die Sonne neigte sich schon tief gegen die Berge und schoß ihre Strahlen nur noch eben über die blauen nebeligen Höhen hinweg. Soweit sein Auge reichte, sah er nur Schneefelder und Granitmassen. Sein Schmerz überfiel ihn mit gewaltsamer Heftigkeit auf diesem Kirchhof der Natur. O gütiger Gott, flehte sein Herz, laß sie mich wiederfinden, sie, die einzige, die den reinen Hoffnungsstrahl des Glücks in meine trauernde, tief verwundete Brust geworfen hat. Du hast sie mir gesendet, ungeahnt, ungehofft, gleich einer himmlischen Erscheinung aus deinem seligen Reiche; o laß sie nicht wie ein Traumbild spurlos wieder verschwinden, nimm sie mir nicht, wie du sie mir gegeben!

Der rauhe Sturm, der sich wild auf der nackten Höhe erhob und den Schnee in Wirbeln hoch aufjagte, war die einzige Antwort, welche er auf die stumme Klage seiner Brust erhielt; denn hier drückt die Natur niemand an die warme, liebevolle Brust; nur gegen kalte Leichensteine lehnt sich der ermüdete Wanderer. Eben verschwand auch die Sonne hinter einem Felsgipfel, und ein langer, kalt anhauchender Schatten fiel über das Schneefeld.

»Weiter,« sprach Ludwig zu dem Führer und wandte das Maultier um, »weiter!« – »Wir haben auch Eile nötig,« antwortete dieser, »wenn wir An der Matt vor Nacht erreichen wollen. Es könnte leicht sein, daß wir, wenn der Sturm anhält, beim Kapuziner in Realp übernachten müßten.«

Sie setzten den Weg fort; Ludwig in stummes Brüten versunken, die Führer, indem sie ein Gespräch in ihrem schweizerischen Dialekt führten, von dem ein Fremder wenig zu verstehen vermögend war, selbst wenn er darauf gehört hätte.

Der Sturm legte sich, als man die Höhe erst im Rücken hatte. Man war bei guter Zeit in Realp, wo man einige Augenblicke bei dem Kapuziner, der dort, in kleiner Hütte wohnend, die Fremden gastlich mit Brot, Honig, Milch, Käse und Wein bewirtet, anhielt. Die Spende wird unentgeltlich gereicht; was der Reisende dafür zahlen will, ist sein freies Geschenk, und der würdige Vater, der in dieser steten Einsamkeit seine Tage zubringt, empfängt es im Namen des Klosters in einer Armenbüchse. Auf Ludwigs Nachforschung nach Bianka erhielt er den Bescheid, daß am 17. Oktober der letzte Reisende diese Straße gezogen sei, und zur Bestätigung legte der Mönch ihm das Buch der Fremden des vorigen Jahres vor. Damit war seine letzte Hoffnung verschwunden; er seufzte tief, bekämpfte mühsam seine Tränen und stand auf, um zu gehen. »Der himmlische Vater gebe euch Trost und Segen«, sprach der Mönch. »Ihr scheint nicht froh!« Dabei reichte er ihm die Hand wohlwollend dar. Ludwig drückte sie stumm und verließ die kleine Zelle hastig.

Als er wieder ins Freie trat und der rauhe Wind den Schnee ringsum aufwirbelte, kam es ihm einen Augenblick vor, als würde er beruhigenden Frieden in der tiefen Einsamkeit dieses traulichen Wohnorts finden, wo er Zeit hätte, nur seinen Träumen nachzuhängen, nur in der Welt des Gedankens und des Gefühls zu leben, unbekümmert um das Schicksal der Erdenbewohner, die draußen in stetem Sturme der Ereignisse unstet auf- und niederschwanken. Doch wie, dachte er, könntest du denn hier dem Sturme entfliehen, der sich in deiner eigenen Brust erhebt? Wohnen nicht in der Seele auch des Einsamsten alle die gefährlichen Keime, die plötzlich zu Giftpflanzen aufschießen, wenn der Feind sie tückisch heraustreibt? Und wer ist der Feind des Menschen, als er selbst? – Nein, auch das wäre eine Täuschung!

Gedankenvoll ritt er vor sich hin. Man befand sich jetzt in dem einsamen Urserental auf der Höhe des Gotthard, das im Sommer einem grünen Wiesenstrome zwischen hügeligen Schneeufern gleicht, jetzt aber ganz in das Leichentuch des Winters gehüllt war. Allgemach fing es an zu dunkeln. Wiederum erhob sich ein rauher Sturmwind und kräuselte die Schneeflocken hoch auf. Es wurde kalt. Jetzt begann Ludwig endlich seine große Erschöpfung zu empfinden, und der Körper machte das Bedürfnis nach Ruhe geltend. Mit einer Art von Verdruß über sich selbst empfand er, daß das Erreichen einer Herberge, daß ein behagliches Nachtlager unbemerkt zu einem dringenden Wunsche in ihm geworden war, der neben der tiefen Sehnsucht seines Gemüts Raum fand. Die Anstrengungen der letzten Tage waren aber auch fast unglaublich gewesen, und schwerlich möchte sonst jemals ein Reisender die Wegstrecke in einem Tage zurückgelegt haben, welche sich zwischen Ludwigs letztem Nachtlager und An der Matt, dem Ziele seiner heutigen Wanderung, ausdehnte.

Durch den kalten Nebel, der sich auf das Tal herabsenkte, und durch die dichten Schleier, mit denen die Nacht es umgab, schimmerte von Zeit zu Zeit, wie der Sturm das Gewölk zerriß, ein Lichtschimmer von erleuchteten Fenstern hindurch, die dem Wandernden als Leitstern dienten. Endlich erreichte er Häuser, und nach wenigen Minuten hielt er vor einem ansehnlichen Gebäude, dessen unteres Geschoß von hellen Lichtern glänzte.


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