Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Viertes Kapitel.

Während Ludwig und seine Mitgefangenen durch den Wald geführt wurden, spähte dieser mit sorgenvollen Blicken umher, ob er Bernhard nicht entdecke. Er wußte kaum, ob er hoffen oder fürchten sollte, ihn zu sehen. Es wäre ein unbeschreiblicher Trost für ihn gewesen, jedes Leid mit dem Freunde gemeinschaftlich zu tragen; doch wehrte seine edle Seele sich gegen die leisesten Keime dieser geistigen Selbstliebe. Er hegte die geheime, wenngleich schwache Hoffnung, daß Bernhard glücklicher in seinem Unternehmen gewesen sein und bald Rasinski und die Freunde erreicht haben werde.

Nach einer Wanderung von einer Stunde erreichte man einen freien Platz, der jedoch rings vom Walde umschlossen war. Hier loderten hohe Wachtfeuer, an denen Scharen von bewaffneten Landleuten lagen. Mit Erstaunen sah Ludwig auch viele Frauen, die der allgemeine Haß gegen den Feind von ihrer friedlichen Wirksamkeit abgelenkt und mitten in das kriegerische Treiben der Männer hineingeführt hatte. Einige bereiteten Speisen, andere putzten Gewehre; eine ältere sah er einen Verwundeten verbinden. Anfangs schien man die Ankommenden nicht besonders zu beachten. Doch als man der Gefangenen, die sie mitbrachten, ansichtig wurde, strömten alle neugierig herbei, diese Unglücklichen zu sehen. Die Hoffnungslosigkeit in den Zügen derselben stach schreckenvoll gegen den Ausdruck des Hohnes und der wilden Freude der Sieger ab. Ludwig bedurfte seiner ganzen Kraft, um sich die männliche Fassung zu bewahren. Der Umstand, daß er nicht wie die übrigen der Kleider beraubt war, sondern noch in einen warmen Mantel gehüllt, wenigstens nicht vor Frost zittern durfte, kam ihm dabei sehr zustatten. Doch erweckte er dadurch auch die Habgier der sich rings andrängenden Feinde, deren Gesinnungen er aus ihren Gebärden und dem laut und lauter werdenden Murmeln erriet. Endlich trat ein bärtiger Koloß, der wohl glauben mochte, sich vor den andern etwas erlauben zu dürfen, auf ihn zu und wollte ihm die Mütze vom Kopfe nehmen. Ludwig trat unwillkürlich einen Schritt zurück und wehrte dem Russen mit der Hand. Da erhob dieser im Zorn seinen einer Keule ähnlichen Knittel zu einem furchtbaren Schlage auf. Unfehlbar hätte er Ludwigs Haupt zerschmettert; doch plötzlich ertönte der laute Schrei einer weiblichen Stimme, und in demselben Augenblicke brach eine edle Gestalt, in kostbare Pelze gehüllt, doch mit verschleiertem Angesicht, durch die Reihen der Umstehenden und warf sich dem gehobenen Arme des Russen entgegen.

Zornig wandte sich dieser um; doch als er sah, wer seine Tat hinderte, verwandelte sich sein Grimm in die tiefste Unterwürfigkeit, und er trat mit knechtisch ehrfurchtsvollen Verbeugungen zurück. Ludwig war von dem Wunder dieser neuen Rettung, die sich in der Schnelle des Augenblicks vollendete, wie betäubt; er heftete seine Blicke auf die Retterin, vermochte aber kein Wort des Dankes hervorzubringen. Sie stand selbst vor Schrecken ganz außer Fassung, aus tiefster Brust mühsam atmend, kaum vermögend, sich auf den Füßen zu erhalten, vor ihm und hielt die Hände wie zum Dankgebet gefalten. Endlich schlug sie den Schleier zurück, indem sie mit unnachahmlichem, rührend zitterndem Tone der Stimme sprach: »Erkennen Sie mich?« Als trete eine himmlische Erscheinung, ein rettender Engel des Allmächtigen plötzlich strahlend vor ihn hin, so sank Ludwig, seiner selbst nicht mehr mächtig, auf die Knie vor der Entschleierten nieder. Es war Bianka!

Bebend ergriff er ihre Hand mit seinen beiden; er neigte sein Haupt darüber, seine Tränen strömten – er wähnte in diesem Übermaß der Wonne sein Dasein zu enden. »So konnte ich doch vergelten!« sprach sie und hob das blaue, in Tränen schwimmende Auge gen Himmel. »O, allmächtiger Vater, deine Hand leitete meine Schritte! Wenn ich zu spät gekommen wäre!« Die Umstehenden betrachteten die Gruppe mit lautlosem Erstaunen. »Was bedeutet das?« fragte plötzlich eine rauhe männliche Stimme. Ludwig erwachte aus seiner seligen Betäubung und sprang auf.

Ein Reiter war in den Kreis gesprengt; das edle Roß, seine reiche Kleidung gaben einen Führer zu erkennen. Es war Graf Dolgorow. »O mein Vater!« rief Bianka mit leidenschaftlichem Tone, »sehen Sie hier unsern Retter!« – »Wie? Wo?« fragte der Graf und warf forschende Blicke auf Ludwig. Doch plötzlich unterbrach er sein Erstaunen durch den Ausruf: »Du hier? Elender Bube!« Und mit einem Sprunge war er vom Pferde herab und drang in die Reihen der Gefangenen ein, um Beaucaire, dem vor Frost und Entsetzen die Knie schlotterten, aus ihrer Mitte herauszuziehen. Dolgorow, dem die Rache schneller entflammte als die Dankbarkeit, vergaß diese, um jener zu genügen. In England und Italien, wo er sich in wichtigen, aber gefährlichen diplomatischen Aufträgen befand, war Beaucaire sein Sekretär und geheimer Agent gewesen. Als der Krieg des Jahres 1812 ausbrach und Napoleon die englischen und russischen Agenten in allen Ländern auf das eifrigste aufspüren ließ, war auch Dolgorows Verkehren entdeckt worden. Er mußte aus Rom eifrigst und in einer Verkappung flüchten. Beaucaire erhielt einen Paß als deutscher Graf Wallersheim. Feodorowna galt unter dem Namen Bianka für seine Schwester. Dolgorow selbst wurde für einen alten Diener, seine Gemahlin für die Erzieherin der jungen Gräfin ausgegeben. So traten sie die Reise an. In Mailand glaubte Beaucaire, der eine rohe Leidenschaft für des Grafen Tochter gefaßt hatte, von den dringenden Umständen alles ertrotzen zu können. Er wagte Anträge, die Feodorowna mit Empörung zurückwies und die die Wut ihres Vaters entflammten, obgleich die äußerste Gefahr in seinem Zorne lag. Er mißhandelte den Buben und stieß ihn mit Schimpf von sich; dieser eilte, ihn zu verraten. Doch schon hatte der Graf es möglich gemacht, aufs eiligste zu fliehen, und änderte seine Reiseroute, indem er, statt über Verona nach Innsbruck und München, die Straße über den Simplon einschlug. Dort traf ihn Ludwig. Retter und Verräter waren nunmehr zugleich in seine Hand gefallen, und dieser sollte jetzo seinen Lohn empfangen.

»Heiliger Gott! Welche Schickung!« rief Feodorowna aus, als ihr Auge auf den Elenden fiel, den Dolgorow trotz seines Sträubens aus der zitternden Menge herumriß. Beaucaire wurde jetzt auch ihrer ansichtig, und mit verzweifelter Anstrengung riß er sich los und stürzte zu ihren Füßen nieder. Krampfhaft umklammerte er ihre Knie und rief: »Erbarmen, Gräfin! Bittet um Gnade für mich! Nur meine rasende Liebe zu euch war mein Verderben!« Bianka zitterte und erhob angstvoll flehende Blicke zu ihrem Vater. Doch dieser rief mit ehernem Grimme: »Ergreift ihn und werft ihn dort in die Flammen, damit jeder Russe sehe, wie ein Verräter gestraft wird.«

Bianka wurde zu einem Marmorbilde. Beaucaire schrie laut auf und klammerte sich in der Angst der Verzweiflung an ihre Knie an, indem er sein Haupt in ihrem Schoße zu verbergen suchte. Sie wäre niedergestürzt, wenn nicht Ludwig, ihr rasch zu Hilfe springend, sie gehalten hätte. »Vollzieht meinen Befehl!« rief Dolgorow nochmals. »Reißt ihn von der Fürstin hinweg!« Auf diesen Ruf packten zwei aus der Masse mit wilder Freude hervorspringende Männer den Verzweifelnden bei den Haaren; zwei andere ergriffen ihn bei den Füßen, ein Kosak riß sein Messer aus dem Gürtel und schnitt ihn über die beiden Hände, mit denen er Biankas Knie umschlossen hielt. Erst als die Sehnen zerrissen waren, sanken ihm die Arme zurück. Unter gräßlich jubelndem Gebrüll der wutentflammten Menge wurde er halb hinweggetragen, halb geschleift. Sein zerreißendes Jammergeschrei drang mitten durch das Toben der mordlustigen Schar hindurch, die, von wilder Begierde auf das gräßliche Schauspiel gestachelt, in schwarzen Massen nachstürzte. »Bewacht die übrigen Gefangenen!« rief Dolgorow und ging raschen Schritts, die Menge, die ihm ehrfurchtsvoll auswich, teilend, dem Ort zu, wo sein furchtbarer Befehl vollstreckt werden sollte.

Bianka hatte sich gegen Ludwigs Schulter gelehnt. Grauen und Seligkeit erfüllten sein Herz zugleich. Jetzt teilte verdoppeltes Wutgebrüll die Lüfte. Wider Willen zog es sein Auge zu der fürchterlichen Stelle hin. Beaucaire wurde hoch emporgehoben; sein Antlitz mit dem zerrauften Haar verzerrte sich wie in den Qualen der Verdammnis. Er zuckte mit den blutigen Stumpfen seiner Hände wild umher. Da stürzten ihn die Wütenden häuptlings in die Glut hinein; ein gräßliches Geschrei, das weit im Walde widerhallte, stieg empor. Es drang selbst in Biankas Betäubung mit entsetzlicher Gewalt ein; sie bebte schaudernd zusammen und drückte das Angesicht verbergend gegen Ludwigs Brust. Diesem hielt das Grausen Sprache und Bewegung gefesselt; kaum vermochte er es, den Blick von dem gräßlichen Schauspiele ab auf die erblaßten Züge der Geliebten zu wenden, die an seinem Herzen ruhte.

Als nach dem wilden Getöse einige Augenblicke schauerlicher Stille eintraten, erwachte Feodorowna aus ihrer Betäubung. Sie bebte scheu zurück, als ihr Auge auf den Schauplatz der gräßlichen Tat fiel. Das Haupt wendend, traf sie auf Ludwigs edle, von Schauder und Rührung tief bewegte Züge. Hier weilte ihr Blick mit unaussprechlicher Innigkeit. Nicht ihrer Lippe entfloh das Geheimnis ihres Herzens, welches sich ihr selbst erst in diesem Augenblicke wunderbar offenbarte; aber der Strahl ihres Auges verkündete es. In Ludwigs Brust flammte ein hoher Glaube an die Fügungen des Allmächtigen, ein kühnes Bewußtsein auf. Diese und keine andere war ihm zur Begleiterin des Lebens bestimmt. Auf den wunderbarsten Pfaden führte die Schickung sie ihm entgegen. Er wagte, ihre Winke zu deuten. Eben wollte er die Lippe öffnen, da trat Dolgorow, der von seinem blutigen Richteramte zurückkehrte, zwischen ihn und Feodorowna. Er heftete finstere, forschende Blicke auf das Antlitz der Tochter; es, schien, als argwohne er, daß ihre heftige Erschütterung durch etwas anderes als eben die vollbrachte entsetzliche Strafe an dem Elenden bewirkt sei.

»Fürstin Ochalskoi,« sprach er vornehm und kalt, »ich habe nicht vergessen, was wir diesem jungen Manne schuldig geworden. Mir deucht aber, unsere Rechnung sei zerrissen, da ich ihn hier als Feind Rußlands unter den Frevlern erblicke, die in das Heiligtum unserer Heimat eingebrochen sind. Doch Großmut ist die Tugend der Russen. Ich werde Sorge tragen, junger Mann, daß man Sie den Ihrigen wieder zusende; doch fallen Sie zum zweiten Male in meine Hand, so trifft Sie das Los aller übrigen, Tod oder ewige Gefangenschaft in den Bergwerken Sibiriens.«

Ludwigs Stolz erwachte dem Stolze Dolgorows gegenüber; doch er bezwang ihn und erwiderte: »Wenn Sie mich zu dem französischen Heere zurücksenden, so ist mein Tod gewiß, und Sie selbst sind die Veranlassung dazu.« – »Wie das?« fragte Dolgorow erstaunt. – »Was ich an der italienischen Grenze für Sie getan, wurde mir in meiner Heimat von den französischen Behörden zum todeswürdigen Verbrechen gemacht. Jeder Weg zur Flucht war mir abgeschnitten; nur um der Gewalt meiner willkürlichen Richter zu entgehen, trat ich, auf das Anerbieten eines edeln Freundes, in das Heer ein. Diesen Morgen sollte ich, von eben dem Unglücklichen verfolgt und verraten, der in diesem Augenblicke die entsetzliche Strafe seines Verbrechens erduldet hat, den Tod empfangen. Der Überfall der Ihrigen rettete mich. Doch ein teurer Freund –« Dolgorow unterbrach ihn: »Wenn Sie Wahrheit sprechen, sind Sie gerechtfertigt; und ich glaube es Ihnen. In diesem Falle werden Sie Sorge tragen, Fürstin, daß unser Retter auf das Schloß geführt werde. Solanow soll Sie geleiten; mich hält mein Beruf hier zurück, doch treffe ich sobald als möglich ein. Gehen Sie jedoch zuvor die Gräfin zu benachrichtigen.«

Bianka gehorchte und nahm, von zwei Dienern begleitet, ihren Weg nach einer Art von Hütte, die hinter den Lagerfeuern aufgerichtet war. »Wir werden uns bald wiedersehen«, sprach sie im Gehen zu Ludwig und neigte sich grüßend gegen ihn. Ihr Blick drang in sein tiefstes Herz; sie lächelte schmerzlich und freundlich zugleich und eine milde Hoheit, wie von dem Antlitze einer Heiligen, strahlte aus ihren Zügen. Mit bebender Verehrung beugte er das Haupt; als er es erhob, sah er die edle Gestalt, wie die Erscheinung einer Himmlischen im Kreise gelagerter Wilden, durch die Reihen der sich ehrfurchtsvoll neigenden Krieger dahinschweben.

Auch Dolgorow wollte gehen, doch Ludwig hielt ihn zurück. »Ich muß Sie noch um Ihre Vermittlung für einen Freund anflehen, der vielleicht wie ich in die Hände der Ihrigen geriet. Er wollte mein Retter werden und lud so den Zorn der französischen Machthaber auf sich; er wollte mein Geschick überall teilen, und so ergriff er denselben Ausweg der Rettung. Heute sollte er an meiner Seite sterben, rettete sich jedoch durch die Flucht.« – »Wenn er in unsere Hände fällt, soll er zu Ihnen gebracht werden,« sprach Dolgorow; »doch wie nennt er sich?« – »Graf Lomond ist der angenommene Name, unter dem er in Dienste trat und den er jetzt auch mutmaßlich fortführen wird.« – »Ich werde das Nötige seinethalben anordnen.«

Ein grauköpfiger Soldat von etwa sechzig Jahren, der Uniform und Bart gleich einem Russen trug, aber in seiner Gesichtsbildung einem Deutschen glich, näherte sich ehrfurchtsvoll dem Grafen und tat demselben, tief gebeugt, eine Frage. »Immerhin,« erwiderte dieser; »wenn du einen Landsmann gefunden zu haben glaubst, Solanow, so rede ihn an.«

»O mein Herr,« wandte sich jetzt der Alte in deutscher Sprache zu Ludwig, »vergeben Sie mir eine Frage. Ich bin ein Deutscher, aber seit langer Zeit aus meinem Vaterlande. Ich glaube in Ihnen eine Ähnlichkeit zu entdecken. Sollten Sie vielleicht Sternfels heißen?« – »Wie?« rief Ludwig heftig zitternd, mit äußerstem Erstaunen, da der Alte den Namen aussprach, den er nur durch Mariens Brief kannte und noch kaum zu führen wagte; »weshalb?« – »Ich diente einem deutschen Herrn dieses Namens,« sprach der Alte bewegt; »er ist zwar längst tot, aber wenn ich sein Ebenbild so vor mir sehe, wie–« – »Wo starb er?« rief Ludwig, den Greis hastig unterbrechend.

»Die See hat ihn verschlungen. Wir saßen eines bösen Handels wegen in Paris gefangen; doch es gelang uns, nach dem Havre zu flüchten und auf ein holländisches Schiff zu kommen.« – »Wann?« fragte Ludwig und hielt kaum noch an sich. – »Vor achtzehn Jahren.« – »Wegen eines Duells?« – »Allerdings.« – »Das war mein Vater!« rief Ludwig jetzt außer sich und ergriff die Hände des Greises, der zitternd, unschlüssig vor ihm stand. »Und wer bist du?«

»Ein schlichter Mann, lieber Herr,« sprach der Alte, und Tränen rollten aus seinen Augen; »ich war nur sein Reitknecht, Willhofen heiße ich.« – »Redlicher, treuer Diener,« rief Ludwig, »und hier finde ich dich? Und mein Vater ist wirklich tot?« – »Schon längst! Wir litten Schiffbruch in der Nordsee; das Meer verschlang die meisten. Einige, darunter ich, wurden gerettet; der Kapitän eines russischen Schiffs nahm uns auf.« Hier stockte der Alte und deutete mit einem scheuen Blicke seitwärts an, daß er nicht zu sprechen wagen dürfe. Ludwig aber ahnte das Los des Unglücklichen.

Dolgorow war indessen zu den übrigen Gefangenen getreten und hatte sie gemustert. Sie standen zitternd in einer langen Reihe vor ihm; die meisten waren junge Soldaten. »Sind Deutsche unter euch?« fragte er laut.

Ludwig hörte es und blickte hin; er harrte auf die Antwort, weil er fühlte, daß es seine Pflicht sei, die Rettung seiner Landsleute zu versuchen. Es blieb still. »Solanow!« rief der Graf, und dieser eilte, zu gehorchen. »Hier die Leute, die ich dir übergeben werde, sollen mit auf das Jagdschloß geführt und von dort weitergebracht werden. Sie sind noch zur Arbeit tauglich. Für die Übrigbleibenden hat Rußland keine andere Nahrung als zwei Lot Blei.«

Es waren einundzwanzig Gefangene. Nur einer blieb, als zu alt zur Arbeit, zurück, um den Tod zu empfangen. Es war St.-Luces. Da er nicht verstanden hatte, was der Graf sagte, so glaubte er, man habe an seiner Haltung, Wäsche und der ihm freilich meist geraubten Kleidung erkannt, daß er zu den höhern Ständen gehöre. Das bleiche Entsetzen, welches seit Beaucaires Schicksal seine Züge bedeckt hatte, wich einem Anflug der Hoffnung. Er wagte es daher jetzt, den Grafen anzureden, und sprach französisch: »Ich hoffe, mein Herr, auf die Gesetze, welche alle Völker sogar im Kriege ehren, Anspruch machen zu dürfen. Ich bin nicht Soldat, sondern gehöre zur Zivilverwaltung, mein Rang –«

»Ihr seid ein Blut und Mark aller Völker aussaugender Franzose,« entgegnete Dolgorow finster, »verächtlicher und abscheulicher als der Soldat, denn der kämpft mit offener Waffe, aber die eurige ist das Gift!« – »Man würde,« versuchte St.-Luces noch einmal zitternd seine Sache geltend zu machen, »mich sehr bereitwillig gegen gefangene Offiziere auswechseln!« – »Gefangene? Habt ihr denn auch Gefangene?« rief Dolgorow wild und mit Hohn zugleich. »In euern Bulletins stehen freilich Tausende; aber wo könnt ihr sie aufweisen? Und woran erinnert ihr mich? Wissen wir etwa nicht, wie eure ruchlosen Mörderbanden mit den wenigen umgegangen sind, die in ihre Hände fielen? Wähnt ihr, wir hätten sie nicht gefunden, wie sie mit zerschmettertem Schädel die Landstraßen bedeckten? Trafen wir sie nicht eingesperrt in Kirchen, Ställen, Scheunen, wo der Hunger sie zu Tode gefoltert hatte? Fort mit euch! Wir werden noch genug finden, gegen die wir auswechseln können, die wir auswechseln wollen.«

Indessen hatte Solanow oder Willhofen den vor Angst zitternden St.-Luces forschend betrachtet. Er sprach einige Worte russisch mit Dolgorow und fragte dann den Gefangenen: »Wie heißt ihr?« –- »Ich bin der Baron Rumigny von St.-Luces.« – »Rumigny!« rief Willhofen aus und seine Züge nahmen den Ausdruck des furchtbarsten Grimms an. »Allmächtiger Gott! deine Rache schlummert nicht!« rief er mit gen Himmel emporgehobenen Händen aus. »Elender, kennst du mich? Hast du vergessen, daß du – doch halt, hier – blick' her! Kennst du diesen? –« Dabei eilte er auf Ludwig zu und zog ihn heftig bis dicht vor Rumigny hin. »Sternfels ist sein Name! Die Toten stehen auf, um sich zu rächen! – Dieser ist der Mörder Ihres Vaters, der Mörder des wackern Waldheim – doch jetzt ist die Stunde der Vergeltung gekommen.«

St.-Luces starrte totenblaß mit unbeweglichen Blicken auf Ludwig hin; er versuchte zu reden. Doch die Sprache versagte ihm. Ludwig war bis ins Innerste von der Gewalt dieser rätselenthüllenden Stunde erschüttert. Einen Augenblick wallte auch in ihm der Zorn auf, doch sein edler Sinn wies diese Empfindung schnell zurück. Nur Mitleid erfüllte seine Brust, als er den Elenden von Todesangst und Gewissensbissen gefoltert betrachtete, der unter dem Gewichte seiner Schuld zusammenbrach. »Willhofen,« redete er den alten Diener an, »mein ist die Rache, spricht der Herr! Laß den Allmächtigen ferner walten – wir wollen vergeben!«

Willhofen hatte Tränen in den Augen; er beugte sich auf Ludwigs Hand und küßte sie. »Ein Herz wie der Vater! Er starb für seinen Freund – und wäre für seinen Feind gestorben.«

Ludwig wollte sich Dolgorow nähern, um ein Wort der Gnade für St.-Luces zu versuchen; doch dieser schnitt ihm mit strengem Blick und Wort die Bitte ab. »Hier waltet das Gesetz«, sprach er fest. »Hat der Gefangene Ihnen ein Unrecht getan, so mag Ihre Vergebung ihm jenseits nützen. Hier schützt ihn nichts.« Er winkte mit der Hand einem Kosaken in seiner Nähe und sprach einige russische Worte. Sogleich wurde St.-Luces, den die Todesangst völlig gelähmt zu haben schien, abgeführt. Einige Minuten darauf fielen drei Schüsse; Ludwig durfte nicht zweifeln, wem sie gegolten.


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