Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Sechstes Kapitel.

Es wurde fast völlig Nacht, bevor Ludwig wieder etwas von Feodorownen vernahm. So gern er sich in der Gesellschaft des würdigen Geistlichen, der ihn noch überdies mit einem warmen Pelze beschenkt hatte, befand, und so manches er durch Willhofens Gespräche erfuhr, was seine Seele tief bewegte, so schlug sein Herz doch mit unruhiger Sehnsucht nach der Geliebten, und er fürchtete jeden Augenblick, die Hoffnung, sie wiederzusehen, könne ihn täuschen. Jetzt endlich kam eine Botschaft von ihr: die, sich zur Abfahrt anzuschicken. Gregor und Willhofen begleiteten ihn in die Hütte, wo der angespannte Schlitten mit den ausgeruhten und abgefütterten Pferden stand. Bald traten die beiden Frauen heraus, dicht in Pelze und Schleier gehüllt. Die Gräfin wurde geführt; sie war sichtlich sehr ermattet. Im Vorübergehen an Ludwig grüßte sie durch eine leichte Bewegung des Hauptes; Feodorowna dagegen reichte dem Freunde die Hand dar und sprach: »In wenigen Stunden werden wir den Ort der Ruhe erreicht haben; Sie werden sich dessen, hoffe ich, erfreuen. Vergeben Sie nur, daß unser Schlitten nicht auch Raum für Sie hat.«

Ludwig erriet, was das Zartgefühl Feodorownas beunruhigte, nämlich der Umstand, daß er auf einem Dienerplatz sitzen mußte. Zuvorkommend unterbrach er sie daher, indem er ihr beim Einsteigen behilflich war: »Mein Auge wird für Sie sehen und wachen in dieser dunkeln Nacht; es ist ein Auftrag, der mich glücklich macht.« Mit diesen Worten schwang er sich auf den Vordersitz, wo Willhofen an seiner Seite Platz nahm. Der Kutscher setzte sich auf die Pritsche und übergab Willhofen die Zügel; zwei Diener zu Pferde ritten voran. Gregor reichte, nachdem er von den Frauen Abschied genommen, auch seinem jungen Gaste, den er schnell liebgewonnen hatte, die Hand zum Lebewohl dar. Ludwig drückte sie mit dem Gefühl warmer Dankbarkeit. Jetzt fuhr der Schlitten windschnell davon.

Man mußte mitten durch den Wald. Es war zwar sehr dunkel und der Himmel finster bezogen, doch leuchtete der Schnee hinlänglich, um den Weg zu erkennen. Indessen hörte die feste Bahn bald auf, und man mußte in dem tiefen, lockern Schnee langsamer fahren. Ringsumher war alles still. Nur ein hohles Sausen, welches durch die schwarzen Wipfel der Tannen zog, und das Schnauben der Pferde waren die einzigen Laute, die man in dieser erstarrten Wüste vernahm.

Ludwig hatte jetzt Muße, einen Blick auf die jüngst erlebten Schicksale zurückzuwerfen. Eine Welt von Ereignissen lag in dem kurzen Raum von gestern zu heute. Sie hatten sich so schnell aufeinander gedrängt, daß eines vor dem andern verschwand. Die von allen Seiten bestürmte, erschütterte Seele erhielt sich fester und klarer durch das Gleichgewicht der auf sie eindringenden Gewalten; einer einzelnen hätte sie vielleicht unterliegen müssen, oder wäre ihr doch ganz anheimgefallen. Jetzt traten die ersten Augenblicke der Ruhe ein, wo er die verworrenen Bilder ordnen und nacheinander an sich vorübergehen lassen konnte. Gegenwart und Vergangenheit, Ferne und Nähe lag vor seiner Seele; Schmerz und Freude, Sorgen und Hoffnung traten dicht zueinander. Sein Schicksal bot ihm das Bild einer herbstlichen Landschaft, wo düstere Wolkenschatten neben hellem Sonnenglanz ruhen, wo das grüne und welk fallende Laub sich wunderbar mischen.

Die Geliebte, die Verlorene ist dir nahe; der Hauch ihrer Lippe streift dich, deine Hand kann sie berühren! Darfst du sie aber jemals an dein Herz schließen? Wird sich die eherne Pforte des Geschicks nicht abermals mit dumpfem Donner vor dem geöffneten Paradiese zuschlagen, daß du draußen in dem kalten, öden Dunkel verzweifelst? Und der Freund! Der treue, teuere, unersetzliche Freund! Hat ihn das düstere Schicksal ereilt, das ein Gott von deinem Haupt wandte? Oder trifft ihn der furchtbarere Tod in dieser Winteröde? Muß er einsam, schauernd Abschied nehmen von den goldenen Tagen des Lebens? Reicht sich ihm keine tröstende Hand in den letzten, bangen Minuten, um ihm den herben Kelch durch süße Tropfen der Liebe zu mildern? O Allmächtiger, zerreiße das Herz nicht, das du beseligen willst! Diese Todeswunde heilt auch nicht an der Brust der Geliebten! Nein, nein! Soll es um diesen Preis sein, so sinkt mir die schmerzermattete Hand herab, und ich vermag die Schale der Wonne, die du mir reichst, nicht an die Lippe zu führen! – »Es wird recht finster«, sprach Willhofen. »Diese Wälder sind doch schauerlich. Horch! Hört ihr den Wolf? Er heult vor Hunger. Wenn ihm der Wind unsere Witterung bringt, wird er bald auf unserer Spur sein. Holla, Bursche, ihr dort vorne! Reitet dicht an uns! Habt ihr die Büchsen geladen? Wir könnten sie gebrauchen.«

Ludwig blickte mit Besorglichkeit nach den Frauen zurück. Doch die Nacht und die dichten Schleier, welche sie trugen, machten es unmöglich, ihre Züge zu erkennen und zu bemerken, ob sie die Besorgnis teilten. »Hat es Gefahr?« fragte er Willhofen leise. – »Selten, lieber Herr. Seid nicht bang.« – »Ich bin nicht um meinetwillen besorgt,« antwortete Ludwig; » aber wir haben Frauen bei uns.«

»Es hat nichts auf sich. Wir haben drei Büchsen, und euch gebe ich meinen Hirschfänger. Hm! Es muß doch ein ganzes Rudel beisammen sein; hört nur, wie sie heulen.«

Man fuhr eben durch tiefen, ungebahnten Schnee sehr langsam dahin; der Wind schwieg, daher konnte man in der lautlosen Stille das Geheul der hungerigen Raubtiere deutlich vernehmen. »Die Pferde wittern ihren Feind wahrhaftig auch schon,« sprach Willhofen leise, »seht nur, wie scheu sie die Köpfe herumdrehen und mit den Nüstern schnaufen. Paulowitsch und Stephanos,« rief er den Reitern zu, »braucht euere Sporen, daß wir rasch die Ecke bei der großen Fichte erreichen. Dort zieht der Weg sich so weit rechts, daß wir den Bestien vielleicht aus der Witterung kommen.«

Er schwang die Peitsche und trieb die Pferde an. Bald darauf bog der Weg sich um eine hohe, alte Fichte, deren Stamm die Ecke bildete, scharf rechts ein. Indem die Reiter den Winkel machen wollten, stutzten sie und hielten ihre Pferde zurück. »Was gibt's?« fragte Willhofen. – »Hier liegt ein Mensch im Wege!« erwiderte der Reiter. – »Wahrhaftig!« rief Willhofen, der eben bis an die Ecke gelangt war. »Tot oder lebendig? Heda! Antwort! – Er rührt sich nicht; es muß ein Leichnam sein. Wir wollen ihn aus dem Wege räumen, sonst kommen wir mit dem Schlitten nicht durch.« Er hielt an und wollte Ludwig die Zügel geben; doch dieser sprach: »Ich helfe euch. Man muß doch sehen, ob er wirklich tot ist.«

Der Kutscher nahm die Zügel, Ludwig und Willhofen stiegen ab, um den Körper aus dem Wege zu tragen. »Allmächtiger Himmel, es ist Bernhard!« rief Ludwig aus, als er sich gegen das Haupt des Toten herabgebeugt hatte, um ihn emporzuheben. »Bernhard, lebst du? Wenn noch ein Atemzug in dir ist, beschwöre ich dich, gib mir Antwort.« Er kniete weinend bei dem Erstarrten nieder, hob ihm das Haupt empor, lehnte es gegen seine Brust und drückte heiße Küsse auf das kalte, bleiche Antlitz.

»Was gibt's?« fragte die Gräfin ungeduldig. Feodorowna aber hatte den Ruf des Freundes gehört und eilte, vom niedrigen Schlitten herabspringend, selbst hinzu. »Finden Sie einen Freund hier?« fragte sie mit bebender Stimme, als sie Ludwigs schmerzliche Angst sah.

»Einen Freund! O den einzigsten, teuersten meines Lebens! Und erstarrt – tot! O mein Bernhard! Das überlebt mein Herz nicht!« – »Vielleicht ist noch Hilfe,« sprach Feodorowna gerührt; »wir wollen versuchen, was möglich ist!« Mit diesen Worten näherte sie sich und legte die Hand auf das Herz des Erstarrten. »Mir deucht, er atmet noch«, sprach sie freudig. – »Nein, nein! Er ist tot, er ist dahin!« rief Ludwig fast besinnungslos. »Dieser Schlag zermalmt meine Brust! Nimm mich mit hinüber, mein Bernhard, ich verlasse dich nicht im Tode!« Mit krampfhafter Angst drückte er den Freund an sein Herz und preßte seine Lippen auf die kalten, bleichen des Erstarrten.

»Wir wollen den Unglücklichen aufnehmen,« sprach Feodorowna mit dem Laut des weichsten Erbarmens; »vielleicht kehrt das Leben ihm zurück, wenn wir ihn mit warmen Hüllen bedecken. In einer Stunde können wir das Schloß erreicht haben, und dann soll kein Mittel unversucht bleiben, ihn zum Leben zu erwecken.«

Ludwig war sprachlos vor Schmerz; er vermochte nichts als Feodorownas Hand zu ergreifen und sie gegen seine Lippen zu pressen. Sie zog sie sanft zurück; ihr Herz betete zu dem gütigen Vater im Himmel, daß er den unnennbaren Schmerz von ihrem Freunde abwenden möge. Willhofen und Ludwig hoben den Erstarrten empor. Als sie ihn an den Schlitten brachten, fragte die Gräfin Dolgorow: »Mein Gott, was soll das? Was soll mit diesem Leichnam werden?« – »O meine Mutter,« bat Feodorowna, »es ist ein Unglücklicher, in dessen Brust sich noch Leben regt. Vielleicht vermögen wir ihn zu retten.« – »Es ist unmöglich!« antwortete die Gräfin heftig; »hörst du die Wölfe nicht? Wir sind in Gefahr, wir können den Schlitten nicht mehr belasten, und ich sehe auch keinen Raum – mit einem Wort, es kann nicht sein, es soll nicht sein! Eilt, daß ihr vorwärts kommt; ich befehle es.«

Willhofen stand unschlüssig. Ludwig aber warf sich zu Feodorownas Füßen nieder und rief: »Bei allem, was Ihnen heilig ist, beschwöre ich Sie, retten Sie mir den Freund, nehmen Sie mein Leben dafür hin!« – »Meine Mutter!« rief Feodorowna dringend, »die Menschlichkeit, das Gebot der Liebe–« – »Törin! Um einen Leichnam mitzuschleppen, sollen wir Lebenden eine Beute der Wölfe werden? Nein, sage ich, nein; ich befehle euch zu eilen. Auf der Stelle vorwärts!«

»So bleibe ich hier,« rief Ludwig außer sich, »bis der Tod auch meinem jammervollen Leben ein Ende macht.« Er zog den Erstarrten an seine Brust, umhüllte ihn mit seinem Pelz und drückte ihn liebkosend an sich. »Mein Bernhard, du treuestes Herz auf der weiten Erde!« sprach er, und seine Tränen flossen unaufhaltsam. »Jetzt kommt der Tag der Vergeltung; ich verlasse dich nicht. An meiner Brust sollst du – du mußt wieder erwachen.« – »Solanow! Setze dich auf«, befahl die Gräfin mit krankhafter Heftigkeit. »Es kostet dir das Leben, wenn du noch säumst! Bleibe hier zurück, wer mag!« – »Mutter, Mutter!« rief Feodorowna und ergriff die Hand derselben, »es gilt ein Menschenleben – es gilt das unsers Retters!« – »Der jetzt unser Verderber werden will,« unterbrach die Gräfin; »komm zu mir, oder ich lasse auch dich zurück!«

Man hörte in der Tat das Heulen der Wölfe näher und näher. Die Diener wagten nicht zu gehorchen, noch zu widersprechen. Feodorowna stand in einem heftigen Kampfe mit sich selbst. »Nun denn,« begann sie nach gewaltiger Anstrengung mit Hoheit, »so muß ich entscheiden. Muß ich zu meinem unermeßlichen Elend den Namen der Fürstin Ochalskoi führen, so soll er mir einmal wenigstens zum Heil gereichen. Mein sind die Rosse, diese Leibeigenen; ihr kennt euere Fürstin, euere Gebieterin! Bei euerm Leben befehle ich euch jetzt, diesen Hilflosen nicht zurückzulassen!« Sie stand aufgerichtet in gebietender Majestät vor den Leuten; der Gräfin verschlossen Zorn und Erstaunen die Lippe. »Eilen Sie, retten Sie sich mit uns und Ihrem Freunde«, sprach Feodorowna jetzt sanft zu dem halbbetäubten Ludwig. »Eilen Sie!«

Willhofen sprang hinzu und half Bernhard vorn auf den Sitz bringen, wo Ludwig ihn mit seinem eigenen Pelz bedeckte und ihn mit seinen Armen fest umschlang. »Ich trete hier vorn auf die Deichsel,« rief der wackere Diener rasch, »so ist Raum für uns alle drei.« Auf den Sattel der Deichsel springend, ergriff er schnell die Zügel und rief; »Jetzt vorwärts, Bursche!«

Die Pferde, welche, die Nähe der ergrimmten Wölfe witternd, schon ängstlich und scheu gestanden und mit den Hufen in dem Schnee gewühlt hatten, schossen jetzt, als fühlten sie, daß es ihre eigene Rettung gelte, brausend dahin. Die Fahrt ging pfeilschnell durch das düstere Gebüsch; dennoch vernahm man das Geheul der nachfolgenden Raubtiere näher und näher. Jetzt knickte und knisterte es in den Zweigen, und plötzlich sprang ein mächtiger Wolf mit kühnen Bogensätzen aus dem Dickicht hervor, um sich den Pferden entgegenzuwerfen und sie an der Kehle zu packen. Doch der gewandte Willhofen hatte alsbald die Büchse zur Hand und streckte das Tier in dem Augenblick zu Boden, wo es das scheu auf die Seite setzende Handpferd anfallen wollte. »Der wäre bezahlt! Er soll uns den Pelz nicht schuldig bleiben«, rief der Schütze lustig, ohne auf das laute Aufkreischen der Gräfin sonderlich Rücksicht zu nehmen. »Paulowitsch, hast du geladen? Sei auf der Hut!«

Es vergingen einige Minuten, ohne daß ein neuer Feind sich zeigte. Der grause Ton des Geheuls schien schwächer zu werden. »Sie sind scheu geworden«, wandte sich Willhofen zu Ludwig, der jedoch, den Freund am Herzen haltend, kaum bemerkt hatte, was vorgegangen war. »Seien Sie unbesorgt, gnädigste Frau Fürstin und Gräfin,« sprach er zu diesen, »nun können uns die Bestien nichts mehr anhaben. In fünf Minuten sind wir aus dem dichten Walde und dann ist die Bahn spiegelglatt. Da soll uns eine schießende Schwalbe nicht einholen.«

Jetzt lichtete sich der Wald; man gelangte auf einen nur mit niederm Gehölz bedeckten Platz von der Breite einer Viertelstunde. Der Schlitten flog pfeilgeschwind über die hier festgefahrene Bahn hinweg. Jenseit bog man in einen geraden, durchgehauenen Baumgang ein, und nach wenigen Minuten lag das Jagdschloß vor den Augen der Reisenden. »Das war gefahren!« rief Willhofen, als er vor dem Tor anhielt, aus welchem, durch das Knallen der Peitsche von fernher aufmerksam gemacht, schon zwei alte Diener mit Laternen herausgeeilt waren. »Seht nur, wie die Pferde dampfen! Von der großen Fichte bis hierher keine zwanzig Minuten und das halb in dem tiefen Schnee! Und es sind doch gute zehn Werst!« Unter diesen Worten war er abgesprungen und hatte dem Kutscher die Zügel übergeben. Die Diener halfen den Damen aus dem Wagen.

Schweigend, ohne zu grüßen, ging die Gräfin, auf den Arm eines der Diener mit der Laterne gestützt, ins Schloß. Bianka befahl sogleich für Ludwig und den Verunglückten die schleunigste Sorge zu tragen. Dann wandte sie sich zu diesem mit den Worten: »Hier sind Sie mein Gast, dieses Schloß gehört mir; führt der Himmel den großen Schmerz an Ihnen vorüber, so hoffe ich, daß Sie hier ungetrübte Stunden zubringen sollen.«

Ludwig, der noch sitzengeblieben war, weil er Bernhard im Arme hielt, wandte sich zu der Sprechenden. Ihre sanfte Stimme fand selbst jetzt den Weg zu seiner Seele. »Engelgütiges Wesen«, begann er, – da regte sich Bernhard an seiner Brust und tat einen tiefen Atemzug. »Er lebt!« rief Ludwig außer sich, alles vergessend; »allgütiger Himmel! Er lebt, er lebt!« In Hoffnungsangst und Freude umschlang er den Geliebten und zitterte heftig. »Wo bin ich?« fragte Bernhard und schlug die Augen auf. – »In meinen Armen!« rief Ludwig und seine Brust wallte atemlos und wollte springen im Übermaß seiner Freude. Feodorowna hob das Auge gerührt gen Himmel. Auch ihr glänzte ein Schimmer der Hoffnung. Zum ersten Male seit langen Monden senkte sich das Gefühl eines sanften Friedens in ihre trauernde Seele ein. Willhofen half den noch halb Gelähmten und Betäubten herabheben und leitete ihn mit Ludwig gemeinschaftlich in das für diesen bestimmte Gemach, wo sie ihn in einen Sessel niederließen. Dann eilte der treue Diener, um schnell wirksame Rettungs- und Stärkungsmittel herbeizuschaffen.

Hier kehrte dem Geretteten die völlige Besinnung zurück. »Ludwig,« rief er, »seh' ich dich wieder? Lebst du? Oder weilen wir jenseits, oder war alles ein Traum?« Und in heißer Umarmung hielt er den Freund am Herzen. »Wir leben! Ein gnädig waltender Gott hat uns behütet – o du sollst noch andere Wunder sehen!«

Willhofen trat mit einem von Feodorowna rasch bereiteten erwärmenden Getränk ein; ein Diener brachte wollene Decken, um den Erstarrten einzuhüllen. »Das ist, dem Himmel sei Dank, nicht mehr nötig«, rief Willhofen freudig aus, als er sah, daß Bernhard völlig zum Leben und Bewußtsein zurückgekehrt war. »Aber hier, mein Herr, trinkt ein wenig! Das wird euch Kräfte geben!« Bernhard brachte das Gefäß an die Lippen. Wenige Tropfen gaben ihm ein neues Gefühl des Lebens; die Macht der Freude vollendete das Werk der Genesung schnell. »Komm, Ossip,« sprach Willhofen zu dem Diener, »wir sind hier nicht mehr nötig, und es gibt noch anderwärts viel zu tun.« Beide gingen.

»Bruder,« begann Bernhard gerührt, als sie allein waren, »an deiner Brust hast du mich wieder zum Leben erwärmt! Hier beschwöre ich dir's, bei den wunderbaren Wegen der Schickung, es ist kein Blutstropfen in meinen Adern, der nicht dir gehört! Beim Allmächtigen!« Er hob die Hand; in seine ermatteten Züge kehrte die edle, trotzige Kraft zurück, die mit der Federkraft des Stahls um so mächtiger aufstrebte, je härter der Druck des Geschicks sie zusammenzupressen drohte. »Nun erzähle aber,« sprach er, »wo sind wir, wie bist du entkommen? Was mich anlangt, mir ist außer einer grausenvollen Geschichte, durch die mir eigentlich das Leben von inwendig her erstarrte, denn sonst, jetzt fühle ich's erst, hätte mich die Kälte noch nicht überwunden, nichts begegnet, als daß ich im Walde umherirrte. Aber dir?«

Eben wollte Ludwig sprechen, als die Tür sich öffnete und Feodorowna, mit zurückgeschlagenem Schleier, in Trauerkleidung eintrat. Ein Armleuchter, der auf einem Tisch neben der Tür stand, warf helles Licht auf ihre edeln, von der Freude sanft belebten Züge. »Sieh' dort unsere Retterin«, sprach Ludwig und deutete auf die Eintretende. – »Ihr Freund lebt? Dank sei dem gütigen Himmel!« sprach sie näher kommend, mit einer Stimme, in der die heilige Rührung ihrer Brust bebend vorklang.

Bernhard hob das erstaunte Auge zu ihr empor. »Diese Züge kenne ich,« rief er plötzlich von unerklärlichen Gefühlen der Ahnung und Erinnerung durchschauert, »und ich weiß woher. Aber auch diese Stimme habe ich schon vernommen!« Ein ähnliches Staunen hielt Feodorownas Blicke auf Bernhards edles Antlitz gefesselt. Sein Anblick weckte wunderbare, schauernde, aber unerklärte Erinnerungen in ihr. Sie reichte ihm, von einem leisen Zuge des Herzens getrieben, die Hand dar. Bernhard beugte sich herab, um sie zu küssen; doch in dem Augenblick, wo er das Auge darauf heftete, fuhr er zurück, als erblicke er eine Geistergestalt, und stand mit bebenden Lippen, sprachlos, die Blicke unverwandt auf Feodorownas Antlitz gerichtet, da. Heftig streifte er mit der Hand über die Stirn und ins Haar, als fühle er dort einen lastenden Druck und Schmerz. »Was ist dir?« fragte Ludwig und trat teilnehmend näher. – »Nichts, gar nichts!« rief Bernhard wild und zitterte heftig am ganzen Körper. »Ein wahnwitziger Traum – doch ich rase um mich, wenn ich daraus erwache. Ums Himmels willen knüpfe mir doch hier diesen Knoten aus der Locke – ich kann sie ja nicht ausreißen!« Dabei riß er mit krampfhaftem Zucken in seinem Haar. Ludwig fühlte den Knoten im Haar und löste ihn leicht. Bernhards Ring fiel auf die Erde nieder; er griff hastig danach, nahm ihn auf, reichte ihn Feodorownen und sprach mit fliegendem Atem: »Mir deucht, dieser Ring sieht dem Ihrigen ähnlich, – ich vertauschte ihn einmal – in Warschau – er trägt die Buchstaben – Unsinniger!« rief er plötzlich und verzog ingrimmig die Stirn zu finstern Falten, »mache dich nicht selbst wahnsinnig durch solche Träume. Ludwig! Fasse mich an, damit ich weiß, ob ich wache!«

Feodorowna hatte den Ring aus seiner Hand genommen, sie wollte ihn mit dem ihrigen vergleichend betrachten, doch ihr Auge verdunkelte sich. Zitternd sank sie auf die Knie nieder, faltete die Hände zum Gebet und flehte sanft mit gen Himmel gewandtem Blick: »Allgütiger! Prüfe mich nicht zu hart – wenn dies Herz sich täuscht, so bricht es – so viel vermag es nicht zu tragen – nimm mich in deine Huld!« Sie hielt die Ringe abgewendet vor sich hin und floh mit den Blicken seitwärts, als bebe sie vor dem grauenvollen Orakel, das sie verkünden sollten; dann preßte sie beide heftig an ihre Brust, als seien sie das Köstlichste, was sie auf Erden besitze, und als müsse sie sich jetzt auf ewig davon trennen. Plötzlich entschlossen heftete sie unverwandte Blicke darauf. Sie bebte, ihr Busen flog, die Rosenglut des Morgens hauchte ihre Wangen an – dann erblaßte sie zum Schnee der Lilie – die Ringe entsanken ihrer Hand – sie streckte die Arme verlangend gegen Bernhard aus, ihre Lippen bewegten sich, doch die Wallung der Brust erstickte jeden Laut – endlich rief sie mit angstvoller Gewalt: »Bruder! Bruder!« und sank lautlos, leblos, mit dem schönen Haupt an die Brust des vor ihr knienden Bernhard. Dieser hielt sie stumm, zitternd an sich gedrückt; seine eherne Kraft war weich aufgelöst; unaufhaltsame Tränen entflossen seinen Augen und netzten die Wangen der schönen Schwester, die in süßer Bewußtlosigkeit an seinem Herzen ruhte.

»Ludwig, Ludwig,« bat er diesen endlich mit weicher Stimme, »du bist besser, reiner als ich – bete du zu dem ewigen Vater, daß sie mir nicht stirbt – er wird dein Flehen hören! Holde, süße Rose, richte dein Haupt empor! Nicht jetzt brich, du heiliges Herz, noch einmal schlage lebend, lebend an der Brust des Bruders!«

In seinen Armen hob er die Schwester empor und ließ sie sanft auf die Ruhestätte nieder, wo er selbst vor wenigen Minuten zu einem neuen Leben erwacht war. Da schlug sie das tiefe blaue Auge wieder auf und hob den matten herabgesunkenen Arm, um ihn liebend um den Nacken des Bruders zu legen. Jetzt brach der milde Quell der Tränen hervor und erlöste die Brust von der überdrängenden Gewalt der Freude. Frei atmete sie auf und ein tiefer, unendlicher Himmel der Seligkeit schimmerte aus dem feuchten Glanz ihres Auges. »Ist es denn wahr? Ziehen nicht die Zauberbilder eines Traumes vor mir vorüber? Weile ich nicht jenseits in den Gefilden der Seligen? Ja, ja, du bist mein Bruder! Die Stimme meiner Brust täuscht mich nicht. Sie ist wahrhaftiger als die tausend Zeichen meiner Sinne, woran ich dich erkenne. Ich habe nun ein Herz, das mein ist auf dieser Welt; eine Brust, die mich nicht rauh zurückstößt, wenn ich zu ihr flüchten will! Nicht wahr, mein Bruder, du wirst mich nicht mehr verlassen?«

»Verlassen?« fragte Bernhard und drückte sie selig bebend, inniger an die Brust. »Wie die Pflanze im dunkeln Felsengrunde das Licht sucht, so sehnte ich mich nach einer Schwesterbrust! Und du wähnst, ich könnte dem warmen goldenen Strahl, der endlich in mein erstorbenes Herz dringt, den Kelch verschließen? Zum erstenmal in dieser heiligen Minute bricht das Licht durch die düstere Wolkenhülle meines Lebens! Zum erstenmal erblicke ich diese schöne Welt verklärt in seinem rosigen goldenen Schimmer! Grau, öde, schauerlich, in dunkeln Nebeln lag sie vor mir – jetzt glüht sie in tausend warmen Farben! Nein, nun soll uns nichts mehr trennen! Selbst nicht der Tod, denn ich vernichte mich selbst in dem Augenblicke, wo er dich grausam aus meinen Armen reißt!«


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