Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Sechstes Kapitel.

Bei dem größern Heere hatte die tiefste Trauer und Bestürzung geherrscht, weil man keine Hoffnung hegte, daß der preisgegebene Held Ney einen Ausweg aus den Schneesteppen Altrußlands, deren Grenzen von zahllosen Feinden bewacht wurden, finden könne. Wenn schon die Garden des Kaisers unter dessen Führung selbst, als er sich zurückwandte, um Eugen und Davoust zu retten, furchtbare Kämpfe bestehen mußten, wenn die italienische Armee nur durch ein Wunder gerettet werden konnte – was war für die zu hoffen, welche, um zwei Tagemärsche zurück, den Feind auf den Fersen, vor sich und zu beiden Seiten haben mußten? Ein düsterer Schmerz bemächtigte sich der Seele aller; selbst der eigenen Rettung vermochte sich niemand zu erfreuen, solange der kühne, edle Löwe, der freilich allein dieser gigantischen Aufgabe gewachsen war, in dem Kerker des Feindes schmachtete, oder vielleicht von den Keulenschlägen der Übermacht zu Boden gestreckt wurde. Der Kaiser selbst, so fest er sich die unerschütterliche Ruhe und Klarheit bewahrte, wo er im Angesicht des Soldaten Feldherr oder Monarch sein mußte, vermochte in seinen nächsten vertrauten Umgebungen der Sorge und dem Gram kaum zu gebieten. Man sah ihn finster, mit gefurchter Stirn, die Hände auf den Rücken gelegt, in den niedrigen, halbeingestürzten Hütten Krasnoes, Lyadis, Rasasnas und Orszas, wo der Beherrscher Europas sein Nachtquartier wählen mußte, auf und nieder gehen, ohne ein Wort zu sprechen. Seine Umgebungen standen oder saßen schweigend umher und wagten nicht, die tiefe Stille zu unterbrechen. Den Schmerz um den Fall der vielen Tausende seiner Getreuen, die Schmach seiner Niederlagen, den Sturz aller seiner Hoffnungen hatte er mit unerschütterter Kraft getragen; der Verlust seines kühnsten Feldherrn, seines wärmsten Freundes, bezwang selbst diesen Koloß, der gewohnt war, wie ein Fels in den Stürmen und Wogen des Schicksals zu stehen und sich die Wetter an seiner Stirn brechen zu lassen.

Von Kämpfen und Anstrengungen ermattet, hatte das Heer zögernden Schrittes, denn der Kaiser wollte die offene Bahn der Rettung nicht betreten, solange er den kostbaren Edelstein dem Feinde verpfändet hatte, spät am Abend Orsza erreicht. Eugen, Davoust und Mortier lagerten mit ihren Kriegern in dieser Stadt, die hier zum ersten Male nach einem Monat unerhörter Qual und Entbehrung ein sicheres Obdach, Schutz gegen die Strenge des Winters, hinreichende Nahrung für ihren entkräfteten Körper, ein Lager für die ermatteten, von Kälte erstarrten Glieder fanden. Die ungeheuere Mühe schien überstanden, und mit der gebieterischen Forderung der Notwendigkeit hörten auch die Kräfte auf, die der Wille an sich nicht zu so furchtbarem Gehorsam zu zwingen vermochte. Todesmatt waren die Krieger auf das Lager gesunken und überließen sich in den Armen des Schlafes einer seligen Vergessenheit ihrer Leiden.

Es war Nacht. Da hört der noch in später Sorge für die Seinen wachende Eugen den Hufschlag einiger Pferde in den schweigenden Gassen des Städtchens. Horchend beugt er sich aus dem Fenster, sieht mehrere heransprengende Reiter und ruft sie an: »Wer da?« – »Polnische Kavallerie.« – »Woher?« – »Vom Korps des Marschalls Ney.« Diese Antwort zuckt wie ein freudiger Blitzstrahl durch das Herz des Königs. »Lebt er? Ist er gerettet?« fragte er hastig und außer sich.

»Er rückt auf dem rechten Ufer des Dnjepr heran,« erwidert Rasinski, der von dem Marschall vorausgeschickt war; »doch sind die Russen ihm nahe und ich komme, Hilfe zu fordern.«

»Ihr sollt sie haben«, ruft der Feldherr freudig und erscheint in wenigen Augenblicken von seinen Offizieren umgeben auf der Straße. Der Generalmarsch ertönt, man eilt von Haus zu Haus, die Krieger aufzurufen. Doch welche Forderung! Kaum haben sie endlich den ersten Ort der Rast und Ruhe erreicht, kaum hat der Schlaf die Entkräfteten in seine süß betäubenden Arme geschlossen, und schon wieder sollen sie hinaus in den unermeßlichen Ozean von Eis und Schnee, sollen zurückkehren in die Wüste, aus der sie kaum den Ausgang erkämpft haben? Wer will sie dazu vermögen? Sie ziehen den Tod der Erneuerung der Qualen vor. Die wirbelnde Trommel hören sie nicht, mit so festen, dumpfen Banden hat der Schlaf sie umstrickt; mühsam aufgerufen und emporgerissen, taumeln sie halb bewußtlos wieder zurück auf das warme Lager. Mag der Feind, den sie eingedrungen wähnen, sie im Schlafe ermorden; jeder Widerstand ist doch vergeblich; warum sollen sie die gelähmten Sehnen noch einmal auf schmerzlicher Folter anspannen, warum die Marter erneuern und verlängern?

Doch ein Mittel gibt es: »Ihr sollt den Marschall Ney erretten«, ruft man den Betäubten ins Ohr. »Ney ist uns nahe! Auf, ihm entgegen, ihn zu beschirmen!« Der Name des Verehrten, Betrauerten, verloren Geglaubten weckt das Ehrgefühl der Tapfern; einen solchen Feldherrn zu verlassen, ist schmählicher als Verrat und Flucht. Dieser Aufruf dringt mit hinreißender Gewalt in die Seele der Krieger; Ney ist der Kämpfer, der alles wagt, er ist der Retter, wo keiner mehr zu retten vermag. Wie ein Gott kehrt er von den Pforten des Todes zurück! Nichts ist mehr zu fürchten, wenn er wieder bei uns weilt. Die Freudenbotschaft verpflanzte sich von Mund zu Mund, von Haus zu Haus; in Scharen strömen die Krieger zusammen, jeder will der erste sein, dem allverehrten Helden entgegenzueilen. Selbst die Feldherren streiten sich um diesen Ruhm; nur durch seinen höhern Rang vermag der Vizekönig sein Recht dazu geltend zu machen.

Man bricht auf durch dichte Finsternis, auf unwegsamen Pfaden; Rasinski und seine Begleiter reiten als Führer an der Spitze. Doch die feindselige Natur ruht auch jetzt noch nicht; der Sturm erhebt sich; Schnee wird aufgewirbelt, jeder Pfad, jede Spur verweht. Wie soll man jetzt die Richtung festhalten? Wie in dieser unabsehbaren Wüste den Verlorenen erspähen? – Zwei Stunden ist man, dem Glück vertrauend, unablässig weiter in die Tiefen der Finsternis und der Öde eingedrungen; jetzt endlich scheint jede Bahn und jede Hoffnung verloren. Ja die Tücke des Geschicks läßt befürchten, daß man gerade in die ausgespannten Netze des Feindes irrt und auf seine Heere stößt, statt auf die Freunde. »Wir sind hier auf dem Meere, wenngleich seine Wellen erstarrt sind«, ruft der Vizekönig aus. »Wir müssen zu den Mitteln bedrängter Schiffer greifen; wir wollen Signalschüsse tun!«

Er gebietet halt. Zwei Geschütze laden blind. In wohl abgemessener Pause geschehen drei Schüsse, deren dumpfer Donner weit durch die Nacht fortrollt. Jetzt lauscht alles in gespanntester Erwartung, ob das Signal erwidert wird. Lange bleibt es still; schon verzweifelt man, daß das Zeichen verstanden sei. Da läßt sich endlich entferntes Gewehrfeuer hören. »Wie? Was soll das bedeuten?« fragt der Vizekönig aufs neue zweifelhaft. – »O, dieses Zeichen ist uns günstig,« fällt Rasinski rasch ein, »das dritte Armeekorps hat keine Kanonen mehr, es kann nur so antworten.« – »Der Wackere!« ruft Eugen freudig; »so hat er uns dennoch verstanden! Wie sich bei ihm Vorsicht und Kühnheit paaren! Er wartete ab, ob die drei Schüsse die einzigen bleiben würden, und so erriet er die allein mögliche Bedeutung, die sie haben konnten.«

»Es war in des Marschalls Lage allerdings gefährlich, das Zeichen zu beantworten,« pflichtete Rasinski bei; »er konnte sich dadurch ebensogut dem Feinde verraten. Doch sein Feldherrnblick durchdringt die Verhältnisse mit Adlerschärfe, und wo Verderben und Rettung in schwindelnder Nachbarschaft kaum zu unterscheiden sind, weiß er dennoch mit fester Hand zu ergreifen, was ihm Heil bringt!« – »Und diesmal soll er sich nicht getäuscht haben!« rief der Vizekönig freudig, indem er seine Truppen die Richtung nach dem Schalle der Schüsse nehmen ließ.

Mit belebtem Mut, mit erneuter Kraft dringen die treuen Kameraden vor. Da teilen sich die Wolken; der Mond, der so oft ein gefährlicher Feind gewesen, wird endlich ein Freund der Bedrängten. Er wirft sein Licht über die Schneehügel, und jetzt sieht man einen schwarzen Zug von Kriegern am Saum des Waldes hinabziehen. »Diese sind es«, ruft Rasinski, und die Truppen beschleunigen den Marsch. Bald erblickt man sich gegenseitig; neue Freundeszeichen werden gegeben; die Freude treibt zur Eile an; die edeln Führer können den Augenblick nicht erwarten, sie sprengen dem Heere vor, und einander erkennend schwingen sie sich vom Pferde und halten sich in inniger Umarmung.

Das ganze Heer wird von dem begeisternden Beispiel ergriffen. Als hätte jeder sich einen Bruder, einen Sohn, einen Vater gerettet, stürzen Offiziere und Soldaten aufeinander zu und halten sich in brüderlichen Armen. Vergessen sind die Gefahren, die Leiden, die Opfer. Auf dem düstern Meer des Unheils leuchtet endlich ein heller Stern der Freude, die erstarrte Eissteppe Rußlands, bisher nur die grauenvolle Bühne des Entsetzens, sieht ein rührendes Schauspiel der Liebe und Treue, in dem nur Freudentränen fließen. Mit liebender Ehrfurcht wird der Held, der sich mit Löwenkühnheit durch alle Feinde und Gefahren gerungen, von den Kriegern umringt. Seinen Lorbeer befleckt nicht einmal der Neid derer, die ihm gleichstehen. Willig legen ihm alle den Preis zu Füßen; doch er, so sind Pflicht, Ehre und Ruhm ihm zur edlern Natur geworden, weiß kaum, daß er ihn verdient hat. Im Triumph wird er nach Orsza geführt; auf dem Wege dahin teilen die Krieger des Vizekönigs mit denen des geretteten Marschalls brüderlich die Lebensmittel, die Getränke, deren jene Erschöpften so lange entbehren mußten. Sie erzählen einander ihre Leiden, ihre Gefahren, ihre Taten; doch jene vergißt der Soldat, diese bleiben fest in seinem Gedächtnis, ihrer rühmt er sich stolz, und an ihnen erhebt sich sein Mut zu neuen Wagnissen.

So ziehen die Tapfern stolz ein in die Lagerstätten dieser Nacht. Sie fühlen sich wieder die Krieger jenes großen unbesiegbaren Heeres, weil sie das köstlichste Gut aus dem furchtbaren Schiffbruch ihres Glücks gerettet haben, den Ruhm; denn der Feind darf von keinem Heere sprechen, das sich ihm ergeben hat; alle sind sie mitten durch die Schrecken seiner Waffen und die grimmigern der empörten Natur kühn hindurchgedrungen. An diesem stolzen Gedanken entzündet sich ein edles Feuer in den Herzen der Krieger, und in seiner Glut schmiedet sich der stählerne Harnisch unerschütterlicher Entschlossenheit um die Heldenbrust.


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