Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Achtes Kapitel.

Am andern Morgen machte sich Bernhard zeitig auf, um Ludwig aufzusuchen. Er nahm seinen Weg die Schloßgasse hinunter und überlegte im Gehen bei sich selbst, was bei dieser ernstlich unangenehmen Sache wohl das Gescheiteste sei, und ob Ludwig nicht wohltäte, sich wenigstens auf einige Zeit von Dresden zu entfernen; da stieß er, weil er, in Gedanken versunken, nicht auf die Gegenstände um sich her merkte, ziemlich unsanft an den Ellbogen eines eilig Vorübergehenden. Mechanisch griffen beide nach ihren Hüten und wollten sich eben höflichst gegeneinander entschuldigen, als Bernhard sah, daß er den Fremden vor sich habe, von dem alles Unheil ausging. Nur ein so gewandter, nie die Geistesgegenwart verlierender Abenteurer wie Bernhard vermochte dabei die Fassung zu erhalten. Mit großer Höflichkeit entschuldigte er seine große Unhöflichkeit; der flüchtige Zug der Überraschung in seinen Mienen konnte allerdings der Betroffenheit über das heftige Zusammenstoßen ebensogut gelten als der Empfindung, die der Anblick der Person ihm einflößte.

Der Fremde antwortete ebenso höflich; Bernhard spähte mit Falkenblicken in seinen Zügen umher, um zu entdecken, ob er erkannt werde oder nicht. Es schien ihm, als sei der Fremde ungewiß. Da schoß ihm plötzlich der Gedanke durch den Kopf: wie, wenn es dir gelänge, diesen Schuft vertraulich zu machen und dich seiner selbst gegen ihn zu bedienen? Kolumbus konnte über den plötzlichen Gedanken, der ihm eine neue Welt hinter unbekannten Meeren zeigte, nicht erfreuter sein als Bernhard über diesen Einfall. »Sie scheinen zwar fremd, mein Herr,« erwiderte er, »allein ich dächte, wir sollten uns doch schon irgendwo anders begegnet sein als hier, wo uns der Zufall ein wenig hart aneinander geführt hat.«

»Es will mir gleichfalls scheinen«, entgegnete der Fremde mit derjenigen sichtlichen Unruhe in den Mienen, die es uns verursacht, wenn wir einer unabweislichen Personalerinnerung keinen rechten Namen oder Platz in unserm Gedächtnis zu geben wissen. – »Mein Gott, jetzt fällt mir's ein,« rief Bernhard; »waren Sie nicht gestern im Garten zu Pillnitz? Begegneten wir einander nicht bei den schönen Fliedergebüschen?« – »Ganz recht,« rief der Fremde mit einem von boshafter Freude leuchtenden Gesicht, »ganz recht; aber Sie waren nicht allein.«

»Ich ging mit einem Reisebekannten, den ich im Wirtshause getroffen«, warf Bernhard leicht hin. »Nachher bestiegen wir den Porsberg, aber das Gewitter brachte uns auseinander. Sind Sie vielleicht auch davon überrascht worden?«

»Ein wenig; indessen–«

»Ich ganz ordentlich,« unterbrach Bernhard mit Absicht; »ich wurde naß bis auf die Haut. Und dazu hatte ich keine Gelegenheit, zurückzukommen, da der Schuft von Kutscher, den ich bestellt hatte, zum Teufel gefahren war, vermutlich weil man ihm mehr geboten hatte, denn die Preise stiegen gewaltig. Indessen geriet ich an einige französische Offiziere, prächtige, wohlwollende Leute, die nahmen mich noch ganz spät mit nach Dresden herein, sonst säße ich vielleicht noch dort. Eben will ich zu ihnen gehen und meinen Dank abstatten; da diese Herren aber früh auszugehen pflegen, so entschuldigen Sie wohl, wenn ich ein wenig eile.« Mit diesen Worten machte er den Scheinversuch, zu gehen, doch der Fremde ergriff ihn bei der Hand. »Ein Wort, ich bitte. Wer war, wenn ich fragen darf, Ihr Begleiter im Garten?«

»In der Tat,« entgegnete Bernhard, »das kann ich Ihnen ebensogut sagen als nicht sagen. Ich reise viel hin und her; schon vor längerer Zeit traf ich ihn einmal in Mannheim, und vor einigen Tagen fand ich ihn an der Table d'hote in Leipzig wieder. Wir tranken zusammen Kaffee im Rosental, gingen ins Theater und speisten abends in einem Austernkeller. Gestern gerieten wir zufällig im Garten von Pillnitz zusammen, und ebenso zufällig brachte uns das Gewitter wieder auseinander. Das ist meine ganze Wissenschaft. Von Stand und Namen weiß ich nicht Bescheid zu geben, denn welcher Reisende kümmert sich in dieser Beziehung um den andern? Wenn Ihnen aber daran liegt, so kann ich Ihnen leicht Bescheid geben, denn wir haben uns auf heute nachmittag ein Rendezvous beim Hegereuter im Plauischen Grunde gegeben.«

»Wann, wenn ich fragen darf?«

»Um vier Uhr. Wollen Sie vielleicht mit von der Partie sein, so hole ich Sie ab und führe Sie, denn ich weiß vollkommen Bescheid.«

»Sie würden mich unendlich verpflichten; doch erlauben Sie mir, Ihnen diese Mühe zu ersparen, mein Herr, und vielmehr Sie abzuholen; darf ich um Ihre Wohnung bitten?«

»Das würde ich um keinen Preis zugeben! Um aber den Streit zu schlichten, wollen wir uns um drei Uhr bei dem Italiener Longo hier gleich auf der Schloßgasse treffen. Für jetzt muß ich mich beurlauben. Auf das Vergnügen Sie wiederzusehen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, empfahl sich Bernhard mit dem Anstande eines Erzsausewinds und eilte die Gasse hinunter; aber nur um unvermerkt in eins der nächsten Häuser zu schlüpfen und von dort aus dem verdächtigen Fremden mit Adlerblicken zu folgen. Als er sich sicher glaubte, ging er ihm nach, entschlossen, die Spur desselben nicht zu verlassen. Der Beobachter trat in ein ansehnliches Haus der Schloßgasse ein; Bernhard wußte, daß dasselbe einen Portier habe, den er sogar kannte, und beschloß, diesen auszuforschen. Er folgte dem Fremden daher in das Haus und befragte den Portier, ob er ihn kenne. »Nicht von Namen,« erwiderte dieser; »aber er wohnt hier im Hause und gehört zu den Leuten des Barons St.-Luces, ich glaube, er ist der Sekretär desselben.«

Bernhard wußte genug. Wie ein Pfeil eilte er jetzt zu Rasinski. Er fand ihn mit Ludwig und den jungen Offizieren beim Frühstück. Seine Nachricht wurde mit Begierde gehört. Bei dem Namen St.-Luces zog Rasinski die Stirn in finstere Falten. »Das ist kein guter Name für Sie, lieber Freund! Der Mann ist halb Legationsrat, halb Polizeibeamter, halb Spion; sehr gewandt, aber ränkevoll und habsüchtig; unentbehrlich, aber verächtlich. Eigentlich heißt er Rumiguy, ist aber wegen seiner schurkischen Dienste vielfach empfohlen und auf diese Weise in den sogenannten Adelstand erhoben worden, der seit dem Kaisertum in Frankreich so reichlich aufsprießt. Ich kenne ihn nur zu gut. Was in der Welt aber kann er von Ihnen wollen?«

Ludwig hatte sein italienisches Abenteuer, dem er allerdings den Grund seiner Verhaftung zuschrieb, noch niemand entdeckt; jetzt erzählte er es in seiner ganzen Ausführlichkeit, verschwieg jedoch alles, was sein Herz dabei berührte. Bernhard hörte mit gefesseltem Erstaunen zu. Also auch Ludwig kannte das geheimnisvolle Wesen? Er war zu demselben in so nahe Beziehungen geraten. O, wie tief, dachte Bernhard ahnungsvoll, muß sich unter so wunderbaren Verhältnissen das süße Bild in das Herz des Freundes geprägt haben! Ihm war diese holde Gestalt wie ein Traumbild erschienen und verschwunden; jetzt aber, da er den Freund in so innigen Verbindungen der Wirklichkeit zu dem Ideal erblickte, das ihm bisher nur gleich einem Raffaelschen Bilde vor der Seele schwebte, jetzt wurde sein Herz auf das tiefste bewegt, und er fühlte, wie alte, nur leicht bedeckte Wunden wieder bluteten. In seiner gewöhnlichen Weise setzte er aber dem Ernst, den er nicht mehr frei beherrschte, die Schellenkappe auf. »Ein unvergleichliches Abenteuer! Beim Himmel!« rief er. »Sollte man sich aber jetzt noch deinetwegen kümmern? Für eine Spazierfahrt über den Simplon, in lauer italienischer Nachtluft an der Seite eines so holden Wesens, das mich als Bruder adoptierte, ließe ich mich zehnmal aufhängen. Sollte man also viel daraus machen, wenn's dir geschähe?«

»Scherz beiseite,« entgegnete Rasinski und wandte sich zu Ludwig; »ich fürchte aber, die Sache nimmt eine sehr schlimme Wendung, denn ich glaube, Sie haben, ohne es zu ahnen, eine Tat begangen, die man Ihnen schwerlich verzeiht. Auf jeden Fall müssen Sie sich jetzt noch verborgen halten, bis wir genauer unterrichtet sind. Hier sieht Sie niemand; auch Ihrem Freunde möchte ich raten, sich einstweilen nicht zu dem Rendezvous einzufinden, bis ich nähere Erkundigungen eingezogen habe. Dies will ich sogleich tun.«

»Für mich fürchte ich nichts,« erwiderte Ludwig ernst; »allein was soll ich meiner Mutter, meiner Schwester sagen?«

»Die volle Wahrheit, lieber Freund,« entgegnete Rasinski; »denn sind die Ihrigen gar nicht oder falsch unterrichtet, so können sie leicht wider Willen Ihre Verräter werden. Zwar scheint man bis jetzt nur Ihre Person, nicht Ihren Namen zu kennen, allein wie leicht kann dieser entdeckt werden! Ich selbst will es übernehmen, Ihre würdige Mutter auf das schonendste von allem in Kenntnis zu setzen, und dann den Stand Ihrer Angelegenheiten untersuchen, wozu ich die besten Mittel in Händen habe.«

Ludwig reichte dem entschlossenen, vorsichtigen Freunde dankend, aber schweigend die Hand. Bernhard stampfte unwillig mit dem Fuße, Jaromir und Boleslaw zeigten brüderliche Teilnahme. »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sprach Rasinski und stand auf. »Ich will sogleich fort. Sie tun indessen wohl, am besten, hier ins Nebengemach zu treten und sich von niemand erblicken zu lassen. Zuerst, lieber Freund, gehe ich zu Ihrer Mutter; die Umstände werden meinen frühen Besuch entschuldigen. Dann beginne ich meine Nachforschungen; Sie sollen baldigst von mir hören.« Er wollte gehen, doch blieb er an der Tür stehen, als habe er einen plötzlichen Einfall gehabt. »Ja, so geht es am besten«, sprach er. »Ich muß Sie um etwas bitten,« wandte er sich zu Ludwig, »ohne das ich nichts vermag, nämlich um zwei Zeilen von Ihrer Hand, die meine Vollmacht bei Ihrer Mutter bilden sollen.« – »Sie wird Ihnen unbedingtes Vertrauen schenken«, entgegnete Ludwig. – »Schenken Sie es mir zuerst,« sprach Rasinski; »die Zeilen, die ich verlange, sind mir für einen gewissen Fall notwendig.« – »Gern«, antwortete Ludwig.

»Nun wohl, so setzen Sie sich und schreiben: Teuere Mutter! Dringend bitte ich dich, schenke dem Überbringer dieser Zeilen unbedingtes Vertrauen und folge seinen Anordnungen.« Ludwig stutzte, aber schrieb, was Rasinski verlangte; dieser ging. Bald nach ihm auch Jaromir und Boleslaw, welche in Dienstangelegenheiten Geschäfte hatten, da sie Rasinski behilflich sein mußten, die nötigen Besorgungen für sein neuzuerrichtendes Freibataillon zu machen.

Bernhard blieb bei Ludwig zurück. Beide gingen eine Zeitlang schweigend im Zimmer auf und ab, Ludwig mit seiner Lage sorglich beschäftigt, Bernhard, weil die ganze Macht jenes, in der Tiefe seines Herzens schlummernden Gefühls in ihm erwacht war. Fast eine Stunde berührten sie nur ganz unbedeutende Zufälligkeiten in dem stets wieder abreißenden Gespräch. Endlich begann Bern- hart»: »Deine Lage ist eine sehr verwünschte; für dich nämlich, denn mir wäre sie vollkommen gleichgültig, da ich auf einem Isolierstuhl in der Welt stehe und die Leitkette, die mich mit den Menschen zusammenhält, jeden Augenblick wegwerfen kann. Du aber sitzest nicht auf einem solchen glasfüßigen Schemel, sondern hast Wurzeln in die heimatliche Erde getrieben, die sich nicht so leicht ausreißen lassen, ohne ein Stückchen Land umher zu verwüsten, wo manche liebe Blume zu blühen dachte, und zuletzt vertrocknet man selbst. Mein Nachen hat keine andere Fracht als mich selbst; ich knüpfe ihn auf jeder Reede an und gehe mit jedem frischen Winde unter Segel. Schlägt das gebrechliche Ding einmal um, so rufen im äußersten Fall ein paar mitleidige Seelen: «O weh!», aber niemand macht sich die Finger naß, um mich zu retten. Und mit dem Schrei ist das Gefühl aus der Brust heraus und verhallt fast so schnell wie er; tauche ich nicht wieder empor, so ist mein Gedächtnis so rasch verwischt als eine Grabschrift, die mir jemand mit einem Stab auf die Wellen gezeichnet hätte. Du hast aber einige Güter, nicht ganz ohne Wert, geladen und steuerst einem erwünschten Ziele entgegen; du siehst mit Freuden den günstigen Wind der Hoffnung deine Segel schwellen, du – nun zum Henker, was schwatze ich, du mußt freilich einige Scheu vor Wetterwolken, Felsenriffen, Sandbänken und dergleichen haben. Aber dennoch – ich glaube, Ludwig, die Tat, die dich und die Deinigen jetzt etwas auf ein Sept-le-va setzt, gereut dich doch nicht. Sieh mir ins Gesicht! ich glaube, solltest du heute dafür an den Galgen und würdest nur begnadigt, weil der Strick risse, du führtest sie morgen zum zweitenmal aus, und wollte man dich wie den Simson in sieben neuen Bastseilen[? Vastseilen ?] aufhängen, die schwerlich reißen. Nun rede doch, Galgenvogel!«

»Die Pflicht der Ehre –« entgegnete Ludwig.

»Hol' der Teufel die Pflicht! Wenn es ein dicker, englischer Pair gewesen wäre, den du hättest über die Grenze schmuggeln sollen, du würdest gesagt haben: belieben Ew. Herrlichkeit Ihren Hals nur allein zu wagen, ich bin nicht Ihr Whist bei dieser Partie, wir könnten slam werden und jedenfalls eher einen Strick als einen Trick dabei erschnappen. Und du hättest vielleicht recht. Aber der Bruder einer so schönen Schwester zu sein – geradeheraus, Ludwig, du zögest nicht zurück!«

»Ich glaube nicht!«

»Und wenn du den Hellespont unter dem Kreuzfeuer der Dardanellenschlösser passieren müßtest, wenn die Fahrt zwischen Szylla und Charybdis hindurch, wenn sie über den Acheron, den Phlegethon und Styx ginge, wenn zehn Vierwaldstätter Seen die Wellenrachen nach ihrem Johannisopfer aufsperrten und der Föhn vom Gotthard wie rasend herunterbrauste, du sprängest doch in den Kahn und sagtest: ich bin dein Tell, Bianka, ich steuere hinüber – du tätest es, wenngleich deine Mutter und Marie händeringend am Ufer ständen – sag'an, du tätest es?«

Ludwig erstaunte über die seltsame Wendung und das Feuer in Bernhards Worten. »Sag' mir, tätest du es?« wiederholte dieser. – »Ich glaube, ich müßte es tun«, antwortete Ludwig. – »Das glaub' ich auch, upon honour!« warf Bernhard plötzlich im Tone des trockensten Scherzes hin, obwohl er vorher die Klimax seiner Wenns im heftigsten Kreszendo hinaufgetrieben hatte. Dann drehte er sich gegen das Fenster, trommelte mit den Fingern an die Scheiben und sah nach den Dächern der gegenüberstehenden hohen Häuser hinauf. Eine einzige Träne drang ihm ins Auge. Er wischte sie unwillig weg und murmelte, wie er in Momenten heftiger Leidenschaft pflegte, halb vor sich hin, halb dachte er nur: »Er liebt sie! das weiß ich, und sie ihn, das weiß ich auch, denn mir sagt's eine Stimme in der Brust, der ich mehr traue als meinen eigenen Augen. Törichter Träumer du! Wie, und solltest du nicht einmal die Kraft haben, deine Luftschlösser einzureißen? Lumperei!«

Ludwig hatte indessen seine Brieftasche geöffnet, zog ein Blatt hervor, berührte Bernhard leise an der Schulter und gab es ihm, als er sich umdrehte, mit den Worten: »Lies das, Lieber!« Es war das Zeitungsblatt, in welchem Bianka Abschied von Ludwig nahm. Bernhard las; das Blatt machte ihm seine Ahnung zur Gewißheit. Sein festes, starkes Herz wollte in heißen, glühenden Tränen schmelzen, doch er bezwang sich mit eherner Kraft. »Schön, innig und rührend«, sprach er kurz, das Blatt zurückgebend; doch mußte er sich wieder gegen das Fenster umwenden. »Sagt' ich's nicht,« dachte und murmelte er wie zuvor; »o, diese Stimme hat nie gelogen! Wohlan denn! ich will die Keime mit allen Wurzeln aus meiner Brust reißen, und bliebe mein Herz daran hängen!« Er zog schnell sein Zeichenbuch hervor, griff nach einer Schere, die auf dem Tische lag, und schnitt das Blatt mit Biankas Bildnis heraus. »Da«, rief er und legte es vor Ludwig hin. »Du hattest bisher nur die Noten, dies ist der Text; du mußt mich aber philologisch verstehen, sonst gilt's umgekehrt, du hattest den Text, die dürren Worte, hier aber sind die Noten, d.h. die Melodie, die Himmelsmusik dazu. Denn wer versteht den gedruckten Quark dort, wenn er nicht weiß, aus welcher Brust solche Worte tönten, welchen Lippen sie entflohen, in welchem Auge die Abschiedsträne zitterte! Da, ich schenke dir das Porträt!«

»Bernhard!« rief Ludwig gerührt und betroffen, »teuerer Freund! welches Kleinod schenkst du mir –«

»Kleinod? Ich wüßte nicht. Wenn ich's recht von oben betrachte, denke ich ganz anders und muß dir sagen, daß du ein Philister bist. Glaubst du, ich gebe das Bild weg? Kein Zug wird mir davon entschwinden, denn Maler haben ein gutes Physiognomiengedächtnis, obwohl ich glauben sollte, andere könnten solche Gesichter auch behalten; man sieht sie nicht täglich. Ich kann mir's den Tag zwanzigmal zeichnen, wenn ich will. Du bekommst also nur etwa 21 Quadratzoll verarbeiteter Lumpen, oder Eselshaut, denn es ist Pergament, item ein wenig Abschwärzung von Silberstift. Ich gebe nicht mehr weg, als ob ich dir die aufgeschriebenen Noten einer Melodie schenkte, die ich in Himmelstönen singen gehört und die mir nie aus Ohr und Brust entschwinden kann – nun du hörtest sie ja selbst –; aber freilich, du verstehst das alles nicht, denn ich rede hier natürlich nur als Maler. Indessen darin bist du ein Lump, daß du das schmutzige Zeitungsblatt aufhebst, als würdest du sonst die Worte vergessen, die dort so schön mit Kienruß und Öl auf Lumpen gedruckt sind. Hast du keinen Platz, wo sie ewiger eingegraben sind als auf dem Wisch, den du nicht dreimal mehr auseinanderfalten kannst, ohne daß er zerreißt wie ein alter Guldenschein? Nicht ansehen könnte ich das Blatt ohne Wut, wenn ich bedenke, wo die ganze übrige Auflage ein Ende genommen hat, in welchen Krämerbuden oder Viktualienkellern Pfeffer, englisch Gewürz, oder gar alte Heringe dareingewickelt werden! Ich rate dir, den Wisch zu verbrennen und dir die Asche auf die Herzgrube zu reiben, Ludwig –, im Grunde aber plappere ich viel abgeschmacktes Zeug, und wir haben ernstere Dinge zu tun. Das Bildnis ist dein, versteht sich, und ich zeichne mir's wohl gelegentlich einmal ab. Was ich sagen wollte – mir deucht, der Graf bleibt lange aus?«

Ludwig hatte Bernhards unaufhaltsam fließendem, betäubendem Redestrom mit Verwunderung zugehört. Das Wesen des Freundes war ihm noch zu fremd, als daß er in die innersten Geheimnisse der Brust desselben hätte blicken können. Nur seltsam, unheimlich war ihm dabei zumute. Es war ihm daher lieb, daß Bernhard selbst dem Gespräch wieder eine andere Wendung gab. »Er ist längst über anderthalb Stunden fort«, entgegnete er auf dessen letzte Frage. »Ich weiß nicht, soll ich mir das zum Guten oder zum Schlimmen deuten?«

»Wahrlich, ich auch nicht!« rief Bernhard. »Aber die Ungeduld sitzt mir schon in Händen und Füßen. Ich bin hier gewissermaßen mit dir eingesperrt, da unsere Nachbarschaft im Pillnitzer Garten mich zum Verräter an dir macht. Vielleicht heißt es: mit gefangen, mit gehangen. Nun, du sollst einen getreuen Pylades an mir haben, wiewohl ich mir sonst wenig von diesem Charakter zusprechen darf. Aber ich höre Schritte auf der Treppe, die mir fast wie die des Grafen klingen. Wahrhaftig, er ist es!«


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