Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Sechstes Kapitel.

Die letzten Arbeiter, welche noch einige Gerätschaften in einen großen Korb zusammengepackt hatten, verließen eben den Platz; der Hofgärtner war schon hinunter. Es behielt also Ludwig, der die Schlüssel besaß, völlig freie Hand, sich in dem Turme einzurichten. Er öffnete das kleine Gemach, das, mit übereinander gebauten Tischen, Stühlen, Zeltstangen und vielem andern Gerät unordentlich angefüllt, kaum den Eintritt so vieler Personen, viel weniger irgendeine Bequemlichkeit gestattete. Die Männer griffen indessen rüstig zu, um durch ein sorgfältigeres Ineinanderschichten und Übereinanderpacken einigen Raum zu gewinnen. Dies gelang endlich so weit, daß man für die acht Anwesenden acht Stühle eben setzen konnte; die Tür mußte natürlich, um Licht und Luft zu behalten, offen bleiben; denn an ein Öffnen der Laden war, da die Fenster hoch versetzt waren, nicht zu denken. Gerade zur rechten Zeit wurde man mit seiner Einrichtung fertig. Schon fielen die großen Tropfen häufiger und der Sturm ließ nach. Ein heftiger Donnerschlag dicht über den Häuptern der Versammelten schien die Wolken plötzlich zu zerreißen und den Strömen des Himmels die Bahn zu öffnen. Prasselnder, großkörniger Hagel, mit starken Schloßen untermischt, stürzte zugleich mit dem heftigsten Platzregen herab. Das junge Laub der Bäume wurde mit einer wahrhaft verheerenden Gewalt und Schnelligkeit niedergeschlagen. Die Geborgenen mußten sich in der Tat glücklich preisen, daß sie den Weg nicht anzutreten gewagt hatten; denn ein Gewitter in dieser Stärke war allerdings mit großen Gefahren verknüpft, und es würde sie mitten auf dem Wege überrascht haben, wo nach keiner Seite mehr schnell genug ein Obdach zu erreichen gewesen wäre. Eine der tiefsten Dämmerung ähnliche Finsternis umgab die Berggipfel. Die Wetterwolken lagerten sich immer dichter und dichter darauf und Blitz folgte auf Blitz, so daß oft die ganze Atmosphäre flammend erfüllt war, während das Rollen des Donners nicht mehr aufhörte, sondern nur einzelne, betäubend krachende Schläge die Gleichförmigkeit desselben unterbrachen.

Der Anblick dieses großartigen Naturschauspiels ließ die männliche, der Gefahr vertraute Brust nicht ganz unerschüttert; wieviel mehr mußte die weibliche dadurch von einer stummen Ängstlichkeit erfüllt werden. Still und bleich saßen die drei Mädchen nebeneinander auf derjenigen Seite, wo sie vor dem einschlagenden Regen am meisten geborgen waren. Marie litt noch überdies heftige Schmerzen; zwischen Julie und Emma sitzend, hatte sie sich sanft gegen diese angelehnt, während jene teilnehmend eine Hand der Freundin hielt. Die Männer suchten durch eine anscheinende Ruhe, die Rasinski in gleichgültig hingeworfenen Nebenbemerkungen, Bernhard sogar durch Scherze auszudrücken suchte, den Mut der Frauen aufrechtzuerhalten. Indessen verriet sich das Absichtliche dabei zu leicht, um nicht eben dadurch eine fast entgegengesetzte Wirkung hervorzubringen. Denn in der Tat wurde diejenige Besorgnis, welche sich bei den Frauen durch die scheinbaren Gefahren erzeugte, bei den Männern reichlich durch eine größere Kenntnis der wirklichen aufgewogen. Keiner derselben konnte es sich verhehlen, daß das Gewitter zu den stärksten gehörte, die überhaupt vorzukommen pflegten, und daß der einsame Höhenpunkt, um den sich die elektrischen Dünste wie um einen Leiter sammelten, der gefährlichste war, den man zum Aufenthalte wählen konnte. Namentlich besorgte Ludwig, daß der Blitz in den Turm einschlagen könne, da der Wetterleiter ihm durchaus nicht hinlänglich Schutz zu gewähren schien. Ein Glück war es übrigens, daß niemand die Spitze desselben sehen konnte, sonst würde der Anblick des Feuerbüschels, der an demselben flammte, und der fortwährend an der Stange heruntergleitende elektrische Strahl die Besorgnisse noch bedeutend erhöht haben.

Etwa eine halbe Stunde währte das heftige Toben des Gewitters; dann ließ es nach, es donnerte und blitzte seltener und der Regen strömte, wiewohl immer noch reichlich genug, doch gemäßigter herab. Die Mädchen atmeten wieder leichter und genossen das freudige Gefühl einer überstandenen Gefahr, wodurch in der edlern Brust nur eine sanfte, dankbare Rührung geweckt wird. Marie sah ihren Bruder mit einem unbeschreiblich liebevollen Blick an; Ludwig verstand ihn. Er reichte ihr die Hand und sprach: »Marie, du Gute, leidest du noch Schmerz?«

»Nein,« erwiderte sie nicht aufrichtig; »doch gehen würde ich nicht können.«

Bernhard rief: »Mir wird's zu eng hier in dem schwülen Käfig, ich muß mich etwas erfrischen!« Mit diesen Worten sprang er ins Freie, wo der frische, duftige, jetzt nur noch wie Silberstaub herabfallende Regen ihm die glühenden Wangen kühlte. Ludwig trat ebenfalls hinaus. Beide gingen auf die andere Seite des Turms, wo man den Himmel etwas weiter übersehen konnte. »Das regnet noch vierundzwanzig Stunden so fort«, sprach Bernhard. »Aber höre, was ich sagen wollte, du hast eine Schwester, die weiß Gott mehr taugt als du und ich zusammengenommen. Gewiß, sie ist nicht ganz schlecht für ein Frauenzimmer, und ich glaube, sie hat dich lieber als du verdienst. Mir sind nur Tränen von jeher unausstehlich gewesen, das heißt in meinen eigenen Augenhöhlen, sonst wollte ich nicht dafür stehen, daß ich, als sie dich so freundlich anblickte –«

»Du hast eine Träne im Auge,« sprach Ludwig und sah ihn freundlich ernst an, »du brauchst dich ihrer nicht zu schämen.« – »Hol' dich der Henker!« rief Bernhard unwillig; »es ist ein Regentropfen, der mir auf die Wange gespritzt ist. Ich sage dir, Tränen in Männeraugen sind mir so widerwärtig wie ein Kernfluch oder ein Schnurrbart auf Mädchenlippen; selbst Frauen sehe ich nicht gern weinen, weil es ansteckt. In der Wirklichkeit nämlich; denn daß ich gern trauernde weibliche Köpfe male, will ich nicht leugnen und kann's gleich beweisen.« Indem zog er ein Skizzenbuch von Pergamentblättern hervor, welches er stets bei sich führte.

»In diesem Büchlein,« sprach er, »steht manches Gesicht, das des Ansehens wert ist, obwohl nicht immer ein blauer Himmel aus den blauen Augen lacht. Wahrlich, deine Schwester käme jetzt auch hinein, wenn es nicht so verflucht regnete, daß man nichts machen kann. Überhaupt wollte ich die ganze Gruppe zeichnen, sogar den Mars Rasinski, der die Tauben wie ein Adler unter seine Flügel nimmt, wiewohl ich anfange, dem Kerl das Donnerwetter auf den Kopf zu wünschen.«

»Es ist mir lieb,« antwortete Ludwig, »daß du die Zeichnungen bei dir hast, denn ich fürchte, der Regen hält noch lange an, und in der steten Erwartung scheint die Zeit sich zu verdoppeln. Wenn wir daher die Frauen über eine Stunde täuschen können, so geschieht mir wahrlich ein großer Dienst damit. Laß uns hinein, und zeige den Mädchen dein Buch.«

»Ich bin's zufrieden,« antwortete Bernhard, »obwohl es eigentlich eine Schmach ist, daß uns die Kunst nicht bei heiterer, freier Muße als göttliche Gefährtin begleiten, sondern nur als Vogelscheuche gegen ein paar umherflatternde Besorgnisse, oder geradeheraus, als der Silberschaum auf der Pille, die uns das Schicksal eingibt, dienen soll.« Sie gingen hinein.

»Wir haben das Wetter auf allen Seiten beobachtet,« sprach Ludwig; »es wird sich, denken wir, allmählich abregnen. Indessen will unser Freund Bernhard uns mit seinem Skizzenbuche unterhalten, und so haben wir am Ende von unsern Unfällen noch den besten Gewinn.« – »Und sind dies nicht immer die Wege Gottes?,« sprach Marie lächelnd. – »Freilich,« antwortete Bernhard, »und ich will sie mir besonders zunutze machen. Denn wenn ich hier mein Zeichentaschenbuch zeigen soll, so kann es unmöglich bei jedem Umwenden des Blattes aus Hand in Hand gehen, sondern ich muß als Erklärer und obhutübender Besitzer immer selbst dabei sein. Also muß ich bitten, mir jetzt einige Augenblicke zu gehorchen, indem ich Anstalten treffen will, die mir den beneidenswertesten Platz sichern sollen.«

Man war sehr gern bereit, Folge zu leisten. Bernhard setzte demnach vier Stühle in eine Reihe, so daß der rechte Flügel derselben sich gegen die Tür lehnte. Auf diesem mußte Marie Platz nehmen, er selbst setzte sich neben sie und nahm dann Emma und Julie zur Linken. Die übrigen vier Männer mußten sich hinter die Stühle stellen; Rasinski trat hinter Marie, Ludwig hinter Bernhard, die beiden jungen Offiziere hinter Julie und Emma.

»So,« begann Bernhard, »nun werde ich mit unparteiischer Gerechtigkeit bald rechts, bald links bei den Damen beginnen und stets den Erklärer machen; denn das Beste dabei muß freilich, da es oft kaum angedeutet ist, gesagt werden. Doch um eins bitte ich; fragen Sie mich bei Landschaften, bei Männern, kurz bei allem nach Paß, Stand und Namen; aber die weiblichen Köpfe bleiben inkognito, denn in das Geheimbuch meines Herzens kann ich wahrlich nicht jedermann blicken lassen.«

Man fügte sich gern diesem harten Gesetze und ging mit wahrer Frische und Lust an das Betrachten der Handzeichnungen. Die meisten waren, wie Bernhards Charakter, keck, lebendig, mit wenigen dreisten Strichen, mehr scharf angedeutet als ausgeführt, seltener zierlich, sauber. Doch mitunter hatte er auch die feine Grazie seines Griffels gezeigt. Der Inhalt des Buchs waren Landschaftsstücke, als: romantische Felspartien, Baumgruppen, bisweilen eine ganze Landschaft; daneben und dazwischen nationelle Köpfe, norwegische Fischer, ein Eiderfänger, eine Renntiermelkerei und ähnliches. Alles aber war eigentümlich und auch durch die Fremdartigkeit der Gegenstände fesselnd.

»Sie werden bemerken,« sprach Bernhard dazwischen, »daß das Buch zugleich einen geographischen Zusammenhang hat, da Sie daraus meine Reiseroute verfolgen und sehen können, wo ich mich mehr den Städten und Menschen genähert habe, wo ich in der Einsamkeit verweilte. Denn ich hatte mir's gleich anfangs zum Gesetz gemacht, nicht bald hier, bald dort aufzuschlagen und zu zeichnen, sondern ein Blatt nach dem andern zu benutzen und dabei womöglich auch Raum zu sparen, weil ich das Umherschleppen so vieler Dinge hasse und gern alles beisammen habe. Daher sind mir auch noch, obgleich ich dieses Skizzenbuch mit dem ersten Tage meiner Reise begann, einige große Blätter übriggeblieben, worauf ich diesen Turm und uns alle darin zeichnen kann, wenn das Wetter uns nur eine halbe Stunde gönnt. Aber sehen Sie hier diesen Bergschotten mit seiner Tochter; hinten die Partie gehört zum Kathrinsee. Wir werden nun mit jedem Blatte zivilisierter, denn es dauert nun nicht lange, so befinden wir uns in der besten Londoner Gesellschaft. Wahrhaftig, da ist schon eine Lady, der ich, ohne daß sie's wußte, ihr Porträt entwendete, da ich sie vor ihrem Landhause auf der Terrasse sitzen sah, während ich in einem Fliedergebüsch steckte.«

»Wie lieb und unschuldig sich das Kind an ihre Knie lehnt«, sprach Marie.

»Der Blumenstrauß, den es der Mutter bringt, ist aber wohl Ihre eigene Erfindung?« – »Keineswegs,« erwiderte Bernhard; »das vierjährige Lockenköpfchen hatte eine ganze Handvoll Federnelken, Aurikel und andere kleine Blumen abgerupft und hielt sie der Mutter dar, die es meines Erachtens dafür hätte abstrafen sollen, da schwerlich in einer Woche so viel nachwuchs, als der kleine holde Unhold in einer Minute abriß; allein sie lächelte und streichelte ihm das Köpfchen; auch dazu habe ich nicht für einen Heller erfunden. Überhaupt das ganze Buch ist nur gewissermaßen ein Taschenspiegel, in dem ich die Bilder der Wirklichkeit auffing.«

Man blätterte weiter. Es folgten einige karikierte Figuren, der englischen Post entlehnt, wie Bernhard erklärte, dann einige hübsche Landmädchen, Pachterstöchter, eine Milchverkäuferin. Endlich war man in London. Wie er zuvor gesagt, ließ er die Zeichnungen weiblicher Gestalten und Köpfe ohne Kommentar, was Ludwig sehr lieb war. Er erkannte nämlich, daß Bernhard diese Klausel gemacht hatte, um den Frauen eine Verlegenheit zu ersparen; denn unter den Londoner Erinnerungen fanden sich einige, die dem Männerblick unzweideutig als solche erscheinen mußten, über welche eine nähere Auskunft sich nicht ziemte. Daß ein Maler sie als psychologische Studien behandelt hatte, konnte man ihm nicht verargen. Zwischen den mutwilligen, lüsternen Gesichtern war wohl hier und da eine sanfte, gesittete Engländerin anzutreffen. – »O wie schön!« rief Marie, als Bernhard eben wieder ein neues Blatt umwandte; »wie außerordentlich schön!« Rasinski beugte sich, über diesen Ausdruck gespannt, näher über Mariens Schulter. Fast betroffen rief auch er: »Beim Himmel, dieser Kopf ist reizend!« – »Unbeschreiblich!« stimmte Marie ein. »Aber wer ist sie? Diese eine müssen Sie uns nennen«, setzte sie bittend hinzu.

»Wenn ich nun,« begann Bernhard, »gerade dieses Kopfes wegen meine Bedingungen gemacht hätte? Aber es ist nicht so, nur bin ich hier gezwungen, sie zu halten. Ich stahl dieses Gesicht wie Prometheus den göttlichen Funken aus dem Himmel, nämlich im Kings-Theater zu London, als ›Romeo und Julie‹ gegeben wurde, ich aber die Julie nur in einer Loge entdecken konnte, um die ich die Bühne übersah und überhörte. Da raubte ich diesen Kopf mit seinem sanft schwärmerischen Ausdruck.« – »O die rührenden Tränen!« sprach Marie.

Ludwig, der sich bis jetzt, um Rasinski nicht zu hindern, zurückgehalten hatte, beugte sich nunmehr nieder, um die Zeichnung zu sehen. Unbefangen hielt ihm Marie das Buch ganz nahe entgegen. Doch er, als rede ihn plötzlich die Stimme eines seligen, verklärten Geistes an, bebte im Tiefsten wunderbar erschüttert zusammen, da er Biankas Bildnis erkannte. Ein rascher Ausruf entfloh seinen Lippen; mehr durch Hilfe einer unbekannten unwillkürlichen Gewalt als durch eigene Fassung und Überlegung wurde er jedoch noch schnell genug seiner Herr, um dem »O Himmel!«, das ihm entflohen war, die kältern Worte: »Welch ein reizendes Wesen!« anzuhängen. Mehr aber vermochte er nicht. Sein Auge verdunkelte sich; obwohl das holde Antlitz seine Blicke mit unbeschreiblicher Macht anzog, riß er sich doch gewaltsam zurück, um seine Bewegung nicht zu verraten. Mit angstvoller Spannung harrte er darauf, ob sich ihm jetzt durch den wunderbarsten Zufall das Geheimnis, an welchem das Glück seines Lebens hing, lösen werde; denn Marie, die sich gar nicht überreden, noch darüber beruhigen konnte, daß Bernhard nicht wissen sollte, wer dieses rührend holde Wesen sei, fragte ihn noch einmal: »Und Sie vermochten wirklich gar nichts zu erfahren? Ein so reizendes Wesen kann ja doch selbst in dem unermeßlichen London niemand unbekannt sein.«

»Wirklich, ich weiß nichts«, erwiderte Bernhard. »Zwar bemühte ich mich, etwas zu erfahren, doch es ging mir unglücklich genug damit; wie, will ich Ihnen sogleich erzählen.«

»Die sanfte Hoheit dieses Antlitzes, der unbeschreiblich rührende Schmerz darin – denn ich habe, aufrichtig gesagt, nur eine Karikatur davon geliefert – machte mich, warum sollte ich's nicht gestehen, ein wenig verrückt auf meinem Platz im Parterre. Ich wollte das Gesicht haben, das schwur ich mir innerlich; aber wie sollte ich es zeichnen, ohne aufzufallen? Neben mir saß ein Kaufmann, der lange in Konstantinopel gewesen war und sich dort ein wenig den orientalischen Ausdruck angewöhnt hatte. Ich kannte ihn so halb und halb. Dieser bemerkte es, daß ich nur nach der Loge, nicht nach dem Theater sah, obwohl soeben Julie von Romeo Abschied nahm. Er sagte zu mir: ›Nicht wahr, Sir, ein Gesicht, das sich malen ließe, wenngleich aus dem blauen Himmel der Augen feuchter Tau auf die Rosen der Wangen perlt.‹ Sie weinte nämlich die schönsten Tränen, die ich jemals gesehen. ›Freilich, bei Gott!‹ antwortete ich, ›aber wo und wie?‹ – ›Dort oben ist eine Loge leer,‹ flüsterte er mir zu, ›die den besten Auffassungspunkt darbietet; wenn Sie dort hineingehen und die Tür nach dem Korridor ein wenig offen lassen, fällt von diesem her gerade so viel Licht auf ihr Blatt, als Sie brauchen, und Sie selbst bleiben im Dunkel sitzen.‹ Ich eilte, sofort diesen Rat zu befolgen. Mein Standpunkt war vollkommen günstig; ich saß im Hintergrunde der Loge ganz unbemerkt und blickte dem himmlischen Wesen gerade ins Gesicht, während sie das feuchte Auge unverwandt auf die Bühne richtete. Der teuere Raub gelang mir so vollkommen, als es überhaupt möglich war. In meine Arbeit vertieft, hatte ich jedoch nicht bemerkt, daß jemand in die Loge getreten war. Plötzlich redete mich eine unangenehme rauhe Stimme leise an: ›Sir!‹ Ich fuhr auf. ›Ein Wort, Sir‹, sagte die Stimme, die einem Manne von etwa dreißig Jahren gehörte, der mir zur Loge hinaus auf den Korridor winkte. Ich merkte, was die Sache bedeuten wollte, und folgte natürlich. Der mürrische Unbekannte tritt mit mir hinaus auf die Gasse. Hier fängt er an mich zu fragen, mit welchem Rechte ich mir erlaubte, eine Dame ohne ihren Willen zu zeichnen. Ich antwortete kurz, wir gerieten etwas heftig aneinander. Das Ende war die Verabredung zu einer Zusammenkunft auf den andern Morgen um acht Uhr im Hydepark. Der Fremde verließ mich darauf, ohne ins Theater zurückzugehen; ich nahm dagegen den Weg nach meiner Loge, um noch ein wenig zu retuschieren. Aber noch heute möchte ich rasend werden vor Grimm: als ich eintrat, war die andere Loge völlig leer und das reizende Wesen samt ihrer Gesellschaft verschwunden. Ich fragte den Türsteher; sie sind soeben weggefahren, lautete die Antwort, aber er kannte sie nicht. Ich eile hinab ins Parterre zu meinem Kaufmann. Er ist nicht mehr dort. Mein einziger Trost war jetzt die Bestellung im Hydepark, wo ich wenigstens zu erfahren hoffte, wer mein Gegner sei. Um halb acht Uhr fand ich mich pünktlich ein; aber ich glaube, wenn ich noch dort stände, so wäre bis diese Stunde niemand gekommen. Kurz, ich hatte jede Spur verloren, denn sogar der Kaufmann war an dem Tage plötzlich wieder zu Schiffe nach der Levante gegangen, ohne daß ich ihn gesprochen hatte. Vertrauten Freunden habe ich nachmals wohl das Bildnis gezeigt, aber niemand kannte es; vergeblich bin ich ein Vierteljahr lang jeden Abend in alle Theater Londons gelaufen, und zumal Versäumte ich keine Vorstellung von «Romeo und Julie»; doch niemals ist es mir gelungen, auch nur die geringste Spur meiner Unbekannten wieder zu entdecken.«


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