Cicero
Vom Redner
Cicero

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L. 192. Auf den Schluß eines Gliedersatzes muß nach meinem Dafürhalten noch größere Sorgfalt verwendet werden als auf die vorhergehenden Theile, weil nach ihm vorzüglich die Vollkommenheit und Vollendung des Gliedersatzes beurtheilt wird. Denn bei einem Verse werden auf gleiche Weise Anfang, Mitte und Ende beachtet, und er ist lahm, an welchem Theile auch ein Fehler gemacht sein mag; bei dem Redesatze hingegen sehen nur Wenige auf den Anfang, die Meisten aber auf den Schluß. Weil nun dieser stark hervortritt und bemerkt wird, so muß man bei ihm Abwechslung anwenden, damit er weder nach dem Urtheile des Verstandes noch, weil er dem Ohre Ueberdruß erregt, verworfen werde. 193. Auf die zwei oder drei letzte Wortfüße nämlich muß man gemeiniglich sehen und achten, wenn anders das Vorhergehende nicht zu kurz und zu gebrochen ist, und diese müssen entweder choreisch oder heroisch sein, oder beide müssen mit einander oder mit dem letzten Päon, den Aristoteles empfiehlt, oder mit dem ihm gleichen Creticus abwechselnDer Schluß der Periode besteht also: 1) aus Choreen, d. i. Trochaen, ; 2) aus heroischen Versfüßen, ; 3) aus einem Trochäus und dem heroischen Versfuße, ; 4) einem Trochäus und dem letzteren Päon, ; 5) aus dem heroischen Versfuße und dem letzteren Päon, ; 6) aus einem Trochäus und dem Creticus, ; 7) aus dem heroischen Fuße und dem Creticus, .. Die Abwechslung dieser Füße wird zur Folge haben, daß weder die Zuhörer wegen der Einförmigkeit Ueberdruß empfinden, noch unserer Rede die darauf verwendete Mühe angesehen wird. 194. Wenn nun jener AntipaterAntipater aus Sidon, ein Stoischer Philosoph und Dichter, lebte etwa 100 v. Chr. Einige Epigramme von ihm befinden sich in der Griechischen Anthologie. aus Sidon, dessen du dich, mein Catulus, wohl erinnerst, Hexameter und andere Verse in mannigfaltigen Tonweisen und Rhythmen aus dem Stegreife zu dichten pflegte, und die Uebung dieses geistreichen und mit einem glücklichen Gedächtnisse begabten Mannes so viel vermochte, daß, sobald er seinen Sinn und seine Gedanken auf eine Versart richtete, die Worte von selbst folgten: um wie viel leichter werden wir dieß in der Rede durch Uebung und Gewohnheit erreichen? 195. Uebrigens wundere sich Niemand, wie der große Haufe unwissender Zuhörer solche Dinge bemerkt; denn überall, aber ganz besonders gerade hierin zeigt sich die Kraft der Natur unglaublich stark. Alle beurtheilen ja nach einem innerlichen Gefühle ohne alle Kunst oder Kunstregeln, was in den Künsten und nach den Kunstregeln richtig und verkehrt ist. Und dieß thun sie bei Gemälden, bei Bildsäulen und anderen Kunstwerken, zu deren einsichtsvoller Beurtheilung sie von Natur mit weniger Mitteln ausgerüstet sind; aber ungleich mehr zeigen sie es bei der Beurtheilung der Worte, Rhythmen und Töne, weil diese Dinge tief in den allgemeinen Empfindungen gegründet liegen, und Niemand derselben nach der Bestimmung der Natur gänzlich untheilhaftig ist. 196. Daher kommt es, daß nicht bloß die künstliche Wortstellung, sondern auch die Rhythmen und Töne auf alle Menschen einen Eindruck machen. Denn wie Wenige verstehen die Kunst der Rhythmen und Tonweisen? und doch, wird auch nur der geringste Verstoß dagegen gemacht, indem Etwas entweder durch Zusammenziehung zu kurz oder durch Dehnung zu lang ausgesprochen wird, geben ganze Theater ihr Mißfallen laut zu erkennen. Wie? Geschieht es nicht gleichfalls bei den Stimmen, daß von der Volksmenge nicht bloß ganze Sängerchöre, sondern auch einzelne Sänger, wenn sie gegen die Gesangweise verstoßen, ausgezischt werden?


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