Cicero
Vom Redner
Cicero

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XIX. 77. Du irrst, Catulus, sagte Antonius; ich wenigstens bin schon auf viele Phormione gestoßen. Denn wer von diesen Griechen dürfte wol irgend Einem der Unsrigen irgend eine Einsicht zutrauen? Und was mich betrifft, so sind sie mir eben nicht lästig; ich dulde und ertrage sie ganz gern; denn entweder bringen sie Etwas vor, was mir nicht mißfällt, oder sie bewirken, daß ich es mir weniger leid sein lasse keine gelehrten Studien gemacht zu haben; auch fertige ich sie nicht so schmachvoll ab, wie Hannibal jenen Philosophen, habe aber auch dafür vielleicht um so mehr mit ihnen zu schaffen. Aber gleichwol ist ihre Gelehrsamkeit, so weit mir ein Urtheil darüber zusteht, sehr lächerlich. 78. Sie theilen nämlich das Ganze in zwei Theile, in Streitigkeitenin causae controversiam et in quaestionis, d. i. in causae controversiam et in quaestionis vontroversiam. Das Wort controversia hat hier die allgemeinere Bedeutung. Streitigkeitomnis status ambigendi« Ellendt) und findet daher sowol in der causa, d. i. bei bestimmten Rechtsfällen, als auch in der quaestio, d. i. bei unbestimmten Fragen statt. Bald darauf aber in den Worten: in disceptatione reorum et controversia hat das Wort die bestimmte Bedeutung: Streit vor Gericht. von Rechtsfällen und in Streitigkeiten allgemeiner Fragen. Rechtsfall nennen sie einen Gegenstand, der auf den Verhandlungen und dem Streite der rechtenden Parteien vor Gerichte beruht; allgemeine Frage aber einen Gegenstand, der auf der Ueberlegung über einen unbestimmten Gegenstand. Ueber den Rechtsfall erteilen sie Vorschriften; über den anderen Theil der Beredsamkeit herrscht ein seltsames Schweigen. Zweitens nehmen sie gleichfalls fünf Glieder der Beredsamkeit an, nämlich die Erfindung des Stoffes, die Anordnung des Gefundenen, die Ausschmückung durch den Ausdruck, das Auswendiglernen der Rede, zuletzt den Vortrag und die mündliche Darstellung: eine Vorschrift von einer nicht eben tiefen Weisheit. Denn wer dürfte nicht von selbst einsehen, daß Niemand reden könne, ohne zu wissen, was er sagen, und mit welchen Worten und in welcher Ordnung er es sagen soll, und ohne es auswendig gelernt zu haben? Nun will ich dieses nicht tadeln, aber ich sage, es liegt vor Augen, sowie dieß auch der Fall ist bei den vier, fünf, sechs oder auch sieben TheilenS. I. 31, 143. Daselbst werden sechs Theile erwähnt. Als siebenter Theil kann die Abschweifung angesehen werden. (die Einen nehmen nämlich diese, Andere eine andere Einteilung an), in welche sie die ganze Rede zerfallen lassen. 80. Sie geben nämlich folgende Vorschriften: Zuerst soll man den Eingang der Rede so einrichten, daß man das Wohlwollen der Zuhörer gewinnt, sie unserer Belehrung zugänglich macht und ihre Aufmerksamkeit fesselt; zweitens die Sache in einer Weise erzählen, daß die Erzählung wahrscheinlich, deutlich und kurz sei; drittens den Gegenstand der Verhandlung einteilen und vorlegen, die eigenen Behauptungen durch Beweise und Gründe bekräftigen, und dann die des Gegners widerlegen. Hierauf aber setzen Einige die Schlußrede und gleichsam das Nachwort; Andere schreiben vor, man solle vor dem Schlusse zur Ausschmückung und Hebung des Gegenstandes eine Abschweifung einschalten und dann erst die Schlußrede und das Nachwort hinzufügen. 81. Auch dieses will ich nicht tadeln. Die Eintheilung ist ja kunstgerecht, aber doch, wie es bei Menschen, die es nicht mit der Wirklichkeit zu thun haben, ganz natürlich ist, nicht der Erfahrung gemäß. Denn die Vorschriften, die sie für den Eingang und die Erzählung ertheilt haben, muß man in allen Theilen der Rede beobachten. Ich kann nämlich das Wohlwollen des Richters leichter im Laufe der Rede gewinnen, als da, wo er noch Nichts vernommen hat; für meine Belehrung ferner werde ich ihn nicht da zugänglich machen, wo ich die Beweisführung verheiße, sondern da, wo ich sie darlege und entwickele; die Aufmerksamkeit der Richter aber können wir dadurch wecken, daß wir während des ganzen Vortrages immer auf's Neue ihre Gemüther aufregen, nicht aber durch eine vorläufige Ankündigung. 83. Ferner wenn sie lehren, die Erzählung müsse wahrscheinlich, deutlich und kurz sein; so ist dieß eine richtige Bemerkung. Wenn sie aber meinen, diese Eigenschaften gehörten mehr der Erzählung, als der ganzen Rede; so scheinen sie mir sehr zu irren. Und überhaupt liegt der ganze Irrthum darin, daß sie der Ansicht sind, die Beredsamkeit beruhe, wie andere Wissenschaften, auf einem kunstmäßigen Lehrgebäude, wie Crassus am gestrigen TageS. I. 42, 190. behauptete, daß von dem bürgerlichen Rechte selbst ein solches aufgestellt werden könne, indem man nämlich zuerst die Gattungen der Dinge aufstelle, wobei es ein Fehler ist, wenn man irgend eine Gattung übergeht, dann die Arten der einzelnen Gattungen, wobei es fehlerhaft ist, wenn sich eine Art zu wenig oder zu viel findet, endlich die Begriffsbestimmungen aller Kunstausdrücke, wobei weder Etwas mangeln noch überflüssig sein darf.


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