Cicero
Vom Redner
Cicero

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IX. 35. Dem Redner kommt es zu, wenn Rath ertheilt werden soll, über die wichtigsten Angelegenheiten seine Ansicht mit Würde zu entwickeln; ihm gleichfalls ein Volk, wenn es sich schlaff zeigt, anzufeuern, wenn es zügellos ist, in Schranken zu halten; durch dieselbe Geschicklichkeit wird dem Verbrechen der Menschen Verderben und der Unschuld Sicherheit bereitet. Wer kann feuriger zur Tugend auffordern, wer von den Lastern nachdrücklicher zurückrufen? wer die Schlechten strenger tadeln? wer die Guten schöner loben? wer die Leidenschaft gewaltiger durch Anklage bändigen? wer die Trauer sanfter durch Trost mindern? 36. Die Geschichte aber, die Zeugin der Zeiten, das Licht der Wahrheit, das Leben der ErinnerungCicero nennt die Geschichte das Leben der Erinnerung (vita memoriae), insofern durch die Geschichte das Andenken an das, was in den vergangenen Zeiten geschehen ist, lebendig erhalten wird., die Lehrmeisterin des Lebens, die Verkünderin alter Zeiten, durch welche andere Stimme, als durch die des Redners wird sie der Unsterblichkeit geweiht? Denn gäbe es noch irgend eine andere Wissenschaft, welche die Kenntniß Worte zu schaffen oder auszuwählen in Anspruch nähme, oder könnte man von irgend einem Anderen außer dem Redner behaupten, er verstehe die Rede zu bilden, ihr eine abwechselnde Färbung des Ausdruckes zu verleihen und sie auszuschmücken mit hervorstechenden Worten und Gedanken; oder würde irgend wo anders, als in dieser einzigen Wissenschaft das Verfahren gelehrt Beweise oder Gedanken zu finden oder überhaupt Einteilung und Anordnung zu gewinnen: so müßten wir bekennen, daß entweder das, was unsere Wissenschaft lehrt, ihr nicht angehöre, oder daß sie es mit irgend einer anderen Wissenschaft gemein habe. 37. Und wenn unsere Wissenschaft allein im Besitze dieser kunstmäßigen Lehrart ist, so bleibt, wenn sich auch Manche in anderen Wissenschaften gut auszudrücken verstehen, dieser Vorzug darum nicht weniger unserer Wissenschaft allein als Eigenthum, und sowie der Redner über Gegenstände, welche anderen Wissenschaften angehören, sobald er sich nur mit ihnen bekannt gemacht hat, wie gestern CrassusS. I. 15, 65 ff. sagte, am Besten reden kann, so tragen auch Gelehrte anderer Wissenschaften ihre Kenntnisse geschmackvoller vor, wenn sie Etwas von unserer Wissenschaft gelernt haben. 38. Denn wenn sich über landwirtschaftliche Gegenstände ein Landmann oder auch, was vielfach geschehen ist, ein Arzt über Krankheiten oder ein Maler über Malerei mündlich oder schriftlich gut ausdrückt; so darf man deßhalb die Beredsamkeit noch nicht als ein Eigentum dieser Wissenschaften ansehen; denn in derselben bringen es Viele in allen Fächern und Wissenschaften auch ohne gelehrte Bildung zu einer gewissen Fertigkeit, weil die natürlichen Anlagen der Menschen eine große Kraft besitzen. Aber obwol sich das Eigentümliche jeder Wissenschaft dadurch beurtheilen läßt, daß man untersucht, was jede lehrt, so kann doch Nichts ausgemalter sein, als daß, weil alle anderen Wirtschaften auch ohne Beredsamkeit ihre Aufgabe lösen können, der Redner aber ohne dieselbe seinen Namen nicht behaupten kann, die Anderen, wenn sie beredt sind, Etwas von diesem besitzen, er aber, wenn er sich nicht mit eigenen Mitteln gerüstet hat, anderswoher Fülle der Rede nicht entlehnen kann.


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