Cicero
Vom Redner
Cicero

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XLVIII. 184. Die Sprache der Redner erfordert aber nicht eine so scharfe Sorgfalt und Genauigkeit wie die der Dichter, welche der Zwang des Versmaßes und der Tonverhältnisse die Worte so in den Vers einzuschließen nöthigt, daß Nichts auch nicht um den geringsten Hauch kürzer oder länger ist, als die Nothwendigkeit verlangt. Freier ist die Rede, und wie sie ungebunden heißt, so ist sie es auch in Wirklichkeit, jedoch nicht dergestalt, daß sie flüchtig umherirrt, sondern ohne Fesseln sich selbst in Schranken zu halten weiß. Denn ich stimme der Ansicht des Theophrastus bei, daß die Rede, wenn sie anders geglättet und einigermaßen kunstgerecht sein soll, sich zwar nicht auf gezwungene, wohl aber freiere Weise rhythmisch bewegen müsse. 185. Und ferner ist nach seiner Vermuthung aus den Rhythmen, aus denen unser gewöhnlicher VersDer iambische Trimeter (senarius), bestehend aus sechs Iamben. besteht, in der Folge der Anapästus, ein schlankerer Rhythmus, hervorgegangen, und aus diesem ist jener freiere und reichere DithyrambusDie freien Rhythmen des Dithyrambus, d. h. eines begeisterungsvollen Lobliedes zu Ehren des Bacchus (Dionysos). geflossen, dessen Glieder und Füße, wie derselbe sagt, in jeder reichhaltigen Rede zerstreut sind. Und wenn bei allen Tönen und Lauten das rhythmisch ist, was gewisse Taktschläge hat, und was wir nach gleichen Zwischenzeiten messen können; so wird man mit Recht diese Art der Rhythmen, wenn sie nur nicht ununterbrochen fortgeht, als einen Vorzug der Rede ansehe. Denn wenn man die ohne Tonverhältnisse unaufhörlich fortströmende Geschwätzigkeit für roh und ungeschliffen halten muß, was Anderes ist der Grund des Mißfallens, als weil die Natur selbst für das Gehör der Menschen die Tonleitung bestimmt? Dieß ist jedoch unmöglich, wenn nicht in den Tönen ein Rhythmus enthalten ist. 186. Der Rhythmus aber findet in einer ununterbrochenen Verbindung nicht statt; die Unterscheidung und der Taktschlag nach gleichen und oft auch nach wechselnden Zwischenzeiten bewirkt den Rhythmus, den wir bei fallenden Wassertropfen, weil sie sich nach Zwischenzeiten unterscheiden lassen, bemerken können, nicht aber bei einem herabstürzenden Strome. Ist nun eine Wortverbindung der ungebundenen Rede weit angemessener und wohlgefälliger, wenn sie sich in Gelenke und Glieder abtheilt, als wenn sie in ununterbrochener Folge fortläuft: so müssen diese Glieder gegen einander richtig abgemessen sein; denn wenn sie am Ende zu kurz sind, so wird die Kraft des Rundsatzesquasi verborum ambitus (περίοδος) oder auch circuitus, circuitus et quasi orbis verborum, comprehensio, continuatio, circumscriptio. geschwächt, wie die Griechen einen Gliedersatz nennen. Daher müssen die folgenden Glieder den vorhergehenden, die letzten dem ersten entweder gleich oder, was noch besser und angenehmer ist, länger sein.


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