Cicero
Vom Redner
Cicero

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II. Von der Rhetorik bei den Römern.

1. Das wissenschaftliche Studium der Beredsamkeit begann bei den Römern erst zu der Zeit, als sie mit Griechenland in nähere Berührung traten und die Griechische Literatur kennen lernten. In früherer Zeit war der Bildungsgang des jungen Römers, der sich der Beredsamkeit widmen wollte, höchst einfach. Nachdem er sich durch häuslichen oder Schulunterricht die für einen freigebornen Römer nothwendigen Kenntnisse angeeignet hatte, wurde er von seinem Vater oder seinen Verwandten zu einem durch Rechtskunde oder Beredsamkeit ausgezeichneten Manne geführt, um durch den Umgang und die Unterredungen mit ihm die Gesetze, die Einrichtungen des Staates, die Sitten und Gebräuche des Volkes und die übrigen einem tüchtigen Staatsmanne und Redner nöthigen Kenntnisse zu erlernenS. Tacit. Dialog, de oratoribus cap. XXXIV. mit d. Bemerk, von Ph. K. Heß und die daselbst angeführte Stelle von Quintilian. XII, 11. 5 und 6.. Diesen begleitete er überall, besuchte mit ihm die Gerichte und Volksversammlungen und hörte daselbst die Reden an. Dieses durchaus praktische Verfahren war von großem Nutzen für die jungen Römer. Denn dadurch, daß sie auf dem Kampfplatze der Redner selbst und mitten im Gewühle des Volkes durch fleißiges Anhören der Redner die Beredsamkeit lernten, gewöhnen sie sich frühzeitig die Scheu vor großen versammelten Volksmassen abzulegen und sich ein gewisses Selbstvertrauen anzueignen, erkannten am Leichtesten die Vorzüge und Mängel der Redner, sammelten sich eine reiche Erfahrung, und indem sie das, was sie gehört und gesehen hatten, mit ihrem erfahrenen Führer und Lehrer besprachen, wurde ihnen Alles ein wahrhaft lebendiges Eigentum.

2. Als Rom seine Waffen gegen Griechenland wandte und es seiner Herrschaft unterwarf, und vornehme Römer mit Griechischen Gelehrten und durch diese mit der Griechischen Litteratur bekannt wurden, wurde bei den Römern allmählich der Sinn und der Geschmack für Griechische gelehrte Bildung geweckt. Auch wanderten Griechische Philosophen und Rhetoren nach Rom und gründeten Schulen, die von strebsamen Jünglingen besucht wurden. Aber die alten Römer, besorgt, die Jugend möchte durch die Griechische Bildung verweichlicht und dem thatkräftigen Staats- und Kriegsleben entzogen werden, bewirkten, daß unter dem Consulate des Gajus Fannius und Marcus Valerius Messala (161 v. Chr.) durch einen Senatsbeschluß die Rhetoren und Philosophen aus der Stadt verwiesen wurden. Bald darauf (156 v. Chr.) wurden von den Athenern drei ausgezeichnete Philosophen als Gesandte nach Rom geschickt, der Neuakademiker Karneades, der Peripatetiker Kritolaus und der Stoiker Diogenes. Diese hielten über Philosophie und andere wissenschaftliche Gegenstände Vorträge, denen viele junge Männer von vornehmem Stande beiwohntenCicer. de Orat. II. 37, 155.. Aber auch diesen wurde ein längerer Aufenthalt in Rom nicht gestattet, indem der alte Marcus Porcius Cato, der strenge Hüter und Bewahrer der alten Römischen Zucht und Sitte, es durchsetzte, daß die Gesandten wieder nach Hause geschickt wurden, und ein Senatsbeschluß gefaßt wurde, daß Griechische Philosophen sich nicht mehr in Rom aufhalten sollten. Aber die einmal in den Gemüthern edeler Jünglinge angefachte Liebe zu den Griechischen Wissenschaften ließ sich durch Senatsbeschlüsse nicht vertilgen. Die Griechische Bildung faßte allmählich immer tiefere Wurzeln; Griechische Gelehrten wanderten wieder nach Rom und genossen des Schutzes hochgestellter Staatsmänner und berühmter Feldherren, und bald gehörte es zum feinen Tone der vornehmen Römer, daß junge Männer nach Athen reisten, um Griechische Philosophie und Beredsamkeit zu erlernen.

3. Aber freilich dauerte es lange Zeit, ehe wissenschaftliche Studien und Griechische Gelehrsamkeit allgemeiner unter den Römern wurden. Selbst ausgezeichnete Redner des vorciceronianischen Zeitalters, als Servius Sulpicius Galba, Marcus Aemilius Lepidus Porcina, Gajus Papirius Carbo, ja sogar Marcus Antonius, der nach Crassus der größte Redner dieser Zeit war, waren in der Rechtswissenschaft unerfahren und verschmähten alle gelehrte BildungCicer. de Orat. I. 10, 40.. Wenn wir sehen, daß so hochbegabte Männer, wie Marcus Antonius, mit einer gewissen Verachtung auf die Griechische Wissenschaft herabsehen. so liegt der Hauptgrund davon theils in dem durchaus praktischen Sinne der Römischen Staatsmänner und Redner, theils in ihrem beschäftigten Leben, das sie zu einem gründlichen Studium der Griechischen Litteratur nicht kommen ließ. Einen Theil der Schuld tragen aber ohne Zweifel auch die damaligen Griechen selbst, die Lehrer der Philosophie und der Redekunst, welche zwar große Gelehrsamkeit und viel Scharfsinn besaßen, aber größtenteils geschwätzige, spitzfindige, eitele und selbstgefällige Stubengelehrte waren, die dem thätigen Staatsleben fern standen. Solche Männer waren nicht geeignet die Römer, deren Charakter strengen Ernst und edele Würde liebte, deren Tätigkeit ganz dem Dienste des Staates und der Wohlfahrt der Mitbürger gewidmet war, deren Sinn durch den Gedanken an Roms Weltherrschaft mit Stolz erfüllt war, für sich zu gewinnen und ihnen für ihre Wissenschaften Liebe und Achtung einzuflößen. Wie sehr aber selbst noch zu Cicero's Zeit die große Menge des Römischen Volkes den Griechischen Wissenschaften abhold war, sehen wir daraus, daß Cicero sich in seinen gelehrten Schriften wegen seiner wissenschaftlichen Studien zu entschuldigen genöthigt sah und keine Gelegenheit unbenutzt vorübergehen ließ dieselben seinen Landsleuten auf das Nachdrücklichste zu empfehlen.

4. In den Schulen der Rhetoren wurden die Lehren der Redekunst vorgetragen und zur Einübung derselben Vorträge (μελέται) gehalten. Zu diesen Vorträgen wählte man theils die Behandlung der sogenannten unbestimmten Fragen (θέσεις, quaestiones infinitae) über einen Gegenstand im Allgemeinen, ohne Rücksicht auf bestimmte Personen und Zeiten, z. B. über das Gute oder Schlechte, Nützliche oder Schädliche, über die Tugenden oder Laster, über den Staat, das Kriegswesen u. dgl., ferner über Fragen, wie: Was ist über die Zurückgabe der im Kriege gemachten Gefangenen zu bestimmen und zu urtheilen? Eine solche Frage heißt Untersuchungsfrage (consultatio, θέσις); theils die Behandlung der sogenannten bestimmten Fragen (quaestiones finitae) über einen historischen Gegenstand mit Rücksicht auf bestimmte Personen und Zeiten, z. B.: Soll man beschließen, daß wir von den Karthagern unsere Gefangenen gegen Rückgabe der ihrigen annehmen? Eine solche Frage heißt streitiger Rechtsfall (υπόθεσις, causa oder controversia); sie beruht entweder auf Rechtssachen (lites) oder auf Beratschlagungen (deliberationes) oder auf Lobreden (laudationes)S. Cicer. de orat. III. 28, 109. Vgl. I. 31, 138 sqq. II. 10, 41 bis 43. 15, 65, 16, 67..

5. Eine wichtige Rolle in der Rhetorik der Alten spielten die sogenannten Gemeinplätze (τόποι, loci communes), d. h. Erörterungen wichtiger GegenständeCicer. Brut. c, 12, §. 56: rerum illustrium disputationes, quae nunc communes appellantur loci. S. Ellendt. ad. Cicer. de Or. II. 13, 54. im Allgemeinen, allgemeine Untersuchungen oder Betrachtungen, welche nicht einzelne und besondere Gegenstände, sondern die Gattungen der Dinge umfassen. Sie werden vom Redner angewendet, wenn ein besonderer und bestimmter Fall auf die Gattung zurückgeführt wird, und dienen dazu, dem Vortrage Glanz und Erhabenheit zu verleihen. Daher werden sie mit größerer Würde und größerem Schmucke sowol hinsichtlich der Worte als der Gedanken behandelt als die übrigen Beweisführungen. Sie sind eine wichtige Quelle, aus der Beweise geschöpft werden, und man nannte sie daher Fundstätten der Beweise (sedes, thesauri argumentorum)Ueber die loci communes vgl. außer den angeführten Stellen noch Cicer. de Orat. II. 30, 130 u. 131. 34, 146. III. 27, 106 u. 107. de Invent. II. 15, 48–50. 16, 50 u. 51. Partitt. Or. 2, 5. 31, 109. Quintil. V. 10, 20. Ernesti Lexic. technologiae Lat. rhetoricae p. 247–249, der jedoch mit Unrecht die loci communes und die loci argumentorum (Fundstätten der Beweise) als verschiedene Dinge trennt..

6. Die Lehrer der Beredsamkeit zu Rom, die eine höhere und wissenschaftliche Bildung hatten, waren anfänglich nur Griechen. Doch später, zur Zeit des Lucius Licinius Crassus, traten auch Lateinische Lehrmeister der Beredsamkeit auf, denen jedoch der eben genannte Crassus als Censor (93 v. Chr., 662 n. Roms Erb.) durch eine Verordnung das Handwerk legte, weil ihr Unterricht so schlecht war, daß der Verstand der jungen Männer eher abgestumpft als geschärft wurde, und ihre Schule eine Schule der Unverschämtheit warCicer. de Or. III. 24, 93 u. 94.. Doch muß diese Verordnung bald wieder aufgehoben worden oder ungültig geworden sein. Denn in den letzten Jahren des Crassus trat Lucius Plotius als Lateinischer Rhetor auf; aber er sowie die anderen Lateinischen Lehrmeister der Beredsamkeit, die nach ihm auftraten, Marcus Antonius Otacilius, Sextus Clodius und Andere, waren lauter Freigelassene, die einer feineren und höheren Bildung entbehrtenS. Ellendt. a. a. O. §. 9.. Erst unter Augustus trat ein Römischer Ritter als Lehrer der Beredsamkeit auf.

7. Aber auch nachdem rhetorische Schulen zu Rom eingerichtet waren, erhielt sich doch bei den meisten jungen Römern die frühere Art des Unterrichtes, indem sie sich an einen erfahrenen Staatsmann oder Redner anschlossen und sich im Umgange mit diesem auszubilden suchten oder diesen Unterricht mit dem bei den Rhetoren verbanden, wie wir dieß bei Cicero sehen, der die Theorie der Redekunst bei Griechischen Rhetoren erlernte und durch den Umgang mit dem großen Rechtsgelehrten Quintus Mucius Scävola in der Rechtswissenschaft praktisch ausgebildet wurde.

8. Cicero war der erste Römer, der die Kunst der Beredsamkeit in ihrem ganzen Umfange wissenschaftlich umfaßte und seine über das Wesen dieser Kunst theils durch das Studium der Griechischen Quellen, theils durch eigene Erfahrung und eigenes Nachdenken gewonnenen Ansichten in einer Reihe durch Gediegenheit des Inhaltes ebenso wie durch Schönheit der Darstellung ausgezeichneter Werke niedergelegt hat. Seine rhetorischen Schriften haben einen um so größeren Werth und sind um so anziehender, als wir in ihnen nicht einen trocknen und spitzfindigen Stubengelehrten, einen auf die Schule beschränkten, dem öffentlichen Staatsleben fern stehenden Lehrmeister, sondern den nächst Demosthenes größten Redner des Altertums, der das ganze Gebiet der Wissenschaften umfaßte, durch einen edlen Charakter, durch sittliche Reinheit und brennende Vaterlandsliebe ausgezeichnet war und zugleich als Staatsmann eine höchst wichtige Rolle gespielt hatte, nicht nach bloßer Abstraktion, sondern aus seiner eigenen reichen Erfahrung und vielseitigen Uebung die Vorschriften über die Beredsamkeit in der geschmackvollsten und anmuthigsten Sprache vortragen sehen.


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