Cicero
Vom Redner
Cicero

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LXXXVII. 355. Wie gewinnreich aber, wie nützlich und wie wichtig das Gedächtniß für den Redner sei, wozu soll ich das erwähnen? daß wir nämlich mittelst demselben das behalten, was wir bei Annahme der Sache vernommen, was wir selbst ausgedacht haben, daß alle Gedanken in unserer Seele fest haften, daß der ganze Vorrath von Worten gehörig angeordnet ist, daß wir sowol den, von welchem wir uns belehren lassen, als auch den, welchem wir antworten müssen, so anhören, daß sie die Reden nicht in unsere Ohren hineinzugießen, sondern in die Seele einzugraben scheinen. Nur diejenigen also, welche ein starkes Gedächtniß haben, wissen, was, wie viel und wie sie reden müssen, wasMit Unrecht liest Ellendt cui responderint für quid responderint. Vgl. Eggers Quaestt. Tull. 1842. p. 21. sie beantwortet haben und was noch übrig ist; ebenso haben sie auch aus anderen Verhandlungen Vieles im Gedächtnisse, was sie irgend einmal vorgetragen haben, Vieles, was sie von Anderen gehört haben. 356. Ich muß nun allerdings gestehen, daß diese Gabe, sowie alle die Eigenschaften, von denen ich zuvor sprach, hauptsächlich von der Natur ausgehen; – beruht doch das Wesen unserer ganzen Kunst der Beredsamkeit (wenn man sie nicht vielleicht lieber ein Abbild oder Nachbild der Kunst nennen will) darauf, daß sie zwar nicht ein Ganzes, von dem in unserem Geiste gar keine Spur vorhanden ist, erzeuge und hervorbringe, wohl aber die uns angeborenen und in uns bereits erzeugten Naturanlagen aufziehe und kräftige. – 357. Indeß besitzt nicht leicht Jemand ein so starkes Gedächtniß, daß er ohne vorhergegangene Anordnung und Bezeichnung der Sachen die Reihenfolge der Worte und Gedanken auffassen könnte, sowie auch nicht ein so schwaches Gedächtniß, daß ihm nicht durch eine solche Gewohnheit und Uebung einige Erleichterung gewährt werden sollte. Denn einsichtsvoll erkannte Simonides oder wer sonst der Erfinder dieser Kunst war, daß das am Leichtesten in unserer Seele hafte, was ihr durch die Sinne zugeführt und eingeprägt ist, und daß unter allen Sinnen der des Gesichts der schärfste ist; daher ließen sich die durch das Gehör oder durch die Denkkraft aufgefaßten Vorstellungen am Leichtesten in der Seele festhalten, wenn sie zugleich auch durch Vermittlung des Gesichtes der Seele zugeführt würden; auf die Weise könnten wir unsichtbare und der Beurtheilung durch die Augen entrückte Gegenstände durch die sinnliche Vorstellung in Bildern und Gestalten so bezeichnen, daß wir Dinge, von denen wir uns keine Vorstellung zu machen im Stande sein würden, gleichsam durch Anschauung festhalten. 358. Durch solche sinnliche Bilder, sowie durch Alles, was Gegenstand der Anschauung ist, wird unser Gedächtniß erweckt und angeregt. Aber man hat Plätze nöthig; denn ein Körper läßt sich nicht denken, ohne daß er einen Platz einnimmt. Wir müssen also, um nicht in einer allgemein bekannten Sache zu weitläufig und lästig zu werden, viele Plätze gebrauchen, und zwar solche, welche in die Augen fallen, leicht übersehlich und durch mäßige Zwischenräume getrennt sind; die Bilder aber müssen lebhaft, eindringlich und hervorstechend sein, so daß sie der Seele leicht entgegentreten und sich schnell anregen können. Die Geschicklichkeit gewinnen wir theils durch Uebung, aus der Gewohnheit entsteht, theils durch Bildung ähnlicher Wörter entweder mittelst Umwandlung und Abänderung ihrer EndungenZ. B. mensa, mensīs, Tisch, Tischen, und mensĭs, Monat. oder durch Uebertragung ihrer Bedeutung vom Theile auf das GanzeAnwendung der sogenannten Synekdoche, nach welcher man den Theil für das Ganze, die Art für die Gattung und umgekehrt gebraucht, z. B. das Schwert für die ganze Rüstung., theils durch die Vorstellung eines ganzen Gedankens unter dem Bilde eines einzigen WortesZ. B. wenn man in einer Rede zuerst von der Schifffahrt, dann vom Landbaue, zuletzt vom Kriegsdienste reden müßte, so wäre es zweckmäßig sich einen Anker, einen Pflug und ein Schwert zu denken. Diese Bilder der einzelnen Wörter müssen nach der Anordnung der einzelnen Theile der Rede richtig vertheilt werden, wie auf einem Gemälde die Gestalten so vertheilt werden müssen, daß sie in einem richtigen Verhältnisse zu einander stehen. nach der Verfahrungsart eines großen Malers, der durch Vertheilung der Gestalten die einzelnen Stellen seines Gemäldes gegen einander abstechen läßt.


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