Cicero
Vom Redner
Cicero

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LI. 219. Aber durch die hochfahrenden Worte, die du, Crassus, ganz in der Weise der Philosophen gebraucht hast, lasse ich mich nicht in Verlegenheit bringen. Du behauptetest nämlich, die Gemüther der Zuhörer könne Niemand durch die Rede entflammen oder die entflammten dämpfen, worin sich gerade des Redners Stärke und Größe zeige, der nicht das Wesen aller Dinge, die Sitten und Grundsätze der Menschen gründlich durchschaut habe, und zu diesem Zwecke müsse der Redner die Philosophie nothwendig erlernen, eine Wissenschaft, in der, wie wir wissen, auch die größten Geister, frei von allen Amtsgeschäften, ihre ganze Lebenszeit zugebracht haben. Den Reichthum und den Umfang ihrer Kenntniß und Wissenschaft verachte ich keineswegs, ja ich bewundere sie gar sehr; doch uns, die wir in der Mitte unseres Volkes und auf dem Forum leben, genügt es von den Sitten der Menschen das zu wissen und zu sagen, was den Sitten der Menschen nicht zuwiderläuft. 220. Denn hat sich wol je ein großer und gewichtiger Redner, wenn er den Richter wider seinen Gegner zum Zorne reizen wollte, deßwegen verlegen gefühlt, weil er nicht gewußt hätte, was Zorn sei, ob eine Aufwallung des Gemüthes oder ein Verlangen seinen Schmerz zu rächen? Wer hat, wenn er die anderen Leidenschaften in den Gemüthern der Richter oder des Volkes durch die Rede aufrühren und in Bewegung setzen wollte, solche Dinge vorgetragen, wie sie von den Philosophen vorgetragen zu werden pflegen? EinigeDie Stoiker. von ihnen behaupten ja, man dürfe überhaupt den Leidenschaften keinen Raum geben, und diejenigen, welche dieselben in den Gemüthern der Richter erregten, begingen einen verruchten Frevel; andereDie Peripatetiker und Akademiker., die duldsamer sein und der Wirklichkeit des Lebens näher treten wollen, lehren, die Gemüthsbewegungen dürften nur sehr gemäßigt und ganz gelinde sein. 221. Der Redner hingegen stellt alles das, was man im gewöhnlichen Leben für böse, beschwerlich und verwerflich hält, in seiner Schilderung weit arger und greller dar, sowie er hinwiederum das, was der großen Menge begehrens- und wünschenswerth erscheint, durch seinen Vortrag verherrlicht und ausschmückt. Auch will er sich unter Thoren nicht so den Schein von Weisheit geben, daß entweder seine Zuhörer ihn für einen Gecken und pedantischen Griechen halten, oder, wenn sie auch wirklich seine Geisteskräfte anerkennen sollten, des Redners Weisheit zwar bewundern, über ihre eigene Thorheit aber Mißbehagen empfinden. 222. Wenn der Redner in die Seelen der Menschen eindringt, wenn er ihre Empfindungen und Gedanken bearbeitet, so vermißt er nicht die Begriffsbestimmungen der Philosophen und untersucht nicht in seinem Vortrage, ob das höchste Gut in der SeeleSokrates, die Peripatetiker, Akademiker, Stoiker setzten das höchste Gut in die Seele, d. h. in die Tugend, sowie hingegen die Cyrenaiker und Epikureer in den Körper, d. h. in das Vergnügen. oder im Körper liege, ob es nach der Tugend oder nach dem Vergnügen bestimmt werde, oder ob sich Beides mit einander verbinden und vereinigen lasseDie Peripatetiker und Akademiker im Gegensatze zu den Stoikern. Die Stoiker nämlich erklärten die Tugend für das einzige Gut und das Laster für das einzige Uebel; die Peripatetiker und Akademiker aber erklärten die Tugend zwar für das höchste Gut und das Laster für das höchste Uebel, nahmen aber auch die äußeren Güter als Güter, und die äußeren Uebel als Uebel an., oder aber ob man, wie Einige meinen, nichts Bestimmtes hiervon wissen könne, Nichts sich deutlich erkennen und begreifen lasseDas war die Ansicht der neueren Akademie, deren Stifter Arcesilas war.. Die Wissenschaft dieser Dinge, ich bekenne es, ist groß und vielseitig, und es gibt viele ausführliche und mannigfaltige Lehrarten hierüber; aber unsere Absicht, lieber Crassus, ist auf etwas Anderes, ganz Anderes gerichtet.


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