Cicero
Vom Redner
Cicero

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III. Von dem Wesen der Beredsamkeit.

1. Beredsamkeit ist in weiterem Sinne jede kunstmäßige Darstellung der Rede, in engerem die kunstmäßige Darstellung öffentlicher Vorträge. Die Rhetorik der Alten beschränkte sich auf die politische Beredsamkeit.

2. Die politische Beredsamkeit wird von den Alten in drei Gattungen getheilt: die gerichtliche, die berathschlagende und die lobendeCicer. de orat. II, 10, 43. de Invent. I. 5, 7. Topic. 24, 91. Cornific. Rhet. ad Herenn. I. 2, 2. Aristotel. Rhetor. I. 3, 1..

3. Die gerichtliche Gattung (genus judiciale, γένος δικανικόν) umfaßt die Reden vor Gericht, die entweder Privatstreitigkeiten (judicia privata, δίκαι) oder öffentliche Anklagen (judicia publica, γραφαί) betreffen. In beiden findet Anklage und Vertheidigung statt, und in beiden handelt es sich um Recht und Billigkeit (ejus generis finis est aequitas)Cicer. orat. partitt. 28, 98, Topic. 24, 91..

4. Die berathschlagende Gattung (genus deliberativum oder suasorium, γένος συμβουλευτικόν oder δημηγορικόν) umfaßt die Reden, die bei Beratschlagungen des Senates oder des Volkes über wichtige Angelegenheiten des Staates, als Verfassung, Gesetze, Beschlüsse, gehalten werden. Solche Reden bestehen entweder in Anrathung und Anempfehlung (suasio) oder in Abrathung und Verwerfung (dissuasio). In diesen Reden handelt es sich um den Nutzen und die Ehrbarkeit (utilitas und honestas)Cicer. orat. partitt, 24 sqq..

5. Die lobende Gattung (genus demonstrativum, laudationes, γενος επιδεικτικόν) umfaßt Lobreden, die auf berühmte Männer und ausgezeichnete Frauen gehalten werden, namentlich Leichenreden. In solchen Reden handelt es sich um Ehrbarkeit (honestas)Cicer. orat. partitt. 21.. Bei den Lobreden war Alles auf Ausschmückung und Hervorhebung, sowie auf Ergötzung berechnet. Die Vorzüge und Tugenden der Menschen wurden in glänzender und prunkvoller Sprache gepriesen, wobei man es mit der Wahrheit nicht sehr genau zu nehmen pflegte. Diese dritte Gattung war mehr ein Eigentum der Griechen als der Römer, deren ernster Charakter an dieser prunkenden und übertreibenden Beredsamkeit wenig Gefallen fanden. AntoniusCicer. de orat. II. 84, 341. möchte sie daher ganz von seinen Vorschriften über die Beredsamkeit ausschließen.

6. Uebrigens waren diese drei Gattungen der Rede keineswegs so von einander geschieden, daß die eine immer die beiden anderen ausgeschlossen hätte, sondern oft trat der Fall ein, daß eine Rede von der einen Gattung in die andere hinüberstreifte. So sehen wir zum Beispiel, daß die schöne Rede Cicero's für den Manilischen Gesetzvorschlag, die der beratschlagenden Gattung angehört, theilweise auch eine Lobrede auf Pompejus ist.

7. Das wahre und eigentliche Wesen der Beredsamkeit beruht auf Wahrheit und Sittlichkeit. Der Redner soll seine Zuhörer nicht bloß zu überreden suchen, indem er ihre Gemüther durch allerlei Kunstgriffe und Trugschlüsse, durch Prunk und Glanz der Gedanken und Worte berückt und blendet; sondern seine Aufgabe ist durch eine gründliche Beweisführung seine Zuhörer von der Wahrheit der Sache zu überzeugen. Ein großer Redner muß daher zugleich auch ein sittlich guter Mann seinCicer. de Orat. III. 14, 55 extr. Vgl. Cicer. de Invent. I. cap. 1 bis 5..

8. Zu der sittlichen Grundlage, die als die erste und nothwendigste Eigenschaft des Redners anzusehen ist, müssen noch folgende Eigenschaften hinzutreten:

  1. Gute natürliche Anlagen des Geistes wie des Körpers, als: schnelle Beweglichkeit des Geistes, Scharfsinn, ein gutes Gedächtniß, eine wohlgelöste Zunge, eine klangvolle Stimme, eine starke Brust, überhaupt eine kräftige Gesundheit, eine gute Gesichts- und KörperbildungCicer. de orat. I, cap. 25–28.. Von großem Nutzen für den Redner ist auch Laune und WitzCicer. de orat. II, cap. 54–71..
  2. Eifer, Fleiß und begeisterte Liebe zum Berufe nebst der Kenntniß der Vorschriften der RhetorikCicer. de orat. I, cap. 30–32..
  3. Angestrengte Uebung, theils mündliche im Reden sowol aus dem Stegreife als auch nach vorausgegangener Ueberlegung, theils und zwar ganz besonders im Schreiben; ferner Uebung der Stimme und des Gedächtnisses; endlich Führung von RechtshändelnCicer. de orat. I, cap. 32 u. 33..
  4. Lesung der Dichter, Studium der Geschichte und aller edelen Wissenschaften, namentlich der Dialektik, des bürgerlichen Rechtes, der Gesetze, des Altertums, der ganzen Staatskunst, endlich eine Sammlung sinnreicher WitzworteCicer. de orat. I, cap. 34..

9. Bei der Abfassung einer Rede hat der Redner nach der Lehre der Alten folgende Grundsätze zu beobachten: er soll ausfindig machen, was zu sagen ist, er soll den Stoff richtig anordnen, er soll seine Gedanken und Sachen gut darstellen, er soll seine Rede dem Gedächtnisse anvertrauen, er soll endlich die Rede gut vortragen. Die Rhetorik behandelt daher fünf Punkte:

  1. Die Erfindung (εύρεσις, inventio), die Auffindung der in der Rede vorzutragenden Sachen, Gedanken, Beweisgründe, kurz des ganzen zu behandelnden Stoffes. Hierbei hat der Redner zu beachten, daß seine Verpflichtung eine dreifache sei; er soll seine Zuhörer belehren, ihre Zuneigung gewinnen und ihre Gemüther rühren. Dieser Gegenstand wird von Crassus in dem zweiten Buche von Kap. 27 bis 53 ausführlich behandeltVgl. Ernesti Lexic. technol. Lat. p. 224–227.; die Lehre aber vom Witze, die auch hierher gehört, wird von Cäsar sehr gründlich erörtert vom Kap. 54 bis 71.
  2. Die Anordnung (ταξις, διάταξις, ordo, collocatio), die passende Stellung der Thatsachen und Beweisgründe. Sie ist eine doppelte, nämlich die eine, welche die Beschaffenheit der zu behandelnden Sachen mit sich bringt, die andere, welche durch das Urtheil und Einsicht des Redners gewonnen wird. Die Anordnung gibt auch die richtige Folge der Theile einer Rede an, nämlich: α) der Eingang der Rede (προσίμιον, exordium); β) die Entwickelung und Auseinandersetzung des Gegenstandes (διήγησις, narratio); γ) die Beweisführung (κατασκευή, confirmatio) zu Begründung der Verhandlung; hiermit pflegt die Widerlegung (λυ̃σις, refutatio) der Gegengründe verbunden zu sein; δ) der Schluß (επίλογος, peroratio). Ueber die Anordnung spricht Antonius in dem zweiten Buche von Kap. 76 bis 81 ausführlichVgl. Ernesti im angeführten Buche p. 276. und unter exordium, narratio, confirmatio, refutatio, peroratio..
  3. Der Ausdruck oder die Darstellung (ερμηνεία, elocutio) der Sachen und Gedanken. Es wird hier von der Reinheit, Richtigkeit und dem Schmucke der Rede, von den rhetorischen Figuren gesprochen; alsdann werden die drei Hauptarten des Stiles (genera dicendi, λέξεις) abgehandelt, nämlich: α) der erhabene Stil (genus dicendi sublime, το υψηλόν, δεινόν); β) der niedrige Stil (genus dicendi tenue oder subtile oder submissum, το αφελίς, το ισχνόν, λιτόν); γ) der mittlere Stil (genus dicendi mediocre oder temperatum, το μέτριον). Die Lehre von dem Ausdrucke wird von Crassus in dem dritten Buche Kap. 10 bis 55 sehr weitläufig vorgetragenUeber die einzelnen Stilarten vgl. Ernesti im angeführten Buche unter sublimis, tenuis, subtilis, submissus, mediocris..
  4. Das Gedächtniß (μνήμη, memoria); hier wird die Lehre von der Mnemonik oder Mnemoneutik (Gedächtnißkunst) vorgetragen. Ueber das Gedächtniß spricht Antonius in dem zweiten Buche von Kap. 86 bis 88.
  5. Der äußere Vortrag (υπόκρισις, actio). Hier wird von den Mienen, der Stimme, den Gebärden und dem Anstande gehandelt. Diesen Gegenstand hat Crassus im dritten Buche von Kap. 56–61 behandelt.

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