Cicero
Vom Redner
Cicero

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LXXIV. 298. Ich will, lieber Cäsar, sagte er, meine Ansicht hierüber aussprechen; nur mußt du und ihr alle nicht vergessen, daß ich nicht von der Erhabenheit eines vollendeten Redners spreche, sondern von der Mittelmäßigkeit meiner eigenen Uebung und Gewohnheit. Crassus Antwort zeugt von einem hervorragenden und unvergleichlichen Geiste; denn ihm dünkt es ganz unnatürlich, daß sich ein Redner finden lassen könne, der durch seine Rede dem, dessen Vertheidigung er übernommen hat, Nachtheil und Schaden zufüge. 299. Er macht nämlich von sich einen Schluß auf Andere. Denn er besitzt eine so aufnehmende Geisteskraft, daß er meint, Niemand könne anders als vorsätzlich Etwas sagen, was ihm selbst nachtheilig sei. Doch ich redete nicht von Deinem ausgezeichneten und außerordentlichen Verstande, sondern von einem fast gewöhnlichen und alltäglichen. So erzählt man von dem Griechen Themistokles aus Athen, der bekanntlich eine unglaublich große Klugheit und Geisteskraft besaß, es sei einst ein gelehrter und hochgebildeter MannSimonides. zu ihm gekommen und habe sich erboten ihm die Gedächtnißkunst, eine damals eben erst gemachte Erfindung, zu lehren. Als Themistokles ihn nun fragte, was jene Kunst leisten könne, sagte dieser Lehrmeister, daß man Alles im Gedächtnisse behalten könne; hierauf erwiderte Themistokles, er würde ihm einen größeren Gefallen thun, wenn er ihm die Kunst lehrte Alles, was er wolle, zu vergessen als im Gedächtnisse zu bewahren. 300. Siehst du, welche Kraft eines durchdringenden Verstandes, welch mächtiger und großer Geist in diesem Manne wohnte? Aus seiner Antwort können wir ersehen, daß nie Etwas aus seiner Seele, was einmal hineingeflossen war, wieder herausfließen konnte, da es ihm ja erwünschter war vergessen zu können, was er nicht im Gedächtnisse behalten wollte, als zu behalten, was er einmal gehört oder gesehen hatte. Aber so wenig man wegen dieser Antwort des Themistokles der Uebung des Gedächtnisses seine Mühe entziehen darf, ebenso wenig darf die von mir angerathene Vorsicht und ängstliche Behutsamkeit bei den gerichtlichen Verhandlungen wegen der ausgezeichneten Klugheit des Crassus vernachlässigt werden. Denn beide geben mir Nichts von ihrer Fähigkeit ab, sondern lassen mich bloß die ihrige erkennen. 301. Denn man muß bei den Rechtssachen in jedem Theile der Rede sehr Vieles erwägen, damit man nicht irgendwo anstoße, irgendwo anrenne. Oft schadet ein Zeuge wenig oder gar nicht, wenn er nicht gereizt wird. Der Beklagte bittet, seine ihn unterstützenden Freunde drängen, daß ich dem Gegner zu Leibe gehe, daß ich ihn schmähe, daß ich ihm Fragen vorlege; ich rühre mich nicht, ich willfahre nicht, ich gehe auf keinen Wunsch ein. Allerdings wird mir auf diese Weise auch nicht das geringste Lob zu Theil; denn die unverständigen Menschen können leichter das tadeln, was man thöricht gesagt hat, als loben, was man weislich verschwiegen hat. 302. Wie viel Unheil wird aber hier angerichtet, wenn man einen erzürnten, einen nicht unverständigen, einen nicht leichtsinnigen Zeugen verletzt! Denn die Erbitterung gibt ihm den Willen zu schaden, seine Geisteskraft das Vermögen dazu, sein Lebenswandel den Nachdruck. Und wenn ein Crassus hierin kein Versehen macht, so thuen es darum doch Viele, und zwar oft. Aber Nichts halte ich für schimpflicher, als wenn ein Redner durch eine Aeußerung oder eine Antwort oder eine Frage den Leuten Anlaß gibt zu sagen: »Der hat ihn zu Grunde gerichtet.« – »Seinen Gegner?« – »O nein, heißt es dann, sondern sich und den, welchen er vertheidigte.«


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